Eiskalter Wind blies durch den dichten, grünen Bewuchs, der den Eingang zur Höhle fast perfekt verschloss. Nur fast, da die Hängepflanzen lediglich von oben herab wucherten, den Boden höchstens leicht berührten, dort aber nicht befestigt waren, der Wind die so bei hinreichender Stärke zur Seite streichen konnte. Schließlich war es ein Eingang, der von demjenigen, der die Höhle vor fast zwanzig Jahren in Beschlag genommen hatte, täglich genutzt wurde.
Seine Mitbewohnerin, die nun im achtzehnten Jahr ebenfalls diese Höhle behauste, fröstelte die kalte Brise jedoch zusehends, erwachte und sah sich um. Nur ein schwacher, fahler Lichtschein verirrte sich durch die umher schwingenden Hängepflanzen ins Innere. Mondlicht, begleitet von einigen Schneeflocken, die sich ins Innere verirrten, auf ihrem Weg zum Boden aber wegen der höheren Temperatur im Inneren der Höhle bereits zu Tropfen schmolzen und so herabsanken, auf den mit Moos bewachsenen Boden klatschten, ohne jedoch ein Geräusch dabei zu machen.
In all den Jahren, die sie nun schon hier, ihrer neuen Wahlheimat, verbracht hatte, hasste sie den Winter noch immer. Ihr ganzer Körper bibberte leicht ob der kalten Temperaturen, die sie im Winter fast nie die relative Wärme der Höhle verlassen ließ, ließ sie jedes Mal ein wenig wehmütig an ihre Heimat zurückdenken, aus der sie einstmals hierher ausgewandert war. Damals war es für sie eine Idee, eine Flucht vor den Konsequenzen ihrer Sturheit, diktiert von ihrem Schamgefühl und Stolz. Erst in den letzten fünf Jahren hatte sie schließlich mit der Idee abgeschlossen, wirklich hier zu bleiben – bei jenem Artgenossen, der ihr vor besagten achtzehn Jahren einfach so das Leben gerettet hatte und mit dem sie nun diese Höhle hier teilte.
Noch etwas in Gedanken versunken rappelte sie sich von ihrem Nachtlager auf, blickte in seine Richtung, wie er, ihr zugewandt, auf der anderen Seite der kleinen, heißen Quelle inmitten der Höhle lag, den Eingang stets mit einem Auge beschützend, um sie vor etwaigem Übel zu bewahren. Ihm machte der kalte Luftzug nichts aus – er war rundlicher als sie, hatte dichteres Gefieder, war an die Kälte scheinbar gut angepasst. Sie dagegen hatte ein ausgesprochen dünnes, feines Federkleid und war athletisch-dünn, wenngleich eine deutlich sichtbare, kugelartige Rundung zwischen ihren Beinen ihren Bauch ungewöhnlich atypisch wölbte. Das wiederum war der Preis, den sie für ihre Beharrlichkeit gezahlt hatte, ihn, der ihr in fast zwei Jahrzehnten nur als Freund oder auch nur Bekannter hatte beistehen wollen und ihr niemals Avancen gegenüber gemacht hatte, als Gefährten zu erwählen und, um es nach der Tradition ihres Schwarms zu halten, sich mit ihm zu vereinen: Sie war trächtig, würde in einigen Monaten Nachwuchs zur Welt bringen, ob sie nun wollte, oder auch nicht.
Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging sie auf ihn zu, ohne ihn zu wecken. Ein Versuch, der leichter klang, als er wirklich war, denn mit jedem Schritt und jeder Bewegung, die sie tat, ging ein deutlich hörbares Knacken von ihrem linken Sprunggelenk aus, stets begleitet von nadelstichartigen Schmerzen, die durch ihr gesamtes Bein nach oben schossen. Sie biß auf die Zähne, ignorierte die Schmerzen und ließ sich schließlich langsam, dicht neben ihrem dunklen Gefährten wieder auf dem Höhlenboden nieder, kuschelte sich mit dem Rücken gegen seinen Bauch, zog einen seiner Flügel über ihren eigenen Bauch und wärmte sich so, ehe sie ihr linkes Bein von sich streckte, den Blick auf das schmerzende Gelenk richtend.
