„4. Dezember 2022. Rund 31.522 Humanoide leben mittlerweile auf der Erde. Jedes Jahr kommen einige hundert dazu, aber die genauen Zahlen kann niemand wirklich abschätzen – dafür operieren viel zu viele Labors inoffiziell, sind mittlerweile Projekte von staatlichen oder privaten Militärs als vertraulich eingestuft und unzugänglich.“ beginnt Maya ihren Eintrag.
„Im Rahmen meines medizinischen Hilfsangebots für Humanoide habe ich in den vergangenen fünf Jahren genau zweihunderteinundsiebzig Patienten behandelt. Während Erkrankungen bezüglich Ernährung, Infektionserkrankungen, Zahn- oder Krallenverletzungen den Großteil ausmachten und mit üblichen Behandlungsmethoden leicht zu versorgen waren – obwohl die Medikamentenverträglichkeit eine echte Herausforderung darstellt – sticht ein Krankheitsbild statistisch signifikant hervor: 43 der 271 Patienten (16% aller Fälle) litten an Verletzungen von entweder einem oder beiden Sprunggelenken. Bei 38 von 43 Fällen lag hierbei ein Bänderriss eines Sprunggelenks vor, 2 von 43 Fällen hatten Risse in beiden Sprunggelenken und 3 wiesen lediglich schwere Überdehnungen, begleitet mit heftigen Schmerzen, auf. In allen 43 Fällen wurde eine Behandlung mittels Ruhigstellung und Schienung des betroffenen Gelenks sowie passenden Gehhilfen gearbeitet.
Signifikant auffällig ist, dass 41 von 43 Patienten auch nach Abschluss der Behandlung weiter über Probleme klagten und bei den 40, die sich einen Riss in mindestens einem der Sprunggelenke zugezogen hatten, auch nach 6 Monaten erneute Verletzungen einstellten.
Meine Untersuchungen bezüglich dieser signifikant hohen Häufung dieses Krankheitsbildes sowie der offenbaren Dauerhaftigkeit haben mich zu weiterer Recherche veranlasst. Hierzu habe ich meine Kontakte im medizinischen Bereich genutzt und angefragt, ob meine Kollegen ähnliche Erkenntnisse gesammelt haben. Zwar habe ich hierbei nicht von allen Rückantwort erhalten, jedoch ergab das Feedback, dass international rund 2.000 Humanoide – nahezu 10% unserer Gesamtzahl – mindestens einmal mit einem derartigen Krankheitsbild aufgefallen ist. In mindestens 1.800 Fällen war dies sogar ein sich wiederholendes Krankheitsbild, das mit den üblichen Behandlungsmethoden nicht abgestellt werden konnte. Daher habe ich mich dazu entschlossen, eine detaillierte Untersuchung zu beginnen, um die Ursachen, den Krankheitsverlauf sowie mögliche Therapien zu erarbeiten.“
Maya lehnte sich zurück, blickte auf den Bildschirm vor sich und seufzte leise. Die Zahlen, die sie in ihrem Eintrag, der Basis ihrer Untersuchungs- und hoffentlich einmal Behandlungsdokumentation werden sollte, niedergeschrieben hatte, waren bereits jetzt viel zu konservativ und zu gering geschätzt. Laut den Aussagen ihrer Kollegen hieß es, dass mindestens jeder vierte Humanoide während seiner Existenz mindestens einmal eine solche Verletzung erlitt, die aber aus Gründen, die sie nicht verstand, nicht korrekt verheilte, zu einem dauerhaften Leiden führte. Keiner ihrer Kollegen hatte die Ressourcen, das näher zu untersuchen – und die meisten Menschen kein Interesse, Humanoide mit derartigen Verletzungen ordentlich zu therapieren. Schließlich kostete alles Geld – und auf lange Sicht war es wahrscheinlich günstiger, einfach einen neuen, aktuelleren Humanoiden im Genlabor zu züchten, der den „kaputten“ ersetzte. Für mehr war das Leben eines Humanoiden in den Augen der meisten nicht wert.
