Samstag ist normalerweise ein Arbeitstag. Aber nicht heute. Ihr Chef will, dass sie sich erholt, genau das tut sie.
Schlaf. Süßer, sonst viel zu knapper Schlaf. So schläft sie, in dem zu kleinen Bett, eingewickelt in zwei Wolldecken, dank denen sie die Kälte, die durch das offene Kellerfenster in ihre Behausung hineinzieht, zumindest etwas warm und gemütlich, vergehen die Stunden wie im Flug. Nicht einmal der nagende Hunger vermag es, sie aus dem tiefen Schlaf, in den sie gefallen ist, zu wecken. So vergeht der gesamte Samstag, kommt eine neue Nacht.
Sie träumt, aber die Bilder, die sie sieht, sind wirr und ohne Zusammenhang. Bilder vom Trainingslager in Russland, von peitschenden Trainern, von ihrem prügelnden Ziehvater in Indien, von jubelnden Fans im Stadion bei Frankfurt, von Kliniken, Ärzten, vom Gulag und den verzerrten Fratzen von zahllosen Männern um sie herum, von Händen, die nach ihr greifen, sie packen und zu Dingen zwingen. Sie schreit.
Schlagartig ist sie wach, hat die Augen weit aufgerissen und starrt auf die schmutzige Betondecke über sich. Die Konturen verschwimmen vor ihren Augen, Muster aus Schimmel, Dreck und der grauen Farbe bilden einen verschwommenen Dreck, der im schwachen Licht, das durch das Fenster in ihre Behausung hinein scheint wie dreckige Wolken aussieht. Ein eisiger Luftzug weht durch das nicht schließbare Fenster hinein. Trotzdem schwitzt sie am ganzen Körper, ist ihr Fell am ganzen Körper klamm und klebrig, läuft ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie atmet schnell, fühlt, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmert. Sie angelt nach ihrer Brille, drückt sie sich auf die Nase und blickt panisch umher, versucht so, ihren Puls wieder etwas zu beruhigen.
Blick auf die Uhr des alten Radioweckers: Kurz nach 8. Es ist Sonntag. Sie hat den gestrigen Tag wirklich gänzlich durchgeschlafen. Dann ein Blick neben ihren kleinen Ofen. Das Brot ist grün vor Schimmel, einige leere Konserven und leere Plastikflaschen. Sonstige Vorräte hat sie nicht. Sie braucht neue. Es bedeutet aber auch, dass sie für den Moment hungrig und durstig bleiben muss. Also macht sie das nächstbeste: Sie macht sich fertig, erfrischt sich etwas im Bad.
Im Spiegel blickt ihr eine noch immer leicht ramponiert dreinblickende Tigerdame entgegen. Die Spuren ihrer Begegnungen am Donnerstag sind schon gut verheilt, nur eine leichte Schwellung an der Nase zeugt noch von dem, was geschehen ist.
Eine kurze, dafür eiskalte Dusche später sucht sie eines der T-Shirts, das noch sauber ist, schlüpft in ihre Hose, ihre Stützsocke, Sneaker, wirft sich ihre Jeansjacke über und verschwindet, mit einer zusammengeknüllten Plastiktüte in einer Jackentasche, durch die Wohnungstür nach draußen. Noch während sie die Stufen nach oben erklimmt, drückt sie sich die Ohrhörer in die Ohren, lauscht sie nur Augenblicke später der Musik ihres mp3-Players. Wie genau das Lied heißt, kann sie nicht sagen, aber das sanfte, dunkle Saxophon und die Klänge eines Klaviers beruhigen ihren noch immer aufgeregten Puls merklich, während sie ihre Schritte auf die Nebenstraßen und -gassen lenkt, die zum nächsten Supermarkt führen.
Natürlich hat der Supermarkt an einem Sonntag geschlossen. Aber sie hat auch nicht vor, zur Vordertür hinein zu wandern und dort dann für teuer Geld etwas zu Essen einzukaufen. Dafür reicht ihr Budget so oder so im Leben nicht aus. Stattdessen lenkt sie ihre Schritte zur Rückseite des Supermarktes, blickt einmal zu allen Seiten und setzt, als sie niemanden erspähen kann, zu einem Sprung an, klettert über die gut zweieinhalb Meter hohe Mauer, lässt sich auf der anderen Seite langsam runter, blickt zu den Müllcontainern des Supermarkts. Drei riesige Container, alle verschlossen und mit Schlössern gesichert. Eine Veränderung zu den vorherigen Malen, bei denen sie sich aus den Containern bedient hatte, aber einer, der sie nicht davon abhält, dennoch auf den mittleren der drei Container zuzugehen und dessen Verschluss zu greifen. Unter deutlich hörbarem Kreischen verbiegt sich das Metall unter ihrem Griff, hebt sich der Deckel gerade so weit, dass sie, dank des Lichtes einer nahen Laterne, hineinblicken kann.