Auf den ersten Blick wäre niemandem aufgefallen, dass sich dort, um ihr linkes Sprunggelenk und den oberen Bereich ihrer Pfote ein hochfein gemusterter Stützverband befand – so genau war die Farbe des Materials, aus dem er gefertigt worden war, an ihre Haut- und Gefiederfarbe angepasst worden. Lediglich an den Rändern, den Übergängen, konnte man erahnen, wie das feine Gefiedermuster in ein kohlefaserähnliches Muster überging. Auch dass das Gelenk sichtlich dicker war, als ihr rechtes Sprunggelenk, sah man nur, wenn beide direkt nebeneinander lagen oder standen (etwas, was sie genau deswegen häufig vermied). Schließlich verdeckte dieser Stützverband auch praktischerweise die große OP-Narbe von dem Eingriff, mit dem die Schäden an ihrem Gelenk so weit beseitigt werden sollten, wie es denn nun eben ging. Zu ihrem Bedauern jedoch waren die Schäden in ihrem Sprunggelenk in über siebzehn Jahren kumulativ derart angewachsen, dass die Ärzte nur noch eine Schadensbegrenzung betreiben konnten. Laut den Diagnosen waren die Schäden sogar so immens, dass von Amputation oder alternativ Versteifung gesprochen wurde. Gegen beide dieser Vorschläge hatte sie sich vehement gewehrt und die dritte Alternative gewählt – den Versuch einer Wiederherstellung der ursprünglichen Funktion. Diese jedoch gelang nur zum Teil – die Schäden waren schlicht viel zu groß. Ganz gleich, was man auch versuchte – ihr Gelenk würde niemals wieder seine vollständige Stabilität zurückerhalten oder gar gänzlich schmerzfrei werden können. Ein wenig hatte sie es in den letzten Jahren bereits geahnt, sich unter anderem genau deswegen vor der Diagnose der Ärzte und Behandlungen innerlich gefürchtet und gewehrt. Jetzt war es ihre Erinnerung an alles, was sie im Leben falsch gemacht hatte. Eine Strafe, gewissermaßen, für alles, was sie im Leben falsch gemacht hatte. Für ihre Überheblichkeit…
Vor gut achtzehn Jahren hatte sie genau so, wie hier und heute gelegen, war ebenfalls von einem kalten Luftzug aufgewacht. Nur das es auf einer Insel im Golf von Mexiko gewesen war – ihrem kleinen, persönlichen Geheimversteck, wenn ihr ihr Vater oder die anderen wieder mal auf die Nerven gingen mit Kritik an ihrem Verhalten und der Tatsache, dass sie in ihrem Alter noch immer ohne Partner war. Diesmal jedoch war es ein besonders heftiger Rüffel gewesen, hatte sie doch einem anderen Männchen – Algos hieß er. Oder so ähnlich – auf seinen Versuch, ihr über die Wange zu streichen, doch einen der Flügelfinger gebrochen und ihm hinterher mit einem beherzten Tritt noch etliche blaue Flecken beschert. Und so war sie dem Donnerwetter, das zweifelsohne drohte, hierher entflohen, hatte sich den Magen mit reichlich frischen Früchten von den Bäumen und Sträuchern vollgeschlagen, sich einen der Bäume zurecht gebogen und es sich im Schatten gemütlich gemacht, döste vor sich hin und ließ die lästige Welt einfach Welt sein. Solange sie vor Einbruch der Nacht wieder daheim war, würde sie niemand suchen und so auch niemand ihr kleines Versteck ausfindig machen. Bis nach Hause wiederum war es, bei komfortabler Fluggeschwindigkeit, höchstens eine halbe bis eine Stunde. Eigentlich kein Problem…wäre da nicht dieser eiskalte Wind gewesen, der sie recht ruppig aus dem Schlaf riss.
Nur Augenblicke später, ehe sie von dem Wind eh erwachte, klatschte eine Mango dicht neben ihrem Kopf auf den Boden. Ihr Blick fiel in Richtung Horizont, wo sie die Sonne suchte, um die aktuelle Uhrzeit abschätzen zu können. Doch statt der Sonne sah sie nur, wie sich eine riesige, breite, kohlrabenschwarze Masse an Wolken immer weiter in ihre Richtung schob. Ein tropischer Sturm, der sich über dem Meer zusammengebraut hatte und nun in Richtung Küste zog – genau aus der Richtung, in die sie fliegen musste. Wenn sie sich nicht beeilte, würde er ihr den Weg abschneiden.
