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Erschaffung der Humanoiden

Es ist das Jahr 1996. Die Wissenschaft hat ihren bisher größten Durchbruch auf dem Feld der Genetik erreicht: Dolly, das erste Klonschaf, erblickt das Licht der Welt. Doch dieser Klon, die erste Kopie eines Lebewesens, sollte erst der Anfang bleiben.

Während die USA und viele europäischen Staaten über die Risiken und die ethischen Vorbehalte bezüglich des Klonens diskutieren, Gesetze entwerfen, die dieses streng reglementieren und in vielen Fällen sogar unmöglich machen könnten – immerhin maßt sich so der Mensch an, eine gottgleiche Macht in der Entscheidung über Leben und Tod zu treffen – sieht es in China, Indien, Chile, Australien und einigen anderen, kleineren Staaten ein wenig anders aus. Nur zu gern bieten die Staaten für emsige Wissenschaftler auf dem Feld der Genetik einen sicheren Hafen. Mehr noch: Förderfonds werden aufgelegt, Laboratorien zur Verfügung gestellt und Ziele für die Entwicklung definiert.

Diese Förderung blieb zwar inoffiziell und ein wohl gehütetes Geheimnis, doch in den folgenden beiden Jahren waren die Durchbrüche auf dem Feld der Genomsequenzierung überragend. Nicht nur war es den Wissenschaftlern gelungen, die Gensequenzen für einzelne Organe und Funktionen exakt zu bestimmen, die Genstrukturen der menschlichen DNS vollständig zu indexieren…man fand auch Wege, diese zu manipulieren, Codestränge mit anderen DNS-Sequenzen zu vermischen. Die Resultate waren beängstigend, gruselig, die Möglichkeiten erschienen nahezu grenzenlos.

Ende 1999 war es schließlich soweit und der erste Mensch-Tier-Hybrid erblickte das Licht der Welt. Seine Organstruktur und innerer Aufbau war zwar mit dem eines Menschen vergleichbar, doch äußerlich war das Wesen noch immer mehr Tier als Mensch. Das war ein Glücksfall, denn die Organe dieser Mensch-Tier-Hybride waren menschenkompatibel. Ein Ziel, das von der chinesischen Regierung ausgeschrieben worden war, hatte man erreicht: Die Züchtung von Trägern für Spenderorgane, die kranken Menschen transplantiert werden konnten. Erste Tests zeigten eine mehr als vielversprechende Kompatibilität mit äußerst geringen Abstoßungsreaktionen. Also begann man mit der Massenproduktion.

Hier hätte es enden können, doch die Begehrlichkeiten der Regierungen, immer neuer Auftraggeber und die Neugier der Forscher war geweckt. So entstanden neben einfachen Organspendekörpern auch Wesen – die man von diesem Tage an Humanoide, weil menschenähnliche Nicht-Menschen, nannte – auch spezialisierte Varianten, bei denen immer neue, immer andere Genstrukturen ausprobiert wurden. Soldaten, Spione, sklavenähnliche Hochleistungsarbeiter – die Liste der Möglichkeiten schien schier grenzenlos und nur eine Gensequenz in einer Petrischale entfernt.

2001 wurden schließlich globale Sanktionen gegen die Länder, die mit diesen Genexperimenten Gott spielten, von einer großen Mehrheit der Länder beschlossen. Binnen weniger Wochen fror der internationale Handel nahezu vollständig ein. Es war ein bezeichnender und sowohl bewundernswerter wie schockierender Schritt, dass sich fast alle Nationen darin einig waren, niemals Gott spielen zu dürfen.

