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Kategorie: Das Leben von Samira

Der Alltag als Humanoider ist alles andere als leicht. Nur etwa 10% haben überhaupt das Glück, sich so etwas wie Bürgerrechte zu erarbeiten. Sie gehört zwar zu jenen 10%, aber bei diesen auch nur zum absoluten Bodensatz – und damit so weit unten, dass man annehmen könnte, dass sie quasi keine Bürgerrechte besitzt. Und beschweren…tja, wenn das ginge und sie dazu die Möglichkeiten hätte….

XI. Einkleidung

„Ich dachte, Humanoide dürfen keinen Führerschein bekommen.“ sagt Samira mit sichtlicher Überraschung, als beide in eine weiße Limousine steigen, Yuki dabei auf den Fahrersitz, den Finger auf den Start-Knopf drückt und der Wagen nahezu geräuschlos losrollt.

„Hier in Deutschland nicht. Aber in Japan hat man ihn mir schon mit sechszehn gegeben. Ich sollte mit den Kindern auch aufs Land und zu den Tempeln fahren können. Und weil man keinen Fahrer gefunden hat, hat man mir Stunden gegeben.“

„Du…bist aus Japan?“

Yuki nickt. „Hai. Aber keine Sorge, ich spreche fließend Deutsch. Und Englisch. Und Russisch. Und Chinesisch, Spanisch, Französisch, Hindi, Malagassi, ein wenig Suaheli sowie noch über zwanzig weitere regionale Dialekte. Aber wir beide fangen erstmal nur mit Deutsch an, oder?“

„In…Ordnung…“ entgegnet Samira, sichtlich beeindruckt. „Wo fahren wir denn…hin?“

„Wie ich schon sagte: Zuerst einmal dir ein paar andere Klamotten besorgen. Etwas, das dir passt und nicht so nass ist. Und nun erzähl doch mal, warum du in so einem – bitte entschuldige, wenn ich es so nenne – Loch lebst, wo du doch schon seit Jahren arbeitest? Du kannst dir doch sicher etwas Besseres leisten als das.“

Samira schüttelt ihren Kopf. „Nein, leider nicht. Ich…ich habe nicht viel Geld..“

‚…dafür aber ziemlich große Schulden.‘ war, was Samira sagen wollte, dann aber nicht gesagt, sondern lediglich derart oberflächlich gedacht hat, dass Yuki es so deutlich hört, als wäre es ausgesprochen worden. Sie nickt nur langsam. „Verstehe. Nun, auch deswegen ist es wichtig, dass du in die Schule gehst und lernst. Nur so kannst du dich weiterentwickeln und einen besseren Job bekommen. Oder willst du ewig Spielball von diesen Machos bei dir in der Werkstatt bleiben?“

Die Reaktion von Samira ist so deutlich, dass es keiner Telepathie bedarf, um sie zu interpretieren. Ihre Gesichtszüge verzerren sich, sie legt ihre Arme um ihre Brust und schluckt trocken. Doch noch ehe sie gänzlich in die Schockstarre, in der sie überzugehen scheint, verfällt, drückt Yuki ein paar Knöpfe am Radio und schaltet mit einem Handgreif einen Sender ein, auf dem gerade ein inbrünstiges Saxophon-Solo spielt, begleitet von sanften Jazz-Klängen.

Binnen weniger Augenblicke sieht Yuki, wie sich ihre Mitfahrerin entspannt, die Augen schließt und den Kopf nach hinten an die Kopfstütze, die ihr leider nur bis zum Nacken reicht, anlehnt.

So vergehen einige Minuten, in denen Yuki bewusst still bleibt und Samira zur Ruhe kommen lässt. Dann, eine gute halbe Stunde und fünf Songs später, dreht sie die Lautstärke etwas herunter und ergreift wieder das Wort.

„Du magst die Menschen nicht, oder?“

Samira behält ihre Augen geschlossen, atmet deutlich hörbar durch die Nase aus. „Du hast Angst vor ihnen, richtig?“

Sie antwortet nicht. Aber die Welle an Gefühlen, die nun richtiggehend durch den Wagen schwappt, ist mehr als genug Antwort.

„Hör mal, nicht alle Menschen sind so schlecht. Ja, es gibt genug Drecksäcke, aber die findest du leider auch in den Reihen von unsereins. Verurteile nicht alle aufgrund dem, was du erlebt hast.“

„Tsk.“ ist alles, was Samira darauf erwidert. Dann legt sie den Kopf zur Seite und blickt durch nur einen Spalt geöffnete Augen hinaus in die vorbeifliegende Landschaft.

„Ich verspreche dir eins: So lange du bei mir bleibst, wird dir kein Mensch auch nur ein Haar krümmen. Du bist ab jetzt meine Schülerin und als Lehrer habe ich die Verantwortung, auf dich aufzupassen.“

„Und wie willst du halbe Portion das machen?“ sagt Samira mit einem kalten, niedergeschlagenen Unterton. „Wo doch selbst ich es nicht geschafft habe…“

„Halbe Portionen sind besonders gefährlich. An denen kann man sich ganz furchtbar verschlucken.“ entgegnet Yuki keck.