So lag es also an ihr, dem Rätsel auf die Schliche zu kommen, auch wenn das, was sie dafür tun musste, ihrem Gewissen viel abverlangte. Zwar hatte sie schon Dutzende Patienten mit derartigen Verletzungen untersucht, aber sie hatte weder Informationen über die Methodik der Verletzung, das Alter der Verletzung erhalten, den Heilungsverlauf nie vollständig beobachten können und auch keinen Einblick gehabt, ob ihre Patienten wirklich alles machten, was sie ihnen sagte. Sie hatte auch nie die Mittel gehabt, wirklich alle so ausführlich behandeln zu können. Das alles hatte sich geändert, als sie vor einigen Wochen Blanche erworben hatte.
Die nahezu strahlend weiße, fast blinde Leoparden-Humanoidin sollte eigentlich an einen Medimantenhersteller veräußert werden, um bei diesem als Versuchskaninchen für etliche Wirkstoffe langsam, aber ziemlich sicher vergiftet und dann irgendwann „entsorgt“ zu werden. Maya hatte sie noch im letzten Moment durch einen Kontakt in eben dieser Firma selbst abkaufen können. Zwar war die Summe – es waren immer noch gute 15.000 Euro gewesen – deutlich höher, als Blanche wahrscheinlich wert gewesen war, doch was war schon das Leben eines Humanoiden im Vergleich zu Geld?
Natürlich hatte Maya sofort versucht, die Augen von Blanche so weit zu behandeln, dass die Leopardin diese wieder normal verwenden könnte, doch die Schäden waren genetisch und so umfassend, dass nicht viel zu machen war, außer ihr eine entsprechend große Brille zu geben und sie in ihrem Tempo – nämlich entsprechend langsam und vorsichtig – machen zu lassen. Und auch wenn sie nicht die klügste war, schien sie doch über die Chance, zu leben und diesem noch einen Sinn zu geben, mehr als glücklich. Umso mehr nagte das Gewissen an Maya, während sie durchdachte, was sie dieser eh schon geplagten Seele antun würde. Zu gern hätte sie einen anderen Weg gewählt, aber alle Alternativen waren bereits ausgereizt. Ihr blieb so nur, das Bestmögliche aus der Lage zu machen und sich selbst sowie Blanche zu versprechen, eine schnelle und dauerhafte Lösung für dieses so weit verbreitete Krankheitsbild zu finden.
Es war bereits spät am Abend, als Maya mit Blanche zusammen in die Klinik fuhr. Im Klinikum hatte bereits die Nachtschicht übernommen, waren die Patienten auf ihren Zimmern, die letzten Besucher schon lange nach Hause gegangen, die Etage mit den Diagnostik- und Behandlungszimmern leer und auch die OPs waren nicht mehr in Benutzung. Maya hatte sich diese Zeit genau deswegen ausgesucht, führte Blanche mit einer Hand hinter sich durch die abgedunkelten Gänge. Die Jaguardame trug ihre Arbeitskleidung – als eine der Chefärztinnen hatte sie auch um diese Uhrzeit problemlos Zutritt zur Diagnostikabteilung des Klinikums – und betrat mit ihrer Begleitung gemeinsam das erste Diagnosezimmer.
„Zieh bitte einmal die Schuhe und Hose aus und leg dich dann dorthin.“ sagte Maya und deutete auf eine Liege vor einem großen Konstrukt. Blanche tat, wie ihre Chefin und Freundin zugleich ihr auftrug, zog die Klettverschlüsse ihrer Stoffschuhe auf, löste den Gürtel und ließ erst die Schuhe, dann die Hose auf den Boden sinken, setzte sich dann auf die grünliche Liege.
Maya trat neben sie, richtete die Leopardin aus, schob sie etwas hin und her und legte ihr dann einige Gurte um das linke Bein. „Jetzt bitte nicht mehr bewegen.“ sagte sie noch, ehe sie hinter eine Wand verschwand, einen USB-Stick aus der Tasche zog und in die Bedientafel vor sich einsteckte. Ihre Finger flogen nur so über die Tasten.
