Der magische Staub über Sariat lichtete sich nur langsam. Die Sari erschienen nicht plötzlich oder kurz nach der Explosion, sondern brauchten Jahre, in denen die intensiven, magischen Energien durch alles, das durch die Explosion zerblasen worden war, zu dringen, es zu durchweben und neu zu formen. Die Gräser und etliche Pflanzen waren einfacher, wuchsen schneller und hatten die wilde, zerklüftete Insel, deren Alleinstellungsmerkmal ein viele tausend Meter in die Höhe ragender, erloschener Vulkan in der nördlichen Hälfte des Eilands darstellte, rasch überwuchert und insbesondere den Süden und den Westen mit einem dichten Wald und Dschungel bedeckt. Dann, als wären sie einfach aus dem Boden aufgestiegen, wandelten von einem Tag auf den nächsten die humanoid aussehenden Sari über die Insel, blickten einander fragend an. Ihnen waren nur Bruchstücke der Erinnerungen jener Wesen, die sie einstmals gewesen waren, geblieben. Kultur, Sprache, Ursprung – alles war ihnen so fremd wie einsamen Wanderern, die in einer völlig neuen Welt und ohne jeden Kontakt zur alten, unbekannten Heimat gestrandet waren. Nur mühsam fanden sie Nahrung in dem Dschungel, wussten aber durch die spärlichen Erinnerungen zumindest um grundlegende Dinge wie Ackerbau, das Fertigen von Werkzeugen und andere, elementare Kenntnisse. So entstanden die ersten Felder, die rasch mit wildem Reis, Getreide und Früchten, die aus Wald und Dschungel geerntet wurden, auf großen Lichtungen, in frisch gefällten Wiesen und offenen Flächen einen Platz fanden. Wie und wo Dinge zu finden waren wussten einige Wenige der Sari vom stillen Flüstern, das ihnen in den Geist sprach – auch wenn ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht klar war, wem diese Stimme gehörte. Ihre Artgenossen waren zunächst über diese seltsamen Lauscher, wie sie sie zuerst nannten, verwirrt. Doch als diese bewiesen, dass ihre Vorhersagen, wo eine Trinkwasserquelle zu finden wäre, an welchen Stellen Getreide besonders großen Ertrag bringen würde, welche Bäume gefällt und in welche Richtung zu lehnen sein sollten, um eine sichere Herberge zu finden, in welchen Ecken der vielen, kleinen Riffs die meisten und größten Fische zu fangen waren und wie viele Fische für das Überleben aller Sari ausreichen sollten, wuchs der Ansehen dieser Horcher. Schnell hatten jene, deren offensichtlichstes Merkmal ihre strahlend grünen Augen waren, eine wichtige Rolle im lediglich vierhundert Seelen zählenden Stamm inne – und auch einen passenderen Namen, den sie von diesem Tage an erhielten und auf ewig tragen sollten: Schamanen.
Mit den Jahren wuchs der Stamm weit über die Zahl der vierhundert Seelen hinaus, wuchs das kleine Dorf mit seinen Holzhütten und Baumhäusern, den Höhlen und simplen Blattbauten zu einer Siedlung, die von diesem Tage an Stein für solidere und dem Wetter besser gewappnetere Häuser bestehen sollte. Einige Holzhäuser allerdings blieben bestehen – weiter entfernt und außerhalb der Siedlung, nahe den Feldern, den Fischgründen und tief im Wald verborgen, damit weiterhin Kräuter, Wurzeln und Knollen gesammelt werden konnten. Und erst beim Bau dieser Häuser fiel auf, dass nicht nur die Schamanen, die weiterhin als wichtige Entscheidungsträger in der Gemeinschaft angesehen wurden, zu besonderen Mächten fähig waren. Im Gegenteil merkten die Sari schnell, dass jeder von ihnen auf eine gewisse Art und Weise besonders zu sein schien.