Samira reißt ihre Augen auf, blickt schlagartig zu Yuki hinüber, starrt diese an, die den Blick ihrerseits erwidert, aber vollkommen ernst dabei wirkt. Einige Sekunden starren sie sich gegenseitig an. Dann beginnt Yuki mit einem Lächeln, das in ein Kichern übergeht. Ein Kichern, das Samira mehr oder minder ungewollt ansteckend findet und dann, zum ersten Mal seit einer so langen Zeit, dass sie sich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern kann, zu lachen beginnt.

Gut eine halbe Stunde später biegt Yuki mit dem Wagen in ein Parkhaus ein, zieht ein Ticket, fährt auf den nächstbesten Parkplatz und stellt den Wagen dort ab.

„Wo sind wir hier?“ fragt Samira, den Kopf vorstreckend, um etwas zu erkennen. Sie blinzelt mehrmals, versinken die Schatten für sie fast in einem vollkommenen Schwarz, erkennt sie lediglich einige wenige, graue Konturen.

„Kaufhaus. Ich habe dir doch gesagt, dass du ein paar ordentliche Sachen brauchst. Insbesondere etwas Sauberes. Und trockenes.“

„Aber ich…“ beginnt sie als Entgegnung.

„Kein Aber. Jetzt steig aus. Ich zeig dir den Weg.“ drängt Yuki, steigt flugs ihrerseits aus, ist in beachtlichem Tempo schon an der Beifahrertür und hat diese geöffnet, lächelt Samira an. Es braucht nur einen kurzen Blick um zu erkennen, dass Samira Schwierigkeiten damit hat, im Dunkeln etwas zu erkennen. Also greift sie nach der rechten Hand der Tigerdame und zieht sie sanft nach vorn.

„Halt dich einfach an mir fest. Ich bin bei dir, keine Sorge.“

Die weiteren Gänge und das Treppenhaus sind zum Glück gut beleuchtet. Dennoch lässt Yuki die rechte Hand von Samira nicht los, führt sie die Treppen hinab. Große Texttafeln weisen den Weg und erklären, was in welcher Etage zu finden ist. Yuki aber braucht scheinbar keinen davon, geht schnurstracks immer weiter nach unten in Richtung Keller des großen Kaufhauses. Erst als sie ganze drei Stockwerke nach unten gekommen sind und vor einer großen, metallenen Doppeltür ankommen, bleibt Yuki stehen. Links neben der Tür ist eine kleine Theke aufgebaut, darauf eine Kasse und dahinter ein Mann. An seiner Brust hängt ein Namensschild. Er starrt die beiden gelangweilt an.

„Tut mir leid, aber derzeit ist keine Verkäuferin frei. Sie müssen warten.“ murmelt er monoton.

„Das wird nicht nötig sein der Herr. Wir sind nur auf der Suche nach ein paar Kleinigkeiten für meine Freundin hier. Ich werde sie bestmöglich dabei unterstützen. Sie müssen sich keine Umstände machen.“

Der Mann seufzt. Er kennt die Regeln. Aber er will auch nicht unbedingt länger, als irgendwie nötig, mit gleich zwei dieser Viecher in diesem kleinen Foyer warten müssen, ehe sich eine der Verkäuferinnen erbarmt, runter zu kommen. Wofür überhaupt diese dämliche Regel, wo es doch nur diesen einen Eingang gibt und die beiden ihre Einkäufe eh hier von ihm kontrollieren und abrechnen lassen müssen? Und keine von beiden sieht so aus, als hätte sie etwas von hier. Insbesondere nicht dieser orange-rote Riese von einer Humanoiden mit ihren heruntergekommenen Kleidern am Leib, die aussehen, als hätte sie diese aus einem Müllcontainer gezogen.

Er verdreht die Augen. „Also bittesehr, wenn sie meinen. Klopfen sie, wenn sie fertig sind und bezahlen wollen.“

„Haben sie vielen, herzlichen Dank der Herr.“ bedankt sich Yuki mit ihrer gewohnt freundlichen Stimme, als der Mann ihr zur Tür deutet. Mit einem Ruck öffnet sich der eine Flügel des schweren Doppelportals und beide treten ein.

„Au.“ entfleucht Samira mit einem Mal, als sie sich den Kopf an der zu niedrigen Decke stößt.

Yuki blickt nach oben und wie Samira sich mit der linken Hand ihre Stirn reibt, dann leicht gebückt weitergeht. „Oh, bitte entschuldige. Ich habe nicht daran gedacht, dass die Decke für dich zu niedrig sein könnte.“

„Schon in Ordnung.“ murmelt Samira, geht einige Schritte und sieht sich dabei um.

Kleider. Hemden. Hosen. Jacken – sehr feinsäuberlich nach Farbe sortiert, einige dutzend oder hundert verschiedene strahlen aus allen Ecken und Enden. „Ich war noch nie in so…wo…wo bist du…?“

„Hier drüben. Schauen wir doch erst einmal nach einer ordentlichen Hose für dich. Etwas wärmeres als das, was du so hast. Weißt du deine Größe?“

„Ich…ähm…nein, ich glaube nicht…“ stutzt Samira, versucht sich am Geräusch zu orientieren und in Richtung Yuki zu gehen. Doch die Humanoide, die optisch einem Schneeleoparden sehr nahe kommt, verschwindet immer wieder zwischen den Kleiderständern und -regalen, taucht dann Augenblicke später wieder ganz woanders auf.

