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III. Kein Rückweg

Der Regen wollte und wollte nicht aufhören. Noch immer schüttet es wie aus Eimern, kämpft sie sich den durchaus rutschigen Weg den kleinen Hügel hinab zum Bahnhof, ringt mit ihrer Brille, die bei der ganzen Feuchtigkeit ständig beschlägt und ihr so die Sicht nimmt. Dann endlich, nach mühevollen zwei Kilometern, erreicht sie den Bahnhof. Wann genau eine Bahn kommt, in welchen Bahnhof sie fährt – sie kann es nicht sagen. Nur die Himmelsrichtung, in die sie wohl muss, kennt sie. Das, und die Karte, die sie zum Glück noch aus dem Navi in Erinnerung hat.

Auf dem Bahnsteig tritt sie unter das kleine Vordach, blickt auf die Karte, nickt dann für sich. Das hier würde die richtige Bahn sein, sobald sie kommt. Und hier ist sie erst einmal aus dem Regen raus, bis der Zug endlich…

„Hey du Missgeburt. Verpiss dich aus dem Unterstand.“ zischt eine Stimme rechts neben ihr. Sie blickt in die Richtung, sieht eine Gruppe Jugendlicher. Einer davon zeigt auf sie.

„Ja, mit dir red ich. Hau ab, oder es setzt was!“

Samira seufzt, wendet sich ab und tritt zurück in den Regen. Sie merkt nicht, wie es den vier Jugendlichen offenbar nicht reicht und zwei hinter sie schleichen. So ist alles, was sie spürt, nur der Tritt von hinten in ihre linke Kniekehle, fühlt sie, wie ihr Körper runtersackt, sie mit vollem Tempo mit ihrem linken Knie auf den Boden knallt. Leise, zu leise für die Jugendlichen, aber für sie deutlich spürbar, knirscht etwas in ihrem linken Knie.

Vor fünf Jahren hatte sie sich beim Training das Kreuzband in dem Knie gerissen, den Meniskus verletzt, war ihr Knie im Anschluss operiert worden. Es war zwar stabil, aber wenn das Wetter sich änderte oder wenn sie hin und wieder eine komische Bewegung machte, schmerzte es wie damals, dauerte es einige Stunden bis Tage, ehe sie es wieder normal benutzen konnte. Beim Sport wäre es deutlich schlimmer geworden, doch den konnte sie wegen ihres kaputten rechten Sprunggelenks ja eh nicht mehr machen – und dieses machte normalerweise deutlich mehr Probleme.

Die Vergangenheit zählt jetzt nicht. Das hier und das jetzt ist, was relevant ist. Und in diesem Moment fühlt es sich an, als steche jemand mit einem heißen Messer in ihr Knie. Sie will gerade vor Schmerz schreien, da folgt ein weiterer Tritt gegen ihren Rücken, noch einer gegen ihre Hüfte.

Sie klatscht seitlich über auf den vom Regen nassen Bahnsteig. Doch das reicht den Jugendlichen offenbar nicht. Immer weiter treten sie auf sie ein, treffen Bauch, Brust, Kopf, Nacken, Schultern, Hüfte. Ihre Welt explodiert in Schmerz. Dann, der Bewusstlosigkeit nahe, hört sie ein „Die hat genug. Los. schaut, ob sie was dabei hat.“ – „Was soll so ein Miststück schon dabei haben?“ – „Du weißt doch, dass diese Viecher alles Mögliche geschenkt bekommen. Handys, Bargeld, Schmuck. Such halt.“

Minuten vergehen, in denen die Hände wirklich jeden Winkel von ihr abtasten, aber die kleine Innentasche in ihrem Overall zum Glück übersehen.

„Nichts. Die hat gar nichts dabei!“ kommt ein enttäuschter Ausruf. „Und was machen wir jetzt mit der?“- „Hier liegen lassen und abhauen.“ – „Spinnste? Wir wollen doch in die Disco!“ – „Na dann wird sie halt hier in den Graben. Komm, pack mit an!“

Jeder von ihnen packt sie an einem Arm oder Bein, zerrt sie über den Bahnsteig an den Rand. Ein letzter Tritt schickt sie in die Tiefe. Büsche, ein Baum, mit dem sie mit dem Kopf gegen knallt, dann endlich bleibt sie irgendwo hängen, ehe sie das Bewusstsein verliert.