„Maximale Auflösung, alle Seiten, dreidimensional, so viele Schichten, wie das Gerät hergibt.“ murmelte sie, als im anderen Raum ein Surren erhallte. Wenige Augenblicke später tauchte auf dem Bildschirm eine dreidimensionale Darstellung von Blanches linkem Fuß auf, den Knochen, schichtweise noch die Bänder, Sehnen, Muskeln, hinauf bis zur Haut, herab bis zu der genauen Knochenzusammensetzung. Das hochmoderne, multimillionen Euro teure MRT neuester Bauart berechnete sogar die Knochendichte und -zusammensetzung, plottete diese zusammen mit Ansichten von allen Seiten auf den Speicherstick. Nach ein paar Minuten war der Krach auch wieder verebbt, trat Maya wieder an Blanche heran, die noch immer regungslos auf der Pritsche lag.
„Gut gemacht. Jetzt komm bitte nach nebenan.“ sagte Maya, half der Leopardin auf, öffnete eine Verbindungstür zu einem Raum mit einer ähnlich beeindruckenden Maschine. Wieder wurde Blanche auf eine Liege gelegt, ausgerichtet und mit einigen Haltegurten fixiert, wieder verschwand Maya hinter einer Wand und bediente die Tafel, die nun einem CT gehörte, machte auch hiermit so detaillierte Aufnahmen von Blanches linkem Fuß und Bein, dass selbst die feinsten Knochenstrukturen auf dem USB-Stick landeten.
Als sie auch in diesem Raum fertig waren, betraten die beiden noch den dritten Raum, in dem lediglich eine Pritsche und ein Diagnostikwagen standen. Zum dritten Mal an diesem Abend bat Maya ihre Begleiterin, Platz zu nehmen und sich hinzulegen. Doch anstatt diesmal zu verschwinden, nahm Maya den Sensorkopf des Ultraschalls vom Diagnostikwagen, drückte einige Köpfe und führte den Kopf mit etwas Druck an Blanches linken Fuß. Millimeter für Millimeter umkreiste sie diesen mit dem Sensorkopf, ließ das Ultraschall jeden noch so kleinen Bereich haargenau abtasten. Dann, als alle Aufnahmen auf ihrem USB-Stick gespeichert waren, reichte sie der Leopardin wieder ihre Hose und Schuhe, nickte ihr zu. „Ich habe alles. Zieh dich ruhig wieder an.“
Während Blanche sich ihre Hose wieder überstreifte, in die Schuhe schlüpfte und die Klettverschlüsse festzog, griff Maya in den Medikamentenschrank, nahm zwei Spritzen sowie ein kleines Fläschchen heraus, steckte sich beides in ihren Arztkittel. Dann verließen die beiden die Klinik, stiegen erneut ins Auto und fuhren heim.
Zu Hause angekommen parkte Maya den Wagen in der Nähe an der Straße, half Blanche aus dem Wagen und führte sie den Gehweg in Richtung des Apartmentgebäudes, in dem ihre Penthousewohnung lag. Direkt vor der Eingangstür schließlich stoppte sie die Leopardin und stellte sich vor sie.
„Du musst mir jetzt einmal ganz kurz helfen. Es geht ganz schnell, versprochen.“ sagte sie mit leicht zittriger Stimme.
Blanche lächelte, legte eine Hand auf Mayas Schulter. „Hab keine Angst. Du hast mein Leben gerettet. Alles, was du willst. Also, was soll ich tun?“
Maya schluckte, drückte Blanche kurz, hob ihr dann die Brille von der Nase. „Mach bitte die Augen zu und lass sie zu, bis ich etwas anderes sage. Und dann heb dein rechtes Bein hoch.
Blanche tat, wie ihr gesagt, schloß die Augen, hob ihr rechtes Bein. Sie schwankte, aber Maya ergriff sofort ihre rechte Hand und half ihr, auf nur einem Bein zu balancieren. Dann schob sie sie leicht in Richtung Apartmentgebäude.
„Auf dem linken Bein vorwärts hüpfen. Ich halte dich fest, keine Sorge.“ sagte Maya. Blanche gehorchte, hüpfte langsam in Richtung Eingang, ohne zu sehen, wohin. Maya jedoch lenkte sie bewusst etwas zu weit links, dicht an den Rand des Weges und zu dem mit Rasen bewachsenen Beet heran. Einen Augenblick plagten sie noch Gewissensbisse, ob sie das, was sie vorhatte, wirklich durchziehen sollte, doch dann mischte sich das Rationale in ihrem Kopf ein, bedrängte sie mit der Tatsache, dass das, was sie lernen konnte, nicht nur Blanche, sondern tausenden anderer helfen würde. Und bei ihrem schlechten Augenlicht war es sicher auch nur eine Frage der Zeit, ehe es von allein geschah. Dann aber ohne die Chance, es unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen und vielleicht zu heilen.