„Lass mal sehen…“ murmelt Yuki, als sie kurzerhand hinter Samira steht und ihr ein Maßband um die Hüfte schwingt. Samira erschrickt, macht fast einen Satz nach vorn, ehe sie realisiert, dass es doch Yuki ist.

„Oje, ich glaube das schränkt die Auswahl doch ziemlich ein.“ sagt sie und legt eine Hand auf Samiras Bauch. „Aber ich glaube die Übergrößen sind da vorn. Wollen wir doch mal sehen.“

Gerade will Samira etwas sagen, da ist Yuki schon wieder weg. Momente später ruft sie schließlich. „Ja, ich glaube ich hab hier was. Komm mal her.“

Samira blickt in Richtung der Stimme, bahnt sich einen Weg durch drei Reihen Regale. „Hör mal, du musst das nicht tun. Ich…ich kann mir das doch nicht…“

„Tadaa. Die sollte die richtige Größe haben. Ist sogar runtergesetzt, weil sie scheinbar keinem anderen passt. Na komm, probier sie mal an.“ sagt Yuki und hält stolz einen Bügel mit einer schwarzen Cordhose hoch.

„Ich…hier?“ fragt Samira unsicher, aber Yuki deutet nach rechts auf drei große, viereckige Kästen, die vom Boden bis zur Decke reichend hoch stehen und an beiden Enden verschraubt zu sein scheinen.

„Da sind die Umkleiden. Nur zu, probier sie an. Ich schaue derweil, ob ich noch ein oder zwei Oberteile finde. Ach und wenn du in der Umkleidekabine bist, verrat mir doch deine Schuhgröße, ja? Dann schaue ich, was die sonst noch so haben.“

Wieder will Samira protestieren, doch kaum hat Yuki ihr die Hose in die Hand gedrückt, ist sie schon wieder zwischen den Regalen verschwunden. Sie seufzt, geht in Richtung Umkleidekabine, zieht den einen Vorhang zur Seite und lässt sich auf dem darin stehenden, sehr – wirklich SEHR – wackelig aussehenden Hocker nieder. Dann beginnt sie langsam, sich ihrer Schuhe und Hose zu entledigen, die neue Hose anzuprobieren.

Sie hat die Hose gerade halb angezogen, als Yuki ihr drei Oberteile hinein reicht. Eine cremefarbene Bluse, ein dunkelrotes T-Shirt und ein Pullover, ebenfalls dunkelrot, dafür aber mit ein paar schönen Ziernähten an den Ärmeln und am Kragen.

„Versuch mal zumindest die Bluse. Wenn die passt, sollten die anderen Sachen auch passen. Und verrat mir bitte noch deine Schuhgröße.“

Samira nimmt die Sachen entgegen, blickt auf ihre Schuhe. Ein Zettel klebt an der Innenseite der Zunge, darauf Buchstaben- und Zahlensalat, den sie nicht entziffern kann. Also schiebt sie den Schuh kurzerhand unter dem Vorhang hervor.

Der Schuh verschwindet kurzerhand und sie hört, wie Yuki sich auf den Weg macht. Sie hat gerade genug Zeit, um die Hose ordentlich anzuziehen, die Bluse überzustreifen und die Knöpfe zu schließen, als Yuki wieder vor der Kabine steht und ihr eine schwarze Wildlederstiefelette hereinschiebt.

„Das sollte deine Größe sein. Ist leider der einzige in der Größe, der breit genug ist. Alle anderen sind viel zu schlank geschnitten.“

Seufzend nimmt Samira auch die Stiefelette und schlüpft mit dem linken Fuß hinein. Sie spannt etwas an den Seiten, aber passt weitestgehend. Jedenfalls um Welten besser, als ihre Arbeitsschuhe.

„In Ordnung. Und jetzt?“

„Na, lass sehen.“ sagt Yuki, zieht den Vorhang langsam auf, bedeutet Samira, einige Schritte nach draußen zu kommen. Dann legt sie den Kopf schief, umrundet Samira einige Male.

„Hrm…Oben sitzt die Hose gut, aber die Beine sind zu lang. Aber die Bluse sieht wirklich wunderbar an dir aus. Und die Stiefeletten? Wie passen die?“

„Ganz okay…glaube ich.“

„Gut, die sind wenigstens etwas wärmer, wenn es draußen winterlich wird. Sonst holst du dir noch den Tod – und das will keiner. Die Hose kann man ändern lassen. Aber die Bluse lässt du am Besten direkt an. Die sieht um Welten besser aus, als das nasse, schmutzige T-Shirt von dir. Das kommt erstmal in die Wäsche.“

Mit einem Ruck zieht Yuki das Etikett von der Bluse ab, nimmt dann das noch zusammengelegte T-Shirt, den Pullover und das schmutzige, immer noch etwas feuchte T-Shirt, während Samira wieder in der Umkleide verschwindet und in Hose und Turnschuhe zurückwechselt, dann die schwarze Cordhose sowie die Stiefelette anreicht.