Viele kaputte Konserven, verbeult, fehlende Etiketten, fünf Pakete mit irgendwelchem Fleisch, das sich schon leicht verfärbt hat und ein Paket Brot, dazu noch Dosen mit etwas zu Trinken darin und jede Menge welkes Gemüse liegen in dem Container. Gerade als sie dabei ist, ihre Funde in die zusammengeknüllte Tüte zu packen, hört sie jedoch jemanden in ihre Richtung schreien.
„Hey, bleib sofort stehen du dreckiger Dieb!“
Samira macht natürlich das genaue Gegenteil, schnappt sich die wenigen Dinge, die sie aus dem Container angeln kann und rennt zurück zur Mauer. Mit einem Schwung schleudert sie die Tüte darüber, holt Anlauf, springt ihrerseits an der Mauer hoch, schwingt sich rüber und springt auf der anderen Seite runter.
Es knackt deutlich spürbar in ihrem rechten Knöchel. Für einen Augenblick strauchelt sie, greift dann aber noch halb im Sturz nach ihrer Tüte, schwankt leicht zur Seite und rennt dann, stark humpelnd, in die nächste Straße, biegt um die nächste Ecke, dann um noch eine, ehe sie, heftig keuchend, an einer Laterne gelehnt zum Stehen kommt.
Ihre Lungen brennen, ihr Herz hämmert wie wild und ihr Fuß brüllt vor Schmerzen. Aber noch ist sie nicht in Sicherheit. Sie wartet nur einige Augenblicke, ringt nach Luft, ehe sie sich wieder aufrichtet und dann, mit deutlichem Humpeln, nach Hause aufbricht.
Sie macht erst in einem kleinen Park abseits ihrer Route halt, setzt sich auf eine der halb von Büschen zugewachsene Parkbank und blickt in ihre Tüte, prüft, was sie alles aus dem Container greifen konnte. Dann hellt sich ihre Miene etwas auf.
Das erste, was sie aus der Tüte herauszieht, ist eine längliche Getränkedose mit einigen, kräftigen Dellen. Aber sie ist noch voll und dicht, der Verschluss an der Oberseite jedoch abgerissen. Sie drückt die Sollbruchstelle mit dem Daumen ein, hört ein Zischen, begleitet von reichlich Schaum, der sprudelnd hervorstößt. Reflexartig drückt sie die Dose an den Mund. Ein süßlich-bitterer Geschmack, aber durchaus schmackhaft, füllt ihren Mund, als sie die Dose in einem Zug leert und neben sich abstellt. Dann blickt sie erneut in ihre Tüte.
Zwei Packungen Brot, in Scheiben geschnitten und stark zerdrückt, aber ohne Schimmel, eine längliche Dose mit einem Bild von irgendeiner Art von Fleisch, zwei andere, längliche Dosen mit Fisch – eine der Dosen ist bereits leicht offen, wird von ihr kurzerhand gänzlich geöffnet. Der Inhalt riecht stark fischig, aber noch nicht bitter. Also nimmt sie drei Scheiben Brot, leert die Dose auf diese und verzehrt die Scheiben Brot im Rekordtempo.
Ein Karton, der ursprünglich für mehr Dosen als die noch drei darin befindlichen gedacht ist, bildet den Abschluss dessen, was sie retten konnte. Die Dosen sind dunkelgrün mit irgendwelchen Buchstaben auf der Seite. Sie nimmt eine davon, öffnet diese und nimmt einen Schluck – deutlich bitterer, als die erste Dose, doch ihr Durst ist stark genug, damit sie auch diese leert. Eine sanfte Wärme macht sich allmählich in ihrem Körper breit, als sie zur nächsten Dose greift, öffnet und auch diese leert. Als sie auch noch die letzte der Dosen leert, ist die Wärme in ihrem Körper intensiv, fühlt sich ihr Kopf seltsam leicht an und die Klänge, die sie durch die Kopfhörer hört, wirken fast hypnotisch. Sie spürt, wie ihr Körper einerseits ungewöhnlich leicht, ihre Beine dafür umso schwerer zu sein scheinen, schüttelt mehrmals den Kopf, um den leichten Schwindel, der die Welt vor ihren Augen in Drehung versetzt, abzustreifen, packt dann schließlich das übrige Brot und die beiden noch vollen, ungeöffneten Dosen zurück in die Tüte. Dann steht sie langsam auf, greift dabei mit einer Hand nach der Parkbank, um dem Schwindel, der ihren Kopf gänzlich erfasst hat, auszugleichen, richtet sich dann schließlich gänzlich auf.
Das Brennen ihrer Lungen ist fort, ebenso die Schmerzen in ihrem Fuß. An ihrer Stelle ist da nun die wohlige Wärme und eine Weichheit, in der ihr Kopf gebettet zu sein scheint. Es kostet sie jedoch ungewöhnlich viel Mühe, ihre Schritte halbwegs geradeaus zu lenken, denn offenbar schwankt und bewegt sich die Welt um sie herum. Aber das stört sie nicht auf ihrem Weg nach Hause.