
Das Leben hat es mit Samira nicht gut gemeint. Seit ihrer Sportverletzung vor vier Jahren war ihre Karriere als Gewichtheberin am Ende, mühte sie sich seither als Auszubildende in einer Autowerkstatt ab, schuftete teils zwölf Stunden und mehr pro Tag, räumte hinter ihren Kollegen und ihrem cholerischen Chef hinterher – alles nur, damit sie die Schulden, die sie aufgrund ihrer Krankenhausaufenthalte angehäuft hatte, IRGENDWIE zurückzahlen zu können. Immerhin würde sie, wenn sie so weiter schuftete, nur noch gute dreißig oder vierzig Jahre ackern müssen. Dabei hasste sie ihren Job. Sie hasste die Nähe zu den Menschen, fürchtete sich sogar ein wenig vor ihnen.
Der Sommer war eine Jahreszeit, die sie genoss. Endlich war es hier, in dieser Gegend, so warm, wie sie es von ihrer ursprünglichen Heimat gewohnt war. Die Menschen indes litten unter der „Hitze“, verabschiedeten sich schneller in den Feierabend, schlossen Geschäfte früher, tranken mehr Alkohol und bevorzugten die Strände und anderen Ecken, in denen Partys auf der Tagesordnung standen. Die Wälder dagegen waren abends so leer, wie ihr Magen. Also nutzte sie die Chance der langen Tage, um nach Feierabend aus ihrer Arbeitskluft zu steigen, ihre spärliche, schon lange abgetragene Kleidung überzustreifen und in eben jene grünen Oasen aufzubrechen.
Mit ihrem Fuß waren die meist nur spärlich angelegten, meist aus losem Schotter aufgeschütteten Wege zwar eine Qual, ihre Turnschuhe alles andere als für eine Wanderung auf losem Untergrund geeignet, doch wenn sie regelmäßig einige Minuten rastete, kam sie zwar langsam, aber problemlos voran, ehe sie eine ruhige Ecke, fernab von aller Zivilisation fand, auf einem Stein Platz nahm, ihre sonst stets in ihren Ohren steckenden Ohrhörer rauszog und einfach nur der Ruhe des Waldes und der Natur lauschte, ihren Blick in die Ferne schweifen ließ.
Aus Minuten, die sie nur da saß und ins Grüne blickte, wurde schnell mehr als eine Stunde. Hier war ein Hort des Friedens, einer, in dem sie endlich ihre Angst von sich fallen lassen konnte. Und auch wenn ihr klar war, dass sie sehr bald aufbrechen musste, damit sie noch bei ausreichend Licht den Heimweg antreten konnte – dank dem Unfall von vor knapp zwei Jahren waren ihre Augen derart geschädigt, dass sie nachtblind geworden war – blieb sie dennoch weiterhin minutenlang an dieser Stelle hocken und entspannte sich in der Ruhe der Natur – einer Oase, die die Menschen noch nicht mit ihrer für sie typischen Art zerstört und ihrem Willen unterworfen hatten.