Keine fünf Minuten später stehen die beiden wieder an der Tür, klopft Yuki an. Der Verkäufer öffnet die Tür, blickt Samira, die nun in der Bluse steckt, mit tief herabhängenden Mundwinkeln an. „Die hat sie aber vorher nicht getragen!“

„Das ist korrekt der Herr. Hier ist das Etikett – wir haben es vorgezogen, sie direkt in dem besseren Outfit zu belassen. Sie steht ihr, habe ich Recht?“ schreitet Yuki sofort ein, ihr freundliches Lächeln auffahrend, während sie die Hose, T-Shirt, Pullover und Stiefeletten auf die Theke legt und schließlich noch das Etikett der Bluse vor die Augen des Mannes hält.

Der Mann murmelt etwas unverständliches, lässt den Handscanner über das Etikett fahren, blickt kurz auf den Bildschirm und deutet dann ein Nicken an, ehe er zu den anderen Teilen übergeht.

„Bluse, T-Shirt, Pullover, Hose, Stiefel. Macht zusammen eintausendeinhundertzuweiundneunzig Euro. Bar nehme ich an?“

Samira fällt vor Schreck fast das Gesicht nach hinten, als sie die Zahl hört. Sie öffnet ihren Mund, will etwas sagen, aber außer Krächzen kommt da nichts. So steht sie nur da wie ein Fisch auf dem Trockenen, die Augen und den Mund weit aufgerissen, was in ihrem Fall aber wesentlich bedrohlicher wirkt, als bei einem Fisch.

„Karte, wenn ich darf.“ sagt Yuki und zieht eine Kreditkarte aus der Tasche.

Nun ist der Mann sichtlich baff, blickt zuerst auf die Karte, dann auf Yuki, dann nochmal auf die Karte, krächzt etwas von „Ausweis?“, während Yuki kurzerhand einen japanischen Pass mit ihrem Konterfei darauf neben die Kreditkarte legt.

Einige Minuten später steigen die beiden Humanoiden wieder die Treppe hinauf. Samira findet erst wieder die Sprache, als sie am Wagen ankommen und dort ihren Einkauf verstauen. „Wie…wieso hast du….wie…?“ ist jedoch alles, was sie herausbringt.

„Sieh es als eine Art Investition in dich an. Eine Schülerin muss ordentlich angezogen sein. Jedenfalls wird das an der Schule erwartet.“

Samira senkt den Kopf, blickt an sich herab und auf ihre Hose, die noch immer leicht feucht ist, schmutzig und voller Flicken. Noch ehe sie aber aussprechen kann, was sie denkt, legt Yuki ihr eine Hand auf die Schulter.

„Es ist nicht deine Schuld. Mach dir keine Gedanken deswegen. Für den Anfang werden wir beide sowieso die meiste Zeit unter uns sein. Und wenn du erstmal geduscht, die anderen Sachen gewaschen sind und du dich eingelebt hast, sieht die Sache schon ganz anders aus.“

Mit diesen Worten fährt Yuki den Wagen wieder aus dem Parkhaus heraus und in Richtung Schule.

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X. Unfreiwilliger Umzug

Freitag, kurz nach 9 Uhr. Es klopft draußen an der Tür zum Büro. Pietro ist rein zufällig denn absichtlich bereits da, wenn auch erst seit ein paar Minuten, blickt fragend zum Eingang. Die Kunden, die er gewohnt ist, stören sich nicht daran, anzuklopfen. Also reagiert er auch nicht.

Es dauert gut eine Minute, dann klopft es erneut. Diesmal blickt er verwundert zur Tür, schüttelt den Kopf und ruft ein „Ja?“ entgegen.

Die Tür schwingt langsam auf und eine Humanoide tritt herein, blickt ihn mit überschwänglich freundlichen Augen und einem breiten Lächeln an.

„Einen wundervollen guten Morgen. Ich habe doch die Ehre mit Herrn Santoro hoffe ich?“ hallt eine unglaublich freundliche, sanfte Stimme in genau der Lautstärke, die jemand mit einem Kater, der morgens noch keinen Kaffee hatte, angenehm empfinden würde.

Pietro mustert die Humanoide. Nicht sonderlich groß, ein silbernes, extrem langes Fell mit weißen Rändern und vielen, vielen schwarzen Tupfen, silbernem Haar, das kunstvoll zu einem Zopf geflochten ist, einer dunkellilanen Bluse, einer leicht helleren Jacke darüber, cremefarbener Rock, der bis zu ihren Knien reicht und sehr menschlich aussehende, silberne Absatzschuhe – mit der Ausnahme, dass die Absätze an diesen offensichtlich fehlen. Er braucht keine Sekunde um festzustellen: Wer auch immer diese Humanoide war, sie musste Geld haben. Und die Tatsache, dass er nirgends einen Code-Reifen erspähen konnte, verriet ihm, dass sie auch niemandem gehörte, es wirklich ihr EIGENES Geld sein musste, von dem sie sich dieses Outfit gekauft hatte.

„Ähm…ja. Was möchten sie? Wollen sie ihren Wagen…?“

Die Humanoide kichert leise und macht dabei einen kleinen Schritt in seine Richtung, ehe sie den Kopf senkt und eine Verneigung andeutet. „Yuki Takadanobaba, von der International School Germany, ich bin erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin gekommen, um meine Schülerin abzuholen. Sie ist bereits reisefertig nehme ich an?“

Schülerin? International School Germany? Die? Pietro starrt sie sichtlich baff und fragend an. Aber anstatt ihn auf diese Planlosigkeit anzusprechen oder ihn gar vorzuführen, blickt Yuki ihn noch immer freundlich lächelnd an und nickt.

