In den vorangegangenen Abschnitten habe ich ausführlich die Nachteile der unterschiedlichen Extreme und Varianten, die es durchaus alle gibt und die auch sehr häufig vorkommen, erläutert. Doch nun wollen wir uns einmal ansehen, was einen GUTEN Charakter ausmacht.
Der ERSTE Schritt zu einem Charakter, der wirklich GUT ist (und mit „gut“ meine ich, dass er gut für einen selbst und auch gut für die anderen ist), ist eine Idee im Hinterkopf. Diese Idee muss nicht einmal von einem selbst stammen, muss nicht vollkommen kreativ und toll sein – es ist vollkommen ausreichend, wenn man sich einen Charakter ansieht, den man schön findet, eine Person, eine historische oder sonst irgendeine Gestalt aus Literatur, Film und Fernsehen. Diese Gestalt ist in diesem Moment erst einmal nichts anderes als die Hülle, die Basis, auf der wir alles aufbauen. Idealerweise bestimmen wir hier schon, ob es ein grundsätzlich guter oder ein böser Charakter sein soll, welche herausragende Stärke, welches besondere Talent er besitzen soll.
Wenn wir das haben, kommen wir zum kleinsten, aber wahrscheinlich wichtigsten Punkt: Dem Umfeld des Charakters, dem Setting. Dieses hat starken Einfluss darauf, wie der Charakter aussieht, welche Möglichkeiten er hat, was normal, was unnormal ist und fügt dem ganzen eine gewisse Logik hinzu. In einem Science Fiction-Setting sind mechanische Prothesen normal, in einem Mittelaltersetting dagegen eher ungewöhnlich bzw. deplatziert, ein Fantasysetting und die Postapokalypse unterscheiden sich auch entsprechend.
Die weiteren Feinheiten und das Grundsätzliche, das „Fleisch“ an den Charakter gibt, kann man mit den 20 klassischen Charakterfragen, die man für sich und genau diesen Charakter beantworten sollte, abstecken:
- Wie sieht dein Charakter aus?
- Wie wirkt dein Charakter auf Fremde?
- Wie ist dein Held aufgewachsen?
- Hat dein Charakter noch eine enge Bindung zu Menschen/Nichtmenschen/anderen Charakteren aus seiner Jugend?
- Warum ist dein Charakter zum Abenteurer/Helden geworden?
- Wo ist dein Charakter schon gewesen und was hat er erlebt?
- Ist dein Charakter götterfürchtig oder irgendwie religiös?
- Wie steht dein Charakter zur Zauberei?
- Für wen oder was würde dein Charakter sein Leben riskieren?
- Was ist der größte Wunsch deines Charakters?
- Was fürchtet dein Charakter mehr als alles andere auf der Welt?
- Wie sieht es mit seiner Moral und seiner Gesetzestreue aus?
- Ist er Fremden gegenüber aufgeschlossen?
- Welchen Stellenwert hat Leben für ihn?
- Wie steht dein Charakter zu Tieren und anderen niederen Lebewesen?
- Hat dein Charakter einen Sinn für Schönheit?
- Was isst und trinkt dein Charakter am liebsten?
- Wie sieht es mit der Liebe aus?
- Gibt es ein dunkles Geheimnis aus seiner Vergangenheit?
- Welche Charakterzüge bestimmen ihn?
Wenn man diese Fragen alle für sich beantwortet hat – es müssen am Anfang nicht alle sein, aber einige sollten es schon sein – sollte man ein relativ gutes Bild haben, wie der Charakter auszusehen hat, wie er sich charakterlich verhält. Ab jetzt wäre er schon für vieles „fertig“, doch man kann ihn noch immer verfeinern. Die persönlichen Stärken und Schwächen spielen mit den Antworten der Fragen ebenso wie dem Aussehen eine gemeinsame Rolle. War der Charakter in Kämpfe oder Kriege verwickelt – hat er Verletzungen davon getragen, Traumata, dunkle Erlebnisse, die ihn verändert oder geprägt haben? Hat ihn jemand gerettet und ihm ein wertvolles Kleinod überlassen? Welche besondere Macht hat er gewonnen und woher – und welchen Preis musste er hierfür zahlen? Beherrscht er den Umgang mit Waffen und/oder Werkzeug? Wenn ja – wo hat er es gelernt, wie hieß der Lehrmeister, warum und wie hat er ihn getroffen und was denken bzw. dachten seine Eltern dabei? Hat er noch Eltern (bitte nicht wieder das Motivation-durch-tote-Eltern-Klischee…) und wo leben sie, was waren bzw. sind sie von Beruf?
All das sind Punkte, anhand denen man binnen kürzester Zeit einen Charakter, den man gesehen hat und den man durchaus interessant findet, eine kleine Sub-Geschichte innerhalb einer großen Erzählung aufbauen kann. Will man mehr, muss man mehr recherchieren – die Welt, in der der Charakter existieren soll, kennen, sich andere Charaktere einlesen, bestimmte Ortschaften und Geschehnisse betrachten. Eventuell kann man den eigenen Charakter dann in einem dieser Bereiche, in einem Zeitfenster und einem bestimmten Ort verankern, referenzieren und so Löcher bzw. Lücken in Geschichten anderer ausfüllen, ausschmücken, ergänzen und verfeinern.
Und selbst wenn der Charakter an diesem Punkt bereits schon „rund“ ist und wunderbaren Sinn macht, sollte man stets eines bedenken: Ein Charakter ist selten in Stein gemeißelt. Er lebt – und entwickelt sich weiter. Lernt man neue Dinge, kann man diese auf den Charakter übertragen, sie ergänzen, nachschärfen oder korrigieren. Auch die Hintergrundgeschichte lebt weiter, der Charakter sammelt Erfahrungen, eventuell Narben und Traumata, wächst die Hintergrundgeschichte an. Sie ist in gewisser Weise nur das Samenkorn, das mit der Zeit aufgeht und immer komplexer wird. Auch deswegen ist es wichtig, die 20 Fragen frühzeitig vollständig für sich zu beantworten – denn ganz gleich, in welche Richtung der Charakter sich entwickelt, es sollte konsistent und logisch sein, Abweichungen nur durch einen klar ersichtlichen Grund erlaubt werden.