Mit dem nächsten Hüpfer von Blanche war die Überlegung so oder so vom Tisch. Die Sohle des weißen Stoffturnschuhs, landete nur zu einem Drittel auf dem gepflasterten Weg, die übrige Sohle dagegen hing einige Zentimeter darüber in der Luft über dem mit Gras bewachsenen Beet neben dem Weg. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe ihr gesamtes Köpergewicht den Fuß erst leicht zur Seite kippen ließ, die äußerste Kante ihres Fußes schließlich in den weichen Erdboden drückte. Maya hörte ein heftiges Knacken und sah, wie Blanches linker Fuß schließlich vollends zur Seite umknickte, die Leopardin die Augen aufriß und zur Seite stürzte. Im nächsten Moment lag sie schon da im Beet, das linke Bein an sich herangezogen und die Hände um ihren linken Knöchel geschlossen. Aus ihrem Mund drang ein leiser, aber klar als solcher erkennbarer Schmerzensschrei.
Maya reagierte schnell, griff in die Tasche ihres Kittels, holte eine der Spritzen sowie das Fläschchen heraus, zog die Spritze damit auf, krempelte schnell Blanches linkes Hosenbein hoch und drückte die Spritze in ihre linke Wade.
„Was…hast du getan?!“ flüsterte Blanche zwischen ihren Zähnen hindurch.
„Es tut mir leid. Aber das ist der einzige Weg, wie ich eine Behandlung herausfinden kann. Das hier ist ein starkes Schmerzmittel. Du solltest gleich nichts mehr fühlen. Jetzt komm, ich helf dir hoch. Ich muss dich oben untersuchen.“
Vorsichtig half Maya Blanche nach oben, trug die Leopardin trotz der Tatsache, dass diese größer war als sie, fast in den Aufzug und legte sie oben dann auf der Couch ab. Oben verabreichte Maya ihr noch ein leichtes Schlafmittel, entfernte Schuhe und Hose und verbrachte die Nacht damit, stündlich die Entwicklung von Blanches linkem Knöchel zu beobachten, Messungen mit Maßband, Thermometer und Stethoskop durchzuführen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass das Schmerzmittel in Blanches Körper so hoch war, dass sie von alledem nichts spürte.
Zwei Tage dauerte es, bis die Schwellung so weit nachgelassen hatte, dass Maya Blanche erneut abends ins Krankenhaus schmuggeln und darin mit ihr die drei Diagnostikschritte durchlaufen konnte. Bereits das MRT zeigte, dass Blanche sich einen Außenbandriss aller drei Bänder zugezogen hatte. Auch sah Maya, dass Blanche mit dem Fuß nicht auftreten konnte, fühlte, wie das Gelenk deutlich lockerer als zuvor war. Wieder speicherte sie alles auf einem USB-Stick. Am nächsten Tag begann sie dann, unterschiedliche Stützbandagen und Orthesen an Blanche auszuprobieren. Hier begann sie zuerst mit jenen, die sie schon so vielen anderen Humanoiden unterschiedlichster Rassen angelegt hatte, ließ Blanche diese bei unterschiedlichsten Bewegungen und Belastungen ausprobieren. Mäßig begeistert versuchte sie schließlich die gesamte Kollektion der Bandagen, Schienen und Orthesen, die in der Klinik sonst für menschliche Patienten angewendet wurden. Zu ihrer Überraschung waren die, die beim Menschen am wirkungsvollsten waren, bei Blanche nahezu wirkungslos, zwei andere dagegen durchaus vielversprechend.
Zweimal in der Woche fuhren die beiden abends in die Klinik, führte Maya ihre Untersuchungen durch, verfolgte den Heilungsverlauf detailliert. Nach sechs Wochen schließlich zeigten sowohl das MRT wie auch der Ultraschall, dass die Bänder wieder vollständig zusammengewachsen und ihre ursprüngliche Festigkeit erreicht hatten. Eine weitere, detaillierte Aufnahme, dann nahm Maya die Schiene, die sie in der Zwischenzeit mit ihrem 3D-Drucker so modifiziert hatte, dass sie Blanches Gelenk ideal stützte, ab.