„Sariat hat uns allen ein Geschenk verliehen, auf das wir es in uns tragen und es uns helfen möge auf unserem Wege.“ Erklärten die Schamanen diese besonderen Fähigkeiten. Ausgesprochene Stärke war nur eine dieser Fähigkeiten, die es einigen erlaubte, massive Felsen zu bewegen, für die andere selbst zu zehnt und mit Werkzeug ihre liebe Not hatten. Andere dagegen besaßen die Fähigkeit, nicht nur Minuten, sondern Stunden unter Wasser zu schwimmen, ohne je die Not nach Luft zu verspüren. Wieder andere hatten ein derart feines Geschick in ihren Fingern und so feine Augen, dass sie mit bloßen Händen Fäden zu eindrucksvollen Kleidern zu weben wussten und jedem Webstuhl Konkurrenz machten. Doch besonders edel war die Fähigkeit der Heiler, die jenen, die sich verletzten oder erkrankten, einen Teil ihrer Lebensessenz leihen konnten, um selbst die schwersten Verwundungen, Seuchen oder potentiell tödliche Verwundungen nicht nur zu überleben, sondern diese binnen Minuten statt Tagen oder Wochen zu heilen. Ihnen allen dagegen war die Fähigkeit gegeben worden, überdurchschnittlich schnell zu lernen, sich Dinge einzuprägen und wiedergeben zu können, ohne sich Notizen oder andere Aufzeichnungen anfertigen zu müssen.
Dank dieser Geschenke, die tatsächlich in der Kultur der übrigen Völker durchaus bekannt waren, jedoch die aktive Nutzung von Magie erforderten, um in den Genuss der Vorteile zu gelangen, wuchs die Zivilisation der Sari binnen hundert Jahren zu einer Zahl von über zweitausend an, wuchs die ehemals kleine Siedlung zu einer kleinen Stadt. Leider aber wuchs mit der Zahl der Sari, die auf Sariat lebten, nicht die Zahl der Schamanen, deren Zahl weiterhin bei lediglich vier verblieben war und nach besagten hundert Jahren gar auf nur noch zwei gefallen war. Doch mit der steigenden Zahl an Bewohnern wuchs der Wunsch und das Bedürfnis nach Führung ihres Volkes – ein Umstand, den die beiden Schamanen ablehnten. Ihre Arbeit umfasste nicht die Führung eines Volkes, sondern die Anleitung und das Gehorchen der Stimmen der Erd-, Wasser- und Lebensgeister der Insel und der gesamten Welt, mit denen allein sie in Zwiesprache treten konnten und die sie vor drohenden Katastrophen warnten. Diese Geister waren es auch, die den Sari eine Regierung vorschlugen, die aus der Mitte der übrigen, fähigen Bürger gewählt werden sollte.
Ein Rat der Ältesten wurde als Regierungsform beschlossen, bestehend aus fünf Vertretern der unterschiedlichen Bereiche – des Handwerks, des Ackerbaus, der Fischerei, des Wissens und der Verteidigung vor allem, was den Frieden der Insel bedrohen sollte. Und so gerecht der Rat auch war, so zeigte sich schnell, dass deren Diskussionen und Ansichten teils stark auseinanderdrifteten, es Streit um Dinge der Landnutzung, der Expansion, der Verteidigung und so ziemlich allen anderen Themen, die ihnen zur Entscheidung vorgelegt wurden, gab. Nach zwei Jahrzehnten schließlich kamen sie und die übrigen Einwohner der Insel zu der Überzeugung, dass sie eine Spitze, einen Anführer brauchten, um in Entscheidungen des Rates das letzte Wort zu haben. Und entgegen aller Proteste des letzten, verbliebenen Schamanen, der nun schon ein stattliches Alter erreicht hatte, wurde ebendieser als erster Herrscher von Sariat gewählt, erhielt damit als erster den Titel des Regenten – des vom Volk und des Ältestenrats gewählten Herrschers von Sariat.