Mit einem Mal war sie auf den Beinen und machte sich auf zum Strand – hier im Wald war der Bewuchs zu dicht, als dass sie mit ihrer übergroßen Spannweite gefahrlos hätte abheben können. Also stürmte sie los, übersah dabei aber die dutzenden, angebissenen Früchte, die sie am Vormittag achtlos um sich herum verstreut hatte, und trat natürlich genau auf eine nun sehr matschige Mango, rutschte aus und kam dabei ins Straucheln, als ihre linke Pfote unter ihr zur Seite wegrutschte. Ein dumpfer Schmerz zog durch ihr linkes Sprunggelenk, ehe sie mit einem schnellen Griff nach einem Baum wieder ihre Balance zurückerlangte, ihre linke Pfote hochhob und einige Male nach links und rechts bewegte. Sie verzog ihr Gesicht.
Seit der Pubertät und damit nun knapp neun Jahren machte ihr ihre linke Pfote ständig diese Probleme. Es war eine Lästigkeit, über die sie nie ein Wort verloren hatte, die zum Glück nur jeweils einen oder zwei Tage wirklich anhielt, ihr dann aber sichtlich Problem bereitete, wenn sie ihr Bein wirklich vollständig brauchte. Eben genau so wie jetzt, wo sie schnell abheben musste, aber auch wusste, dass das Beste wäre, wenn sie zumindest eine oder zwei Stunden ausruhen würde, damit das Ziehen in ihrem Knöchel wieder wegginge. Doch die Zeit hatte sie schlicht nicht. Also biß sie auf die Zähne, lief mit einem leichten Humpeln auf den Strand, ging dort ein wenig in die Hocke, während sie ihre Flügel ausbreitete, um dann schließlich mit einem heftigen Satz gen Himmel in die Lüfte zu steigen.
Sie flog so schnell sie konnte auf die Sturmfront zu. Leider aber musste sie feststellen, dass diese Sturmfront selbst wesentlich schneller auf sie zu gekommen war, als sie befürchtet hatte. So hielt sie nach gut einer Viertelstunde Flug inne, schwebte und wog ihre Möglichkeiten ab. Sicher, sie hätte die Sturmfront auch umfliegen können, um dann von der Rückseite nach Hause zu fliegen. Das wiederum wäre etwas gewesen, was Stunden gedauert hätte – denn diese Sturmzelle schien gewaltig. Die andere Alternative – und bei der riet ihr ihre innere Stimme, sich dafür zu entscheiden – wäre gewesen, sich in ihrem Versteck in eine sturmsichere Ecke zurückzuziehen, zu warten, bis alles vorüber war und dann, bei nächster Gelegenheit, nach Hause zu fliegen. Überdeutlich hörte sie auch die mahnenden Worte ihres Vaters im Kopf, von solchen Stürmen tunlichst fern zu bleiben, da sie selbst für die besten Flieger gefährlich waren.
Luane rollte mit den Augen ob der Stimme in ihrem Kopf, die genau wie ihr Vater klang. Der Trotz übermannte sie schließlich, ließ sie mit kräftigen Schlägen ihrer Flügel nach vorn und auf den Sturm zu rasen.
„Die ‚besten Flieger‘ kommen mit so einem Stürmchen nicht klar? Na, die haben MICH noch nicht gesehen!“ brüllte sie in den Himmel hinaus, ehe sie kopfüber in die gigantische Sturmzelle eintauchte.
Keine zwei Sekunden später bereute sie ihre Entscheidung. Heftige Windböen rissen an ihren Flügeln, Regen, dessen Intensität so heftig war, dass es sich anfühlte, als würde sie tauchen, spülte über sie hinweg, während abertausende kleine Eiskristalle wie Nadelstiche auf ihren Körper einschlugen. Alles zusammen raubte ihr sowohl Sicht wie auch Atem, verlor sie im Wirbel der sich wild umher bewegenden Wolken fast die Orientierung, schleuderte der Sturm sie zuerst etliche hundert Meter nach oben, ehe sie direkt wieder ungebremst nach unten stürzte. Mit aller Kraft rang sie nach Kontrolle, war aber dennoch mehr Spielball der Elemente, ganz gleich, wie heftig sie dagegen ankämpfte.