Freitag

Die Schmerzen wecken sie. Es regnet nicht mehr, die Sonne ist schon aufgegangen. Ihr ganzer Körper schmerzt unerträglich. Sie sieht nur auf dem linken Auge scharf, stellt fest: Ihre Brille ist zerbrochen, hängt nur noch zur Hälfte auf ihrer Nase. Als sie sich zu bewegen versucht schießt ein scharfer Schmerz durch ihr linkes Knie. Ihre linke Hand tastet danach, fühlt die Kniescheibe, die falsch sitzt, rausgerutscht.

Auf dem Bahnsteig ist Trubel und laufen viele Menschen. Hin und wieder schaut einer zu ihr runter, geht dann weiter. „Nur ein Vieh.“ murmeln einige, andere sagen gar nichts.

Mit aller Kraft drückt sie ihre Kniescheibe zurück in die richtige Position. Es kracht, sie schreit. Eine leere Dose fliegt in ihre Richtung. Dann rollt sie sich zur Seite, greift mit den Händen nach dem Gebüsch, versucht sich aus dem Graben nach oben zu ziehen.

Mühsame Minuten vergehen, bis sie endlich an der Kante zum Bahnsteig ankommt. Die nächste Bahn ist schon wieder weg, der Bahnsteig nun leer. Die Uhrzeit – 10:25. Sie kommt viel zu spät zur Arbeit.

Eine letzte Kraftanstrengung, dann drückt sie sich gänzlich auf den Bahnsteig und auf die Beine. Ihr linkes Knie fühlt sich wackelig an. Ihre halbe Brille, dank der sie nur mit dem linken Auge scharf schauen kann, baumelt mehr zwischen Nase und Auge, als dass sie fest fixiert hält. Blut läuft noch aus ihrer Nase und ihren Mundwinkeln, ihre Kappe ist weg und die Haare hängen nun, zweifach verknotet wie eine unförmige Wurst, halb hinten ihren Kopf runter. Das Blut rauscht in ihren Ohren, lässt sie ihre Umwelt nur noch dumpf wahrnehmen. Gerade meint sie, ihren Namen zu hören. Aber sie sieht nicht von wo, wendet sich in irgendeine Richtung und geht los.

Drei Schritte kommt sie weit, ehe sie auf eine Glasflasche tritt. Dummerweise mit ihrem rechten Fuß, der von der Flasche runter rutscht und mit einem unangenehmen Knacken zur Seite wegknickt. Sie hat die Flasche nicht gesehen – nur verschwommene Bodenmuster. Nun reckt sie die Arme nach vorn, um ihren unvermeidlichen Sturz und das erneute Klatschen auf den Bahnsteig abzufedern. Doch da ist kein Klatschen. Stattdessen spürt sie einen Griff, der von hinten um ihre Hüfte gelegt ihren Sturz verhindert und sie zwei Schritte weiter zur Seite aufrecht gehalten hat. Wie in Trance dreht sie ihren Kopf, blickt in das Gesicht eines jungen Mannes mit schwarzen Haaren, der seinerseits besorgt ausschaut. Doch noch immer rauscht das Blut durch ihre Ohren, ist alles, was sie hört, wie durch Watte gefiltert. Dann spürt sie, wie es wieder dunkel vor ihren Augen wird.

Als sie wieder zu sich kommt, sitzt sie auf einer Bank. Genauer gesagt: Sie liegt halb auf einer Bank, die Beine auf die Bank gelegt, der Oberkörper an etwas Warmes gelehnt. Sie braucht einige Augenblicke, sich zu orientieren, doch der Ort hier kommt ihr völlig unbekannt vor. Auch, weil ihre Brille nun gänzlich fehlt, alles um sie herum verschwommen ist.

„Na, wieder unter den Lebenden?“ hört sie eine bekannte Stimme viel zu nah an ihrem Ohr flüstern. Erschreckt fährt sie mit dem Oberkörper nach vorn, will sie aufstehen, doch eine Hand legt sich auf ihre Schulter, hält sie in Position.

„Nein, das lass besser. Du hast ganz schön was abbekommen. Was zum Teufel ist denn passiert?“

Wieder steigt die Angst in ihr hoch. Doch ihr Körper hat keine Kraft mehr für die Panikreaktionen, die sie gestern – war das gestern? – gegenüber ihren sadistischen Arbeitskollegen gezeigt hat. Als sie also Anstalten macht, nicht länger aufstehen zu wollen, lockert sich auch die Hand auf ihrer Schulter, bis sie gänzlich verschwindet. Stattdessen lehnt sie sich gegen das warme, weiche Etwas hinter sich und schließt ihre Augen, mit denen sie eh nichts andere als Verschwommenes um sich herum sehen kann.