Die Sanktionen blieben nur wenige Stunden, dann hatten sich China, Indien und Chile in multinationalen Abkommen darin geeinigt, die Laboratorien mit sofortiger Wirkung dicht zu machen, den Verkauf von Organen einzustellen und den Wesen, die bis zu diesem Zeitpunkt erschaffen worden waren, die nötige Behandlung zukommen zu lassen, die Lebewesen nach Auffassung der weltweiten Bevölkerung nun einmal zustand. Glücklicherweise war ihre Zahl zu diesem Zeitpunkt noch überschaubar – etliche hundert in Chile, einige tausend bis zehntausend in Indien und China. Man versprach, sich nach „üblichen Vorgehensweisen“ um sie zu kümmern. Was dies beinhaltete, wurde jedoch nicht verraten. Und zur Schande der Staatengemeinschaft wagte auch niemand, hier genauer nachzuhaken.

Australien weigerte sich, seine Laboratorien zu schließen und die Programme gänzlich zu beenden. Nach ihrer Auffassung hatten die Wesen nach ihrer Erschaffung ein Anrecht auf Basis-Bürgerrechte, liefe die Erschaffung neuer Wesen nur auf niedriger Stufe weiter, damit das neue „Volk“ eine ausreichende Zahl erreichen könne, um im nahezu unbesiedelten Kernland eine eigene Kolonie gründen zu können – fernab von menschlichen Einflüssen. Die USA und Großbritannien stimmten dieser Maßnahme unter der Bedingung zu, dass alle Humanoiden genau registriert, diese Region im Herzen Australiens genau überwacht und der Bestand beobachtet werden sollte. Der Rest der EU und Russland dagegen hatten herbe Zweifel, entsandten jedoch ihrerseits neutrale Beobachter, die die Vorgänge in Australien im Auge behalten sollten.

Dann wurde es für einige Zeit still um die Humanoiden. Hier und da erschienen zwar Nachrichtenartikel und hin und wieder hörte und sah man Bilder von einzelnen, die in der einen oder anderen größeren Stadt auftauchten und dort wie Exoten, die eine ansteckende Krankheit in sich trugen, von den Menschen strikt isoliert behandelt wurden. Für die meisten Menschen waren sie noch immer hauptsächlich Tiere, die zwar auf zwei Beinen liefen und angefangen hatten, ebenfalls Kleidung zu tragen, aber das kannte man ja schon von schrulligen Tierhaltern mit ihren Hunden oder Katzen. Das alles änderte sich erst schlagartig, als im Jahre 2005 ein Video auf der noch recht jungen Videoplattform YouTube auftauchte, in dem man einen dieser Humanoiden auf der Straße knien sah. Deutlich sah man, wie er schwer verletzt auf dem Boden hockte, den Kopf in Richtung zweier Menschen reckte, hörte ihn in akzentfreien Mandarin sprechen, bettelnd, man möge ihn doch in Ruhe lassen. Zwei Menschen kamen ins Bild, begannen auf ihn einzuschlagen und einzutreten. Blut spritzte und das Wimmern endete erst, als der Körper unter den gnadenlosen Schlägen leblos zusammensackte, die Männer etwas von „Scheißtier“ brüllten und sich für den Sieg über dieses Vieh feierten.