„Muss…höher…fliegen…“ dachte sie. Ja, höher – denn da oben würde sie über den Sturm hinwegfliegen können, wären zumindest die Turbulenzen nicht so heftig sein. Also kämpfte sie sich mit aller Kraft nach oben, gegen die Scherwinde, gegen die Luftwirbel, gegen den heftigen Regen und die schmerzhaften Nadelstiche der hämmernden Hagelkörner. Rauf, das war eine Richtung, die sie auch ohne Orientierung finden konnte.
Sie stieg immer höher und höher – und tatsächlich wurden die Winde schwächer, dafür aber noch unberechenbarer. Auch die kleinen Nadelstiche sowie der Regen ließen nach. Dafür wurden aber die Hagelkörner größer und härter, donnerten sie nun wie Kieselsteine gegen ihren Körper, platzten vereinzelt Federn ab, wo sie in einem ungünstigen Winkel gegen ihren Körper knallten, hinterließen sie Prellungen oder kleine Wunden. Dennoch lenkte sie ihre Flügelschläge weiter in Richtung Himmel, weiter nach oben, dem Leuchten der Sonne, die sie dort oben schon zu erkennen meinte, entgegen. Erst Augenblicke vor dem Aufprall realisierte sie, dass das, worauf sie zuflog, nicht die Sonne war – auch wenn es ähnlich hell strahlte.
Ein riesiger Eisbrocken, zusammengefroren aus tausenden und abertausenden einzelnen Hagelstücken, raste ihr entgegen, glitzerte und leuchtete grell. Sie riss ihren Körper zur Seite, um dem Brocken noch im letzten Moment ausweichen zu können, doch ihr Körper reagierte nicht so, wie sie es von ihm erwartete. Die Feuchtigkeit, der andauernde Hagel und die eisigen Winde hier oben hatten ihren Körper nahezu vollständig mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die sie träger, steifer und schwerer machte. Mit aller Kraft stemmte sie sich dagegen, um den Brocken nicht mit dem Kopf zuerst zu treffen, fühlte sie das Eis auf ihrem Körper zerbrechen, doch um die Kollision zu verhindern, kam das alles zu spät.
Eine der vielen, rasiermesserscharfen Spitzen aus Eis bohrte sich in ihre linke Wange, schnitt von dort aus tief und mit einem Ruck über ihr linkes Auge, riss ihr Augenlid entzwei, noch ehe sie ihren Kopf vollständig aus der Flugbahn hatte bewegen können. Ihr restlicher Körper aber wich dem Brocken fast perfekt aus, so dass dieser beinahe an ihr vorbeiflog…und dann doch ihren linken Flügel genau im Ellenbogengelenk traf. Die Wucht des Aufpralls ging wie ein heftiger Schlag durch ihren gesamten Flügel, Federn und Blut spritzten, als der Eisbrocken an ihrem Flügel in zwei Hälften zerbarst, den Flügel nach hinten warf. Es knackte in ihrer linken Schulter, als ihr Flügel mit aller Wucht nach hinten geschleudert wurde und dann erschlaffte. Der plötzliche, heftige Schmerz ließ es schwarz vor ihren Augen werden und ihr Bewusstsein schwand für einige Sekunden.
Als sie fast eine halbe Minute später wieder zu sich kam, fühlte sie, wie sie unkontrolliert trudelnd nach unten stürzte. Zurück in die regnerischen Stürme, die sie erneut wie einen Spielball umher wirbelten, dann aber tiefer und noch tiefer. Schließlich brach sie durch den unteren Rand der Wolkendecke und stürzte, begleitet von Blitzen, die die Schwärze immer wieder erhellten, dem schäumenden Meer entgegen.
Ihr linkes Auge war gefüllt mit Blut, legte über alles, was sie sah, einen nahezu undurchdringlichen, roten Schleier. Doch selbst durch diesen erblickte sie die messerscharfen Felsen, die zwischen dem schäumenden Meer hinauf ragten. An dieser Stelle – das wusste sie aus eigener Erfahrung – war das Meer nicht sonderlich tief, die Riffs und Felsen wären, wenn sie mit diesem Tempo eintauchte, ihr sicherer Tod. Wenn sie überleben wollte, musste sie einen anderen Ort suchen – so sie dazu noch in der Lage war.