„Jetzt geh bitte ohne das Ding hier einige Schritte.“ sagte Maya und deutete auf den Klinikflur. Perfekt glatter, flacher Boden. Eigentlich ideal.
Blanche tat, wie Maya ihr aufgetragen, schritt den Gang entlang, ohne dass sie dabei ein Problem zu haben schien.
„Gut. Jetzt werd schneller, dann bleib stehen und dreh dich zu mir um. Dann lauf zurück.“
Blanche gehorchte, ihr Schritt ging in eine leicht joggende Bewegung über. Dann stoppte sie, drehte sich im Uhrzeigersinn in Richtung Maya und wollte wieder lossprinten. In genau diesem Moment sah Maya, wie Blanches linker Fuß nachgab und zur Seite wegknickte, diese im nächsten Augenblick wieder auf den Boden klatschte und sich mit den Händen an den linken Knöchel griff.
Maya biß auf die Zähne. Einerseits freute sie sich, weil sie damit genau die Symptomatik, die sie so oft von ihren Patienten gehört hatte, nachgestellt und nun selbst beobachtet hatte. Umgekehrt ärgerte sie sich, weil ihr nicht verstand, was denn nun falsch war.
Unter Schmerzen hievte Maya die Leopardin erneut auf das MRT, ließ den Scan durchlaufen und bestätigen, was sie vermutet hatte: Die Bänder waren wieder gerissen – diesmal einen guten Zentimeter oberhalb des ursprünglichen Risses.
Zurück daheim nahm sie die Aufnahmen von MRT, CT und Ultraschall, legte sie nebeneinander und verglich die Bilder von vor der Verletzung, während der Verletzung, nach der Heilung und nach der erneuten Verletzung miteinander. Sie selbst sah keinen Unterschied, überließ es daher dem Bildanalyseprogramm, die Unterschiede hervorzuheben. Und da die Datenmenge immens war, dauerte es etliche Stunden, ehe sie ein Ergebnis präsentiert bekam.
Es war kurz vor ihrem Dienst, als sie schließlich das Resultat auf ihrem Bildschirm erblickte. Und es war etwas gänzlich anderes, als sie erwartet hatte. Zwar zeigte die Bildauswertung eine Veränderung des Verlaufs der Bänder – was aufgrund der Vernarbung zu erwarten war – doch noch viel auffälliger war, dass an der Innenseite des Schienbeinknochens offenbar etwas fehlte.
Sie holte das Bildmaterial von vor der Verletzung hervor, drehte die 3D-Ansicht und vergrößerte die Ansicht. Tatsächlich erblickte sie eine winzige Knochennase an der Innenseite des Schienbeinknochens, knapp oberhalb des Sprunggelenks, nicht größer als eine Erbse und wie ein Stachel aus dem Knochen hervorstehend. Auf den späteren Aufnahmen dagegen fehlte genau diese Knochennase, war der Knochen an dieser Stelle perfekt glatt und gleichförmig – ganz so, als wäre das der Normalzustand.
Maya zog ihre eigene Stiefelette herunter und betastete die Innenseite ihres linken Sprunggelenks. Es dauerte einen Augenblick, aber dann, mit genauem Ertasten, konnte sie die Knochennase nach etwas Druck an der richtigen Stelle selbst auch erfühlen. Langsam und vorsichtig verdrehte und verbog sie ihren eigenen, linken Fuß und merkte, dass der Knochen ab einer gewissen Position etwas zu berühren oder wegzudrücken schien.
Mit diesem Wissen sprang sie auf, lief zu Blanche herüber, die wieder auf dem Sofa lag, den linken Fuß auf einigen Kissen liegend, während die Schmerzmittel und ein leichtes Schlafmittel sie schlummern ließen. Rasch zog Maya den Stützverband herunter, tastete an der entsprechenden Stelle an der Innenseite von Blanches linkem Fuß und fühlte…nichts. Dann drehte sie den Fuß, wie sie ihren eigenen zuvor gedreht hatte und fühlte, wie an der Stelle etwas Weiches nach außen rutschte, spürte, wie das Sprunggelenk unnatürlich locker war und gut einen oder zwei Zentimeter zu weit nach innen glitt. Dann nickte sie, mehr oder minder zufrieden.
