
Vor etwa dreiundzwanzig Jahren brachten einige Seeleute ein malachit-bläulich schimmerndes Ei auf die Insel Priprax – einer der wenigen Handelsposten des Atolls inmitten der großen Weite der See. Von vielen Fahrten in den Hafen dieser Insel kannten die Seeleute bereits die Eigenheiten, den Orden auf der Nachbarinsel und auch die Einwohner, die Fremde stets freundlich und respektvoll begrüßten, aufgrund ihrer Fremdartigkeit aber eher am Rande der Gesellschaft, statt in ihrer Mitte lebten und es sich deswegen auf dieser Insel heimelig eingerichtet hatten.
Drachengeborene. Wesen, die irgendwie durch die Verbindung mit einem Drachen entstanden waren und nun einen Teil ihres Elternteils als gut sichtbares Erbe mit sich trugen.
Zu eben jenen Einwohnern brachten die Seeleute das seltsame Ei, wussten sie doch von ihren vergangenen Begegnungen und Erfahrungen, dass dieses Ei einen weiteren Drachengeborenen beinhalten würde, wenn es denn nur richtig ausgebrütet werden sollte.
Aus eben jenem Ei war es Kelrar, der nur zwei Monde später das Licht erblickte. Deutlich sah man an seinen Schuppen die gleiche, bläuliche Farbe, die auch schon die Eierschale bedeckt hatte. Seine Abstammung war damit also recht klar, schürte unter den übrigen Drachengeborenen sowohl Respekt wie auch ein wenig Beunruhigung.
Es gab viele Drachen der unterschiedlichsten Schwärme. Und aus allen diesen Schwärmen waren mit den Jahren auch Drachengeborene entstanden. Viele von ihnen hatten sich hier, in diesem Inselatoll, zusammengefunden und lebten, lernten und arbeiteten gemeinsam. Doch die Wurzeln ihrer Vorfahren konnte niemand so wirklich hinter sich lassen. Auch das fürchtete man von dem Jungen, der den Namen Kelrar erhielt.
Die Befürchtungen waren berechtigt – war der junge Drachengeborene doch ähnlich boshaft veranlagt, wie es für blaue Drachen bekannt war. Auf ihrer Suche, wie man damit umzugehen hatte, nahm man ihn in die Bibliothek des Ordens von Mishakal auf der größeren Nebeninsel mit. Dort stürzte sich der junge Kelrar schnell auf die dortigen Bücher und las, zur Überraschung der Priester und anderen Drachengeborenen, nicht nur die Bücher in Gemeinsprache, sondern verschlang sogar jene, die in der Sprache der Elfen geschrieben waren. Und mit jeder Stunde, die er in der Bibliothek verbrachte, schien sich etwas im Blick des jungen Drachengeborenen zu verändern, der Hass in den Hintergrund zu treten und durch Sanftheit ersetzt zu werden. Schnell wurde klar: Es war das Lächeln von Mishakal, das da auf den Jüngling wirkte.
In den folgenden Wochen trat der wahre Hass und die Wut des jungen Drachen immer schwallweise hervor, doch mit jedem Mal, als er davon übermannt zu werden schien, zog er sich im Anschluss wieder in die Bibliothek zurück, versank in die Bücher. Bald schon fand er, verborgen in einem älteren Folianten über Medizin, eine mögliche Erklärung für diese Ticks, die ihn immer so veränderten: Das Essen.
Tatsächlich spürte er, dass er bei jedem gemeinsamen Mahl mit den anderen, bei dem es entweder einen fleischigen Eintopf oder etwas Gebratenes gab, nach dem Verzehr diese Bosheit in sich hochkochen spürte. Also beschloss er, von diesem Tage an auf alles, was Fleisch betraf, zu verzichten – und so dem Segen, den ihm SEINE Göttin offenkundig gegeben hatte, zu entsprechen, diesen zu ehren und zu würdigen.
Von diesem Tage an blieb er tatsächlich von den „Ticks“ verschont, erhielt die Priesterweihe mit lediglich zehn Jahren und verbrachte weitere Jahre mit dem Studium, Gebeten sowie damit, Händlern, Reisenden und Schiffbrüchigen seinerseits die Hilfe des Ordens anzubieten. Genau so eine Offerte von Hilfe, die der Orden Reisenden grundsätzlich anbot, war es auch, die Kelrar – der von seinen Clansbrüdern mittlerweile den Beinamen Yahmindok (für Nicht-Drachen: „Der Sucher des Wissens“) aufgrund seinem über alle Maßen ausgeprägten Hang, neue Dinge zu erlernen und stets nach Erkenntnissen zu dursten, unter den Drachengeborenen bekannt war – mit fünfzehn Jahren dazu auserwählte, an Bord eines Handelsschiffes zu gehen, um den Seeleuten und Passagieren an Bord seelischen Beistand zu leisten und die Wunden, die diese auf den Überfahrten erleiden sollten, zu versorgen.
Der ursprüngliche Plan war, dass er für einige Monate an Bord der „Flinken Minna“ aushelfen sollte. Doch aus den wenigen Monaten bis zu einem Jahr wurde schnell mehr, fand doch nicht nur der Kapitän, sondern schnell auch die gesamte Besatzung nicht nur Gefallen, sondern wahre Freude an dem Drachengeborenen, der der Besatzung tatkräftig zur Seite stand. So war zumeist er es, der bei Gewitter entweder am Steuer oder hoch oben in den Masten arbeitete, mit seiner überdurchschnittlichen Körperkraft und seiner schieren Körpermasse und -größe selbst die dicksten Taue zu greifen wusste, der sich als geschickter Schwimmer bewies und bei Überfällen von Piraten nicht nur eine psychologische Wirkung auf seine Gegner entfaltete, sondern mit Zauber und Waffenarm seine Besatzung zu verteidigen wusste.
Viele Häfen lief Kelrar gemeinsam mit der Crew an, wurde über die Jahre von einem Fremdling zu einem verlässlichen Matrosen zu einem engen Freund der Kernbesatzung und schließlich auch des Kapitäns, der den Kleriker nur zu gern mehr Sold für die Tatsache, dass diese warmblütige Echse jedem seiner Mannschaft an einem bestimmten Punkt mindestens einmal das Leben gerettet hatte – sich selbst eingeschlossen – ausgezahlt. Doch zum einen waren die Gewinne, die die „Flinke Minna“ einfuhr, in Zeiten, in denen die Zwerge und Gnome ein strenges Regiment mit den Kassen führten, nicht sonderlich lukrativ, zum anderen lehnte Kelrar durchweg Bezahlungen für seine Taten, die er als „selbstverständlich“ ansah, ab, bat lediglich um eine möglichst ausgewogene, vegetarische Kost und eine trockene Hängematte. So bürgerte sich auf dem Schiff die Tradition, die einst durch Angst, Scheu oder auch Respekt vor der fremdartigen Gestalt geboren worden war und dazu geführt hatte, dass der Drachengeborene in einem eigenen, von den anderen Seeleuten isolierten Bereich des Laderaums sein Lager erhalten hatte, ihm im Achterschiff und hier direkt unterhalb der Kabine des Kapitäns und neben der Kabine des Quartiermeisters eine eigene, kleine Stube einrichtete, sie mit Decken und einigen Restplanken vom übrigen Schiff abtrennte und ihm dort sogar einen kleinen Schrein zu Ehren seiner Göttin aufzubauen ermöglichte. Natürlich protestierte er ob dieser Luxusbehandlung, doch die Besatzung bestand darauf, dass er dieses Zeichen ihres Respekts und der Dankbarkeit zu akzeptieren hatte.