Mit aller Kraft versuchte sie, ihren linken Flügel wieder auszubreiten und ihren Absturz zu verlangsamen. Zu ihrem Erschrecken gehorchte er ihr nicht so, wie sie wollte.
„Ich…glaube…er ist gebrochen…“ dachte sie, als sie ihren Flügel zitternd und vorsichtig auszubreiten versuchte, was dieser mit einem infernalischen Schmerz quittierte. Und doch gelang es ihr, das Trudeln zu beenden, ihren Absturz zu verlangsamen und sich zumindest halbwegs in der Luft zu halten. Aber das Zittern in ihrem linken Flügel war überdeutlich: Sie würde nur noch höchstens gleiten können. Und wie lange, war auch nicht sicher. Ihr blieb so nur, möglichst schnell einen sicheren Platz für eine Landung zu erspähen.
Es war wohl ihrem Glück zu verdanken, dass sie in relativer Nähe eine kleine Insel erspähte, die die Form einer etwas unförmigen Erdnuss hatte, deren eine, rundliche Hälfte aber gänzlich aus flachen Felsen zu bestehen schien, auf denen sie notfalls sogar eine Bruchlandung riskieren konnte. Die Ränder waren zwar ebenfalls scharfkantig, aber das Plateau würde ausreichen…dachte sie.
Je tiefer sie sank, umso heftiger wurden die Scherwinde, die von den ganzen Felsen, dem tosenden Meer und der unförmigen Insel nahezu unvorhersehbar umher bliesen. Sie machte sich keine Illusionen: Das hier würde eine unsanfte Landung werden. Also streckte sie ihre Beine so weit aus, wie sie nur eben konnte, bremste mit ihren Flügeln gerade so viel, wie ihr linker Flügel zu ertragen in der Lage schien und setzte so sehr schnell mit den Zehenspitzen auf. Sie atmete tief durch, wollte ihre Flügel schnell zusammenfalten, als eine weitere Böe von rechts sich unter ihrem rechten Flügel fing und diesen nach oben riß.
Sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an, wieder in die Luft gehoben zu werden, ließ ihren linken Flügel bewusst unaerodynamisch sinken. So jedoch wurde sie ausgehebelt, glitt sie auf dem nassen Felsen nur auf ihrer linken Pfote stehen schnell nach links, rang sie mit dem Gleichgewicht, als sie plötzlich mit ihrer äußeren Zehe in ein Loch hinein rutschte und hängen blieb. Doch der Wind ließ nicht ab, schob sie weiter nach links weg, während sich ihre Pfote unter ihr langsam zur Seite Bog, ehe es mehrmals laut in ihrem Knöchel knackte, ihre Ferse auf dem Boden aufschlug und sie schließlich mit voller Wucht auf ihre linke Seite knallte, ihren Kopf gegen einen anderen Felsen donnerte und so schließlich gänzlich das Bewusstsein verlor.
Erst die Morgensonne, die nach einer stürmischen Nacht erneut für Wärme sorgte, weckte sie aus ihrer Bewusstlosigkeit. Heftige Kopfschmerzen ließen sie nur langsam wieder zu Bewusstsein kommen, während ihr linkes Auge von getrocknetem Blut gänzlich verklebt war, sich nicht öffnen lassen wollte. Auch ihr linker Flügel gehorchte ihr nicht, bis sie spürte, dass die enormen Schmerzen, die sie fühlte, offenbar von ihrer linken Schulter stammten. Vorsichtig tastete sie ihre linke Schulter ab. Sie spürte, wie diese offenbar ausgekugelt war, griff kurzerhand nach ihrem Oberarm und zog mit einem Ruck. Ein kurzes Knirschen, ein spitzer Schmerz und das Gefühl in ihrem linken Flügel kehrte zurück. Er schmerzte zwar noch immer und sie war sich sicher, dass es zwei oder drei Tage dauern würde, ehe sie ihn wieder halbwegs belasten können würde, aber glücklicherweise war nichts gebrochen. Dann blickte sie nach oben.