„Darf ich fragen, wo sie sich derzeit befindet? Dann kläre ich alles Weitere direkt mit ihr und behellige sie nicht bei ihrer Arbeit.“

Pietro deutet, mehr automatisch, als wirklich bewusst, mit der linken Hand in Richtung Tür zur Werkstatthallte. „Hintere Bühne, glaube ich.“

Erneut deutet Yuki eine Verbeugung an. „Haben sie vielen herzlichen Dank, Santoro-Sama.“ Dann tritt sie zur angedeuteten Tür, schiebt diese auf und betritt die Werkstatt. Die Blicke der Gesellen ignoriert sie vollends, lenkt ihre Schritte stattdessen auf die Hebebühne am Ende der Werkstatt, die tatsächlich zur Hälfte hochgefahren ist, während eine Gestalt sich darunter gerade an der Unterseite des Fahrzeugs zu schaffen macht.

Yuki stellt sich direkt neben die Bühne, klopft dann einmal vorsichtig an das Metall und wartet auf die folgende Reaktion. Das diese so schlagartig und schreckhaft verlaufen würde, hat sie nicht vermutet, denn mit einem Mal huscht die Gestalt etliche Schritte von ihr weg, unter dem Fahrzeug hervor und taucht, nun in voller Größe, hinter dem Wagen stehend auf. Aber Yuki lächelt noch immer, blickt der Gestalt entgegen, die sie abschätzend anstarrt.

„Samira-san nehme ich an?“ sagt sie mit freundlicher, ruhiger Stimme. „Ich bin Yuki Takadanobaba. Stock-sensei schickt mich, damit wir beide gemeinsam zur Schule fahren. Ich nehme an du hast bereits gepackt?“

Samira starrt mit einer Mischung aus Horror und Überraschung auf die Humanoide vor sich. Als sie eben genau diesen Umstand bemerkt, dass es eben eine Humanoide und KEIN Mensch ist, beruhigt sich die Panik in ihrem Körper langsam wieder, tritt sie einige Schritte hinter dem Auto hervor, mustert Yuki nun mit ein wenig Neugier.

Sie braucht nur einen Blick, um festzustellen, dass an dieser Humanoiden genau gar nichts ist, wovor sie sich zu fürchten braucht. Die feine Kleidung verbirgt zwar ihren Körperbau, doch was man sieht, wirkt nicht, als wäre sie eine Kämpferin. Und sie ist einen guten, halben Meter kleiner als Samira, wirkt irgendwie…fluffig, weich, sanft, die Augen groß und freundlich strahlend.

„Schule? Was…ich verstehe nicht…wovon redest du?“

Yuki legt den Kopf schief. „Ah, verstehe. Dein Chef und die anderen wollten dich damit überraschen. Überhaupt kein Problem. Komm, ich helfe dir beim Packen. Wenn wir das zu zweit machen, sind wir ganz schnell fertig und machen uns schon auf den Weg.

„Aber…meine Arbeit? Ich muss doch…“ deutet Samira auf das hochgebockte Auto, doch Yuki greift bereits nach ihrer linken Hand, zieht Samira daran nach vorn.

„Ach, nicht so schlimm. Die Jungs da hinten sind groß und stark. Die machen das doch sicher gern für dich fertig. Hab ich recht, Jungs?!“ ruft Yuki, nun mit einer bewusst etwas lauteren Stimme weiter in die Halle hinein. Samira starrt erst auf Yuki, dann auf Dawid, dann auf noch zwei andere Gesellen, die bis zu diesem Augenblick ihrerseits in die Richtung der beiden gestarrt haben und, als sie angesprochen werden, ruckartig kehrt machen und sich ihrer eigenen Arbeit widmen.

„Siehst du. Die schaffen das schon. Dein Chef weiß Bescheid, also müssen wir nur eben schnell alles zusammenpacken und dann machen wir uns schon auf den Weg. Na komm, zeig mir, wo du deine Sachen hast.“

Samira blinzelt einige Male, aber wirklich wehren kann sie sich nicht. Also geht sie, nach einigen Metern des Ziehens, schließlich voran, führt Yuki aus der Halle heraus, zur Rückseite und der Treppe herab in den Keller, führt sie in ihre Behausung.

„Oje oje, sehr…rustikal…“ fasst Yuki zusammen, was Samira ihr vor ihren Augen präsentiert. „Ich hatte Sorge, dass du die Zimmer in der Schule als zu spartanisch empfinden könntest. Aber darüber muss ich mir wohl keine Sorgen mehr machen, was? Na komm, wo hast du denn deine Kleider? Schließlich kannst du doch nicht in deinen Arbeitssachen zur Schule.“

Samira deutet auf die kleine Holzkiste, deren Deckel gegen die Wand dahinter lehnt. Über den Deckel gehängt sieht sie eine Jeans, die von Flicken und Flecken übersät ist und sich leicht feucht anfasst. Daneben, ebenfalls noch recht klamm, hängt ein T-Shirt. In der Kiste selbst liegt, relativ gut zusammengelegt, noch eine weitere Hose – allerdings mit kurzen Beinen und einem Riss in einem der beiden Hosenbeine. Daneben noch zwei zusammengelegte T-Shirts, zwei Teile Unterwäsche und ganz am Rand eine rostige Dose ohne Deckel, in dem ein weißes Pulver relativ heftige Klumpen gebildet hat und das sich, nachdem Yuki einmal die Nase darüber gehalten hat, als Waschpulver herausstellt. Neben der Kiste stehen zwei rote Turnschuhe, im rechten davon steckt oben noch etwas Bläuliches, das wie eine Art Stützverband aussieht. Wie auch die Hose sind die Schuhe noch fühlbar klamm.