Doch die Herrschaft von Regent Aethem Warn, wie der letzte Schamane der Sari genannt wurde, währte nur noch fünf Jahre, ehe er im Alter von 97 Jahren zur Erde zurückkehrte und die Sari damit erneut vor die Frage nach einem Herrscher stellte. Mangels neuer Schamanen – in den letzten fünfzig Jahren waren keine weiteren geboren worden – fiel die Wahl auf einen jungen Gelehrten, dessen Fähigkeiten insbesondere in der Wahr- und Weissagung gelegen hatten und der als ersten Erlass den Bau eines großen Schlosses in Auftrag gab, um das Andenken von Aethem Warn auf Ewig zu wahren. Der Beschluss wurde sogleich umgesetzt und im Laufe von zehn Jahren – was für die Sari und deren Baukunst in Anbetracht ihrer Fähigkeiten schon eine enorme Zeit darstellte – wuchs inmitten eines kleineren Nebenberges des Mori (wie die Sari mittlerweile den Vulkanberg aufgrund seiner pechschwarzen Hänge nannten) eine stattliche, ganz aus weißem Marmor geformte und prachtvolle Burg heran, deren Zinnen von grüner Jade bedeckt wurden. In Anbetracht dieser immensen, baulichen Anstrengung jedoch litten andere Bauprojekte, herrschte die Jahre darauf Hunger, brachen Lagerhäuser, die vernachlässigt worden waren, unter den tobenden Stürmen zusammen, verwüstete ein Feuer zahllose Wohnhäuser und nahm die Bevölkerung wieder langsam ab. Der junge Gelehrte, der in den ersten zwei Jahrzehnten stets der Mehrheit seiner Anhänger gewiss gewesen war, verlor zusehends an Rückhalt. Unruhen brachen über die Sari, Streit brach über sie herein und es war mit einem Mal am Rat der Ältesten, für Ordnung zu sorgen und den Regenten in seine Schranken zu weisen. Dieser jedoch reagierte mit Verärgerung, erließ Verordnungen, um den Rat seinerseits zu entmachten.
Das Jahr 173 nach der Explosion und Neugestaltung von Sariat war schließlich das Jahr, in dem das Volk und der Ältestenrat gemeinsam gegen ihren Regenten aufbegehrten, ihn seines Amtes enthoben und aufgrund seiner Taten von der Insel verbannten. Der Name Horm Elevir, der einstmals dem jungen und vielversprechenden Seher gehört hatte, wurde von diesem Tage an nicht wieder ausgesprochen – und wenn, dann nur in Verwünschungen. Es war auch jener Tag, an dem das Volk beschloss, dass es keinen Regenten mehr brauchte und der Ältestenrat, der die Jahre zuvor bereits für Ordnung gesorgt hatte, die Geschicke des Volkes besser lenken könne. Und so war es auch – bis zum Jahre 189.
Im Jahre 189 schließlich brach, ohne dass die Sari davon gewarnt worden wären, der Berg Mori mit lautem Getöse und wilden Explosionen aus, goß brennende Lava, heiße Asche und riesige, rasiermesserscharfe Felsen über die nah gerückten Siedlungsbauten. Erneut verloren viele ihr Heim und alles, was sie sich über die Jahre aufgebaut hatten, versanken die Sari in ungeordnetem Chaos. Der Ältestenrat hatte Mühe, sich zu Entscheidungen durchzuringen, wie und an welcher Stelle am Besten geholfen werden konnte, plante im Voraus und vergaß damit jene, die am dringendsten und unmittelbar Hilfe brauchten. Zu ihrem Glück allerdings griff ausgerechnet ein junger, überaus flinker und geschickter Sari, der zuvor nur auf den Feldern gearbeitet und seinen Eltern geholfen hatte, jenen Hilfesuchenden unter die Arme, rettete nicht wenige aus dem sicheren Tod, der ihnen durch die herannahende Lava gewiss gewesen wäre. Dies allein wäre bereits Erwähnung wert gewesen, doch als ebendieser junge Sari ohne jeglichen Schutz mitten durch die glühend heiße Lava hindurch rannte, um zwei junge Kinder vor dem sicheren Tod zu bewahren und dabei nicht einmal ein einziges Haar versengte, wurden auch die Mitglieder des Ältestenrates auf ihn aufmerksam.