Der Himmel war wolkenlos. Dafür brannte die Sonne unnachgiebig auf sie hinab. So sehr sie Wärme auch mochte, war das direkte Sonnenlicht über längere Zeit schmerzhaft für ihr dünnes Gefieder und ihre Haut. Zum Glück verband ein steinerner Pfad die beiden Inselhälften miteinander, wuchs auf der anderen Hälfte ein relativ dichter Wald. Bäume und Sträucher wiederum bedeuteten Wasser, bedeuteten Früchte und Schatten. Von allem konnte sie gerade reichlich gebrauchen. Also rappelte sie sich vorsichtig wieder auf, um in dem Wald Schutz zu suchen.
Sie hatte gerade den ersten Schritt mir ihrer linken Pfote gemacht, als es ein hässliches Knacken in ihrem linken Knöchel gab. Noch während der Schmerz durch ihr Bein empor schoss, kippte ihre Pfote zur Seite weg, rollte ihre Pfote über ihre äußere Zehe zur Seite, bog sich ihr Knöchel nach außen und klatschte sie ungebremst vorwärts auf den harten Felsboden. Ein Schmerz, so heftig, als würde ihr jemand in ihr linkes Bein beißen und es gleichzeitig halb abreißen, brannte grässlich und heftig. Mit aller Kraft unterdrückte sie einen Schmerzensschrei, sog sie minutenlang Luft durch die Nüstern ein, versuchte sie die Schmerzen durch Atmung irgendwie in den Griff zu bekommen. Doch auch wenn sie langsam schwächer wurden, verschwanden sie nicht vollends.
Als die Schmerzen weit genug abgeklungen hatten, rieb sie vorsichtig etwas vom Schorf von ihrem linken Auge herunter – gerade genug, damit sie damit etwas erkennen konnte. Dann rollte sie sich auf die rechte Seite, bog ihren Hals und blickte auf ihr linkes Bein herab, um zu sehen, was los war.
Ihr linker Knöchel war auf fast die dreifache Dicke dessen, wie er eigentlich aussehen sollte, angeschwollen. Eine dicke Rundung wölbte sich dort, wo das Gelenk saß, nach außen. Außerdem sah sie, wie sich ein großer Bluterguss zu bilden begann.
„Na prima“ seufzte sie. „Der macht mir wirklich nur Probleme…“
Die Sonne aber brannte weiter unerbittlich von oben. Egal, sie musste ihm etwas Ruhe gönnen, ehe sie ihn wieder belastete. Ganz so, wie immer.
Doch auch als sie am Abend erneut versuchte, aufzustehen und ihre linke Pfote zu belasten, knickte diese einfach unter ihr weg, waren die Schmerzen unverändert schlimm. Wieder und wieder versuchte sie es im Abstand von etlichen Stunden. Und bei jedem Versuch knickte ihre Pfote einfach unter ihr weg, sobald sie sie zu belasten versuchte. So verging der komplette Tag, kam die Nacht, ging auch diese und brach der nächste Tag an. Aber während ihr linker Flügel langsam immer beweglicher und schmerzfreier wurde, so blieb ihre linke Pfote gleich instabil, verweigerte sie ihr den Dienst. Am Ende des zweiten Tages fühlte sie, wie ihr Rücken von der anhaltenden Sonne und Hitze schmerzte, sich ein Sonnenbrand ausbreitete. Außerdem hatte sie einen unglaublichen Durst und Hunger, gierte sie nach Wasser oder Nahrung.
Der dritte Tag bot auch keine Besserung. Schlimmer noch: Ihr schwand mehr und mehr die Kraft für neue Versuche. Der Durst indes ließ ihre Kopfschmerzen erneut aufflammen. Als die dritte Nacht kam, wusste sie, dass sie keinen vierten Tag ohne Wasser überleben würde.
Und an genau jenem vierten Tag, nur Stunden, ehe sie wirklich das Zeitliche gesegnet hätte, sah sie den Schatten von eben jenem, an den sie sich jetzt gerade kuschelte, über sich herabsinken, fühlte sie, wie sie auf einen Rücken gehievt, in den Schatten geschleppt und an der Wasserquelle abgelegt wurde.
Er hatte sie gerettet. Nur würde es lange dauern, ehe sie ihm angemessen dafür danken sollte.