„Mehr hast du nicht?“ fragt Yuki, während sie die Hose und T-Shirts aus der Kiste hebt, die Unterwäsche zusammenlegt und auf den T-Shirts platziert. Die klamme Hose nebst noch feuchtem T-Shirt legt sie separat zusammen, blickt sich im Raum auf der Suche nach einem Stuhl um, ehe sie nach kurzer, vergeblicher Suche den Deckel der Kiste schließt und beides dann darauf platziert.

„Es ist genug…“ murmelt Samira, während sie sich ihre Arbeitskleidung abstreift, zusammenlegt und auf dem Bett neben sich platziert. Yuki betritt indes das „Bad“, wobei sie schnell feststellt, dass diese Toiletten-Dusch-Waschbecken-Kombination diesen Namen nicht einmal im Ansatz verdient. Sie selbst hat bereits sichtlich Probleme sich in dieser kleinen Nische richtig herum zu drehen. Wie Samira, die wesentlich größer und massiger ist, das schafft, will sie sich nicht vorstellen müssen.

Mit einem leisen, kaum zu hörenden Seufzen greift sie die Zahnbürste, die überraschenderweise in sehr gutem Zustand ist, Zahnpasta, die beiden Fläschchen roten Nagellack und das Handtuch, das fast vollkommen nass ist, ehe sie Letzteres wieder zurück aufs Waschbecken zum trocknen legt und sich so, mit allem, was die Tigerdame offenbar für ihre Morgentoilette nutzt, wieder zu ihr umzudrehen. Sie erschrickt geradezu, als sie sieht, wie Samira sich kurzerhand die nasse Hose nebst T-Shirt überzieht.

„Aber…das kannst du doch nicht anziehen. Du wirst dich draußen noch erkälten!“

Samira schüttelt den Kopf. „Wird schon gehen.“ sagt sie, greift nach ihren Schuhen, zieht den blauen Stützstrumpf aus dem Schuh heraus und über ihren rechten Fuß, ehe sie in die Schuhe steigt.

„Und du bist auch noch verletzt. Ist es schlimm?“

Sie schüttelt den Kopf. „Ist alt. Nicht schlimm.“

Diesmal legt Yuki aber den Kopf schief, blickt Samira genau an, als diese sich die Schuhe fertig bindet und langsam aufsteht. Dann nickt sie langsam, aber nur für sich selbst, als sie feststellt, was jenen, die eben nicht mit so feinen Sinnen gesegnet worden sind, wie sie sie hat, entgangen wäre: Samira hat gerade ziemlich klar gelogen. Zwar nicht gänzlich, aber zumindest deutlich genug, damit es spürbar ist.

Yuki blickt sich indes um, sucht nach einer Tasche, einem Koffer oder etwas Ähnlichem, als Samira bereits hinter die Eingangstür greift, ihre Jacke, einen Schal und eine Plastiktüte zum Vorschein bringt, ihre verbleibende, kurze Hose, die T-Shirts, Unterwäsche, ihre Zahnbürste und ihren Nagellack gemeinsam darin verstaut. Schließlich greift sie noch nach ihrem Handy und ihren Kopfhörern, stopft sich beides in die Hosentasche, zieht das Ladegerät aus der einzigen, echten Steckdose hier unten und verstaut auch dieses in der Tüte.

„Gehen wir…“ sagt Samira noch, auf die Tür deutend. Yuki nickt, blickt sie für einen ganz kurzen Augenblick mitleidig an, tritt dann durch die Tür nach draußen und geht in Richtung Ausgang und zu den Treppen. Draußen angekommen wartet sie schließlich darauf, dass Samira ihr folgt und die Treppe hinaufsteigt. Diesmal konzentriert sie sich ein wenig deutlicher auf die Tigerdame, die mit einer Hand ihre Tüte, in der anderen Hand den Handlauf haltend, die Treppe empor steigt. Und dann, als Samira fast auf einer Höhe mit ihr ist, sieht sie die Bestätigung für die Lüge von eben: Für einen ganz kurzen Augenblick sieht sie einen Schmerzensblitz durch Samiras rechtes Bein schießen und wie die Tigerdame innerlich die Zähne zusammenbeißt. Äußerlich sieht man ihr davon nichts an, verbirgt sie das sehr gut.