Sie hatte die Ursache für die fortwährende Instabilität im humanoiden Sprunggelenk gefunden. Und die Symptomatik war einer Verletzung, die beim Menschen äußerst selten auftrat, sogar ähnlich: Läsion im Bereich des oberen Taluskörpers mit Abstreifung. Weniger als 1% dieser Fälle waren bei Menschen, die sich eine Talusfraktur zuzogen, dokumentiert. Und die wiederum waren selbst recht selten. Bei Humanoiden aber, die eine andere Physiologie aufwiesen, schien eine Bänderverletzung des Sprunggelenks nahezu immer mit genau so einer Verletzung einher zu gehen.
So leicht, wie die Diagnose war, so ernüchtert war Maya, als sie die Therapieoptionen betrachtete. Die Tatsache, dass dieses Stück Knochen einfach abgestreift und vom Körper überraschend schnell zersetzt worden war, machte eine einfache Behandlung nahezu unmöglich. Von den Aufnahmen trotz Ruhigstellung sah sie zudem, dass die fehlende Knochenmasse nicht neu gebildet wurde. So blieb nur, eine Prothese anzufertigen. Ohne ein Vorher-Bild, wie diese Knochennut aussah, war eine dauerhafte, innere Reparatur nahezu unmöglich – und wenn, dann sicher auch ziemlich kostspielig. Allerdings, da sie nun die Position und Funktionsweise kannte, konnte sie mittels einer speziellen Bandage mit passendem Inlay, das genau an der richtigen Stelle den nötigen Druck aufbrachte, die Funktion zu imitieren versuchen.
Nach weiteren sechs Wochen, die sie Blanche gab, bis die Bänder wieder verheilt waren, unternahm sie einen neuen Versuch, fertigte ein entsprechendes Inlay in ihrem 3D-Drucker an, platzierte es mittels einer flexiblen, aber gleichzeitig ausreichend festen Bandage an genau der richtigen Stelle, zog Blanche eine atmungsaktive Stützbandage darüber. Dann nickte sie ihr zu.
„Steh jetzt bitte einmal auf und lauf ein Stück.“
Blanche tat, wie ihr gesagt. Erneut wurde sie schneller, stoppte sie, machte sie Richtungswechsel. Diesmal aber knickte ihr Fuß nicht um, schien sie auch keine Schmerzen oder sonstigen Probleme zu haben. Im Gegenteil verhielt sie sich so, als wäre ihr Fuß nie verletzt gewesen, blickte Maya fragend und glücklich zugleich an.
Noch am selben Tag setzte sich Maya an ihren unfertigen Bericht, fügte die Aufnahmen von Blanche mit passenden Markierungen und Dokumentationen, die 3D-Slicer-Muster und viel Prosa hinzu, ehe sie ihre Ergebnisse an einen Kollegen in Australien weiterleitete. Zu ihrem Glück fragte niemand nach, wie genau sie an diese Ergebnisse gekommen war, wer ihr Patient war und weshalb die Analysen so umfangreich und detailliert vorgenommen werden konnten. Stattdessen wurde kurz darauf bestätigt, dass die Inlays nicht nur Blanche, sondern offenkundig vielen anderen Humanoiden ebenfalls halfen. Und ehe sich Maya versah, hatte das Krankheitsbild bereits ihren Namen: Das Raji-Humanoiden-Syndrom. Die Tatsache, dass es zudem so relativ simpel zu behandeln war, machte es schnell populär, während andere ihrer Kollegen daran ansetzten, statt einer von außen wirkenden Prothese eine tatsächlich operative Heilung zu erarbeiten.
Maya indes versprach Blanche, dass sie alles tun würde, genau diese Therapie bei ihr durchzuführen, sobald sie sich als dauerhafte Lösung erweisen sollte. Das war sie ihrer Assistentin, die die Bedeutung ihres Opfers schließlich verstand, absolut schuldig.
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