Binnen weniger Stunden hatte das Video Millionen von Ansichten. Die Wirkung indes war weltweites Entsetzen. Dieses Wesen hatte so menschlich gewirkt, so hilflos, die Menschen dagegen so bestialisch und böse. Protestbewegungen schossen weltweit aus dem Boden, verlangten nach Gerechtigkeit für die Humanoiden, deren Zahl bis zu diesem Tag öffentlich gar nicht bekannt geworden war. In den Wochen nach dem Erscheinen des Videos explodierte das Internet geradezu vor Vorwürfen, Emotionen, Diskussionen und Vorschlägen. Die einen betrachteten Humanoide immer noch bestenfalls als Zuchttiere, bessere Haustiere, andere dagegen wollten ihnen die gleichen Rechte zugestehen, wie sie auch Menschen zustanden. Am Ende und nach endlosen internationalen Diskussionen wurde im Rahmen eines Kongresses der Vereinten Nationen beschlossen, im Rahmen einer Konvention den Humanoiden eine Reihe von Basis-Rechten zuzugestehen. Kritiker bezeichneten diese Bezeichnung und Auflistung der Basis-Rechte als einen mittleren Skandal, denn diese Konvention erklärte sie zu nicht weniger als Bürgern zweiter Klasse. Zwar waren ihre Leben und ihre Gesundheit nun im besonderen Maße geschützt, doch viel konkreter wurde man nicht. Weder wurden freie Entfaltung, freie Meinung oder derlei zugestanden, noch Dinge wie Sklaverei, Eigentum oder ähnliches explizit ausgeschlossen. Realistisch betrachtet musste man sich aber eingestehen, dass es der Maximal-Kompromiss war, über dessen Grenzen man international nicht zu kommen in der Lage war. Vieles blieb weiterhin Auslegungssache für die unterschiedlichen Nationen auf der Welt.

Mittlerweile haben viele Regeln in nationale und regionale Gesetze Einzug gehalten. Humanoide sind zwar noch immer eine relative Seltenheit – ihre Zahl weltweit ist im mittleren, fünfstelligen Bereich, von denen nur einige Dutzend Kinder oder Kleinkinder aus mehr oder minder glücklichen Partnerschaften hervorgegangen sind (Hochzeiten oder ähnliche Lebenspartnerschaften unter Humanoiden sind offiziell noch immer nicht erlaubt. Beziehungen zwischen Menschen und Humanoiden sogar explizit verboten und unter Strafe gestellt) – aber in Ballungsgebieten oder einigen wenigen Safe-Harbours sieht man hin und wieder einige. Einem ausgewählten Teil von ihnen ist es sogar erlaubt, Arbeit aufzunehmen. Hier regelt jedoch das Gesetz, dass ein Arbeitgeber einem Humanoiden keinesfalls den selben Lohn zahlen darf, den andernfalls ein Mensch bekommen hätte – und das er nur eine gewisse Höchstquote an Humanoiden beschäftigen darf. Umgekehrt gibt es Sozialisierungsprogramme, mit denen in einigen Ländern Humanoide in die Gesellschaft integriert werden sollen. Der Erfolg eben jener Programme ist jedoch begrenzt – selbst fast zwei Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen auf der Erdoberfläche gibt es in den Köpfen der Menschen noch viele Vorbehalte.

Viele dieser Vorbehalte sollen durch Gesetze in den Griff gebracht werden. So ist es Humanoiden beispielsweise untersagt, sich unbekleidet zu zeigen (und ja, das schließt auch Schwimmbäder mit ein, so man eines findet, in dem einem Humanoiden der Zutritt gewährt wird – was eher die Seltenheit ist), was Gerüchten zufolge auf die Lobbyarbeit einiger Bekleidungshersteller zurückgeht, die nun neben ihrem normalen Kleidungsprogramm auch angepasste Kleidung für Humanoide und deren leicht andere Physiologie anbietet – zu einem nicht gerade unbeträchtlichen, geldlichen Aufschlag, versteht sich. Je nach Region gibt es noch weitere Sondergesetze, die es etwa Humanoiden untersagt, Kraftfahrzeuge zu benutzen (weder als Fahrer, noch als Mitfahrer), eine Registrierungspflicht erzwingt und gerade in Ballungsgebieten vorschreibt, dass jene Registrierung offen und für jeden sichtbar getragen werden muss.

Man sieht: Zwanzig Jahre sind vergangen, doch ihr Schicksal haben die wenigsten Humanoiden in eigenen Händen. In den Augen eines unabhängigen Betrachters sind sie so nicht viel anderes als moderne Sklaven für die Menschheit. Einziger Unterschied: Diese Sklaven tragen keine Ketten. Zumindest keine, die man auf den ersten Blick als solche erkennen könnte.

Published inKurzgeschichten

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