Yuki reicht Samira eine Hand, die diese auch ohne Furcht ergreift. „Komm, der Wagen steht vorn. Aber bevor wir zur Schule fahren, suchen wir dir erstmal ein paar frische Sachen. Meine neue Schülerin soll sich schließlich nicht den Tod holen.“

„Deine…wie bitte?“

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IX. Verdeckte Pläne

Drei Stunden lang bleibt Samira für die anderen verschwunden. Dann taucht sie schließlich, durch eines der Tore kommend, mit einem Paket in Händen wieder auf, den Wärmetauscher für den Buick in Händen haltend. Wie immer, wenn sie hier in der Werkstatt arbeitet, lässt sie sich nichts anmerken, wendet den anderen ihre Seite oder ihren Rücken zu und versucht, sich auf ihre eigene Station zu konzentrieren, doch in den wenigen Momenten, die man ihr Gesicht erkennen kann, sieht man die feinen Streifen unter ihren Augen und entlang ihrer Nase, die wie feuchtes Fell aussehen.

Mit einem beachtlichen Tempo und sehr lautstark hebt sie die einzelnen Teile im Motorraum des alten Wagens an die richtigen Stellen, schließt alle Leitungen wieder an, hievt die Front ohne Zuhilfenahme von Hebehilfen wieder an die ursprüngliche Stelle, ehe sie das Kühlsystem wieder befüllt und anschließend den Motor startet, ihn einige Minuten laufen lässt. Noch während das gesamte Fahrzeug warmläuft, verschwindet sie schnellen Schrittes im Lager, kehrt kurz darauf mit einer neuen Windschutzscheibe zurück. Ein großer Sticker auf der Front, der vor dem hohen Gewicht warnt und eindringlich „2 Personen erforderlich“ mahnt, ignoriert sie, trägt die Scheibe zwar vorsichtig, aber sichtlich flott durch die Halle. Ebenso schnell hat sie die alte, geborstene Scheibe aus ihrer Halterung geschnitten, zur Seite geworfen und platziert sie schließlich die neue Windschutzscheibe in ihrem neuen Rahmen.

Ein kurzer Blick – ja, das Kühlsystem arbeitet, der Motor bleibt trotz zwei Minuten dauerhaft hoher Drehzahl im grünen Bereich, die Lüfter laufen und unter dem Wagen bilden sich keine Pfützen. Das Kühlsystem ist also wieder dicht und funktioniert – und Samira verschwindet wieder schnellen Schrittes im Lager, kehrt nur eine Minute später mit einer Tube Silikon zurück, verklebt damit die Windschutzscheibe. Keine fünf Minuten später ist auch das getan, löst sie die metallenen Haltearme ihrer Hebebühne vom Unterboden des Wagens und schiebt ihn aus der Halle heraus. Dann blickt sie hinüber zum Büro ihres Chefs.

Ihre Hände zittern leicht, ehe sie mit der linken Hand eine Faust ballt und schluckt. Dann geht sie, diesmal mit ungewöhnlich langsamen Schritt, in Richtung Büro, drückt die Türklinke herunter und schiebt die Tür langsam auf, ein weiteres Donnerwetter erwartend.

Pietro sitzt an seinem Schreibtisch über einigen Rechnungen, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet sind. Offenbar nimmt er sie gar nicht wahr – und wenn doch, lässt er es sich nicht anmerken.

„Der…Buick ist fertig.“ sagt Samira mit leiser, zögerlicher Stimme. „Ich….ich habe ihn nochmal überprüft…er ist im Hof.“ fügt sie hinzu, als auch nach einigen Momenten, in denen sie sich eigentlich sicher ist, dass er sie gehört hat, keine Reaktion erfolgt.

„Gut gemacht.“ sagt ihr Chef schließlich, ohne dabei von seinen Unterlagen aufzusehen. „Nimm dir für den Rest des Tages frei.“

Samira starrt ihn fragend an. „Ich…verstehe nicht? Soll ich…?“

Pietro verdreht die Augen. „Rede ich so undeutlich. Ich hab gesagt du sollst Feierabend machen und dir den Rest des Tages frei nehmen. Und jetzt verschwinde.“

Deutlich spürt sie, wie es in ihm brodelt. Und so unsicher sie ob dieser seltsamen Formulierung, die er ihr gegenüber zum ersten Mal überhaupt benutzt hat, auch ist – ihr Instinkt brüllt ihr geradezu in den Kopf, jetzt schleunigst das Weite zu suchen, ehe er ihr zum zweiten Mal innerhalb eines Tages mitten ins Gesicht brüllt.

Sie nickt langsam, geht rückwärts durch die nur halb geöffnete Tür nach draußen und schließt diese wieder ebenso langsam, wie sie sie geöffnet hatte. Dann tut sie, wie ihr aufgetragen: Sie tritt durch eines der Tore, geht zur Rückseite der Halle, die Treppen nach unten, in den Keller und dort dann in ihre kleine, bescheidene Behausung, wo sie auf ihr Bett sinkt, sich die Handschuhe abstreift, diese gegen die Wand gegenüber wirft und sich mit den Händen übers Gesicht fährt. Erst jetzt merkt sie, dass ihre Hände zittern. Nein – ihr ganzer Körper zittert. Und dann, ohne dass sie es erklären kann, kommen ihr erneut die Tränen.

„…und als ich gehört habe, dass sie in über drei Jahren nicht einmal Lesen und Schreiben gelernt hat, geschweige denn sonst irgendwas anderes als in der Werkstatt zu arbeiten, habe ich direkt an dich gedacht.“ schloss Olivier seine lange Erklärung, in der er am Telefon nun über eine halbe Stunde erklärt hatte, warum er die Hilfe eines alten Freundes braucht.