Als Wochen später die schlimmsten Katastrophen bereits ausgestanden waren und die Bürger dem Ältestenrat mit Vorwürfen über die mangelnde Hilfsbereitschaft während der Katastrophe arg zusetzten, erinnerten sie sich an den Jüngling, der mit seinen zarten 15 Jahren derart tapfer und sonderbar von den Geistern geschützt für die Rettung unzähliger Bürger gesorgt hatte. So rief man ihn herbei, um ihm für seine Taten zu danken und ihn zu ehren. Die Bürger aber verlangten bei der Ehrung noch mehr – insbesondere die Älteren, die die Vorteile eines Regenten noch kannten und um die schnellen Entscheidungen dieses Jünglings wussten, forderten, ihn auf diesen Posten zu nominieren und ihm mehr Macht zu verleihen, als der vorherige Regent besessen hatte. Gerade die Älteren sahen nämlich in der Tatsache, dass der Ältestenrat den Regenten quasi entmachtet hatte, den wahren Grund für das Chaos der Jahre.
Doch als der junge Vector Tazad vor die Ältesten trat, die laut rufenden und verlangenden Bürger im Rücken, wandte er sich um und stellte sich vor den durch die älteren Sari so attackierten Rat und erhob die Stimme.
„Meine Taten in den vergangenen Wochen waren ebenso wichtig und notwendig wie alles, was der Rat getan hat. Ich tat dies, um die Leben vor dem unmittelbaren Tod zu bewahren. Der Rat indes tat es, um sie vor dem mittelbaren Tod zu bewahren. Wenn ihr sie nun kritisiert, so kritisiert auch mich für meine Taten.“
Die Worte des Helden von Sariat, wie er ab diesem Tage genannt wurde, hinterließen Eindruck bei den Bürgern. Und auch der Rat der Ältesten erkannte, dass dieser junge Sari trotz seines noch geringen Alters bereits eine Weisheit besaß, die der eines Schamanen ebenbürtig wäre – auch wenn man mittlerweile nur noch aus Geschichten von den Schamanen wusste.
Neuerlich fand so die Wahl statt, ob Vector Tazad der neue Regent von Sariat werden und von der Burg Aethem aus die Geschicke seines Volkes und jener der Insel führen sollte. Eine überwältigende Mehrheit des gesamten Volkes und alle Mitglieder des Ältestenrates stimmten dafür, blickten so auf Vector mit der Frage, ob er diese Wahl und die damit verbundene Verantwortung akzeptieren würde.
Vector willigte unter drei Bedingungen ein. Zum einen wünschte er, dass der Rat von ehemals fünf Mitgliedern auf neun vergrößert werden und ihm als ständiger Berater zur Seite stehen sollte – mit den selben Befugnissen, die ein Regent zu treffen berechtigt war, zum anderen eine Stellvertreterin, die er selbst wählen und als Gemahlin mit ihm gemeinsam seine Macht teilen sollte. Schließlich verfügte er noch, dass der Rat regelmäßig vom Volk ernannt und er, der Regent und seine gesamte Sippe alle sieben Jahre durch das Volk bestätigt werden sollte.
Der Ältestenrat war verwirrt ob der Forderungen des neuen Regenten, die allesamt seine eigene Macht verringerten und ihm eher Probleme machen würden, doch sie stimmten ihm in allen Punkten zu. So wurde Vector Tazad im Jahre 190 n.E. zum zweiten Regenten von Sariat.
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