„Ein paar Halbstarke. Nicht schlimm. Alles okay.“ sagt sie leise.

Das weiche Etwas hinter ihr bewegte sich mit einem Zucken und sie meinte eine Art leises Lachen zu hören.

„Dein Chef hat mich heute früh angerufen. Wollte wissen, ob du bei mir geblieben bist oder wo du steckst. Ich habe ihm gesagt, dass du dich direkt auf den Weg gemacht hast. Und ich habe ihm gesagt, dass ich dich schwer verletzt und zusammengeschlagen am Bahnhof liegend gefunden habe.“

Wieder versucht sie, sich aufzurichten, um diesem Kerl direkt in die Augen zu blicken. Doch erneut hält er sie zurück.

„Warum hast du das gesagt?“

„Weil es die Wahrheit ist. Das sieht man doch. Du bist übersät mit Blutergüssen und Prellungen. Ein Wunder, dass du dir nichts gebrochen hast.“

DAS verdankt sie in der Tat ihren Genen. Die Physiologie jener Gene, die für ihre Erschaffung benutzt wurden, sollten sie ursprünglich für den Kampf vorbereiten. Dummerweise wirkte die Veränderung nur auf Knochen, nicht auf den Rest.

„Ich muss zur Arbeit.“

Wieder fühlt sie dieses leichte Beben, hört sie nun ein Kichern. „Wir haben gleich 14 Uhr. Du kommst mit mir mit und dann kümmern wir uns um deine Verletzungen. Wenn du wieder auf deinen eigenen Beinen stehen und dich bewegen kannst, DANN reden wir über deine Arbeit. Aber erst dann.“

Nun wehrt sich Samira doch. Sie beißt auf die Zähne, hebt die Hand von ihrer Schulter, lässt die Beine von der Bank runter und drückt sich mit aller Kraft auf ihre Beine. Ein scharfer Schmerz schießt durch ihr rechtes Bein, lässt sie zurück auf die Parkbank klatschen. Sie beißt auf die Zähne, flucht ein leises „Verdammt.“

Der Mann drückt ihr etwas in die Hand. Sie schaut schielend mit ihren kurzsichtigen Augen drauf, erkennt ihre Brille, die mit Klebeband wieder zusammengeklebt ist. Eines der Gläser hat zwar einen Sprung, aber der ist nicht schlimm. Sie setzt die Brille auf und betrachtet zunächst einmal sich. Sie erschreckt – ist doch ihr Overall bis zur Hüfte runtergezogen, fehlt das unterste, engere T-Shirt und hat man ihr ein anderes, weites, dafür aber schwarzes T-Shirt übergezogen. Ihr rechter Arbeitsschuh und ihre Orthese fehlen. Dafür prangen ein Verband und ein Kühlkissen daran.

„Ist zum Glück nur eine Zerrung, kein Riss. Ich habe dich wohl gerade noch rechtzeitig auffangen können. Aber um dich nach Hause zu tragen bist du doch ein wenig zu schwer, meine Dame.“

„Meine…Sachen…ich…muss zur Arbeit…“ stammelt sie.

„Ja, etwas in der Art hat Pietro auch gesagt. Jedenfalls bis ich ihm gesagt habe, dass das alles hier allein SEINE Schuld ist. Er weiß doch genau so gut wie ich, wie manche Menschen Humanoiden gegenüber drauf sind. Und die Uhrzeit, etwas Alkohol oder andere Drogen machen das nur noch schlimmer.“

Dann steht er auf, blickt ihr von vorn direkt ins Gesicht. Überdeutlich fühlt sie, wie die Panik, die schon die ganze Zeit unterschwellig durch ihren Körper raste, immer lauter, immer ohrenbetäubender verlangt, von hier zu fliehen, aus der Gefahr zu entkommen.

„Er hat zugestimmt, dass er so lange weiter deinen Lohn bezahlt, bis du wieder in Ordnung bist. Und jetzt komm – ich habe deine Sachen…deine anderen Sachen…schon im Auto.“

Ohne auf ein Wort von ihr zu warten, ihr irgendeine Chance des Widerspruchs zu geben, packt er ihren rechten Arm, zieht sie daran hoch, wirft ihn sich über die Schulter und führt sie so, sie so gut er kann stützend, zu seinem Wagen.

Published inDas Leben von Samira

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