„Das ist ja alles schön und gut. Aber ich fürchte so, wie du es beschreibst, wird es nicht leicht werden, sie das alles nachholen zu lassen. Schon gar nicht in einer Klasse mit anderen. Dafür ist sie noch viel zu weit vom nötigen Niveau entfernt.“ gibt die Stimme im Telefon zu bedenken. „Es käme also lediglich Einzelunterricht infrage. Aber der wird deutlich teurer.“

„Lass mal das Geld nicht deine Sorge sein. Pietro übernimmt den Großteil der Kosten. Und was auch immer es mehr kostet, bekommen wir schon geregelt.“

„Pietro? Machst du immer noch Geschäfte mit diesem Betrüger? Ich habe dir doch schon vor Jahren gesagt, dass der Kerl nicht ganz sauber ist.“

„Ja, Till, das hast du schon mehrmals gesagt. Aber ohne ihn hätte ich die Kleine nicht so schnell in Lohn und Brot bekommen.“

Durch das Telefon dröhnt ein Seufzen. „Ich verstehe immer noch nicht, warum dir so viel an ihrer Art liegt. Sicher, viele sind nützlich. Aber manchmal glaube ich, dass du übertreibst.“

„Ich erzähle es dir mal bei einem Bier wenn du willst. Aber bis dahin – hast du nun eine Lösung oder nicht?“

Für einen Augenblick ist Stille im Telefon. Dann unterbricht Till die Stille mit einem Murmeln.

„Hrm…ich habe noch genau eine Lehrerin frei, die dir vielleicht helfen könnte. Aber sie ist auch eine Humanoide – und sie hat bisher immer nur Kinder unterrichtet. Außerdem ist sie ziemlich jung.“

„Eine Humanoide, die als Lehrerin für Kinder arbeitet? Wer macht hier denn sowas?“ fragt Olivier erstaunt.

„Niemand. Aber in Japan haben sie es an einer Sprachschule einmal ausprobiert. Die Kinder waren scheinbar so glücklich mit ihrer kuscheligen Lehrerin, dass sie deutlich schneller Fortschritte gemacht haben. Wenn ich das richtig gehört habe, hat die Schule noch fünf weitere von ihrer Art bestellt. Die sind da drüben diesbezüglich deutlich offener als hier.“

„Kann ich verstehen…“ murmelt Olivier, im Hinterkopf die zahllosen Mangas, die seit Jahren immer mehr Einzug in die deutsche Popkultur feiern, durchgehend. Selbst das Kino und die Streamingdienste sind voll mit Tierwesen, die neben Menschen gleichberechtigt agieren.

„Hat sie zufälligerweise einen Führerschein?“

„Wieso? Und ähh…ich müsste fragen. Kann sein. Aber, warum denn?“

„Erklär ich ihr dann am Besten selbst. Wenn sie Zeit hat wäre sie wahrscheinlich die ideale Lehrerin für mein Sorgenkind. Kannst du mir ihre Nummer geben? Dann würde ich alles weitere direkt mit ihr besprechen.“

„Natürlich. Ich schick dir gleich ihre Kontaktdaten.“

Zwei Stunden und einen kleinen Nervenzusammenbruch später hat Samira sich umgezogen, ihre Kopfhörer tief in ihre Ohren gesteckt und sich auf den Weg in Richtung Wald gemacht. Der Wind pustet zwar schon recht heftig, die Wolken am Himmel verheißen baldigen Regen, aber sie will die Zeit nutzen, in der Abgeschiedenheit der Natur etwas auf andere Gedanken zu kommen. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass es wie aus Kübeln zu schütten beginnt, als die den ersten Schritt in den Wald setzt und der Regen nicht mehr zu versiegen scheint. Sie aber ignoriert den Regen so lange, wie Strom in ihrem Handy ist und die Musik auf ihren Ohren sie vom Trommeln der Regentropfen auf ihrem Kopf ablenkt.

Als sie dann am Abend nach Hause kommt, ist sie nass bis auf die Knochen, ihre Kleidung durchweicht, reibt sie sich lediglich mit ihrem letzten, sauberen Handtuch trocken und zieht sich dann direkt in ihr Bett zurück, um darin Wärme zu finden. Die Tatsache, dass es durch das kaputte Kellerfenster leicht in ihre Wohnung reinregnet und ob des aufgefrischten Windes unangenehm zieht, verdrängt sie indes mit aller Kraft.

Mittwoch und Donnerstag kommen und gehen, ohne dass ihr Chef sie direkt anspricht. Auch die anderen in der Werkstatt halten aus Gründen, die sie nicht versteht, aber dennoch freudig begrüßt, Abstand zu ihr. So arbeitet sie lediglich an ihrer Bühne, tauscht hier Bremsen aus, sucht dort einen Fehler in der Elektrik, kämpft mit einer festgebackenen Kupplung, wechselt das Getriebe bei einem alten VW-Bus, räumt und putzt vor und nach ihrer eigentlichen Arbeit hinter den Gesellen her, während die Lehrlinge sich auf etwas namens „Ausflug“ für den Rest der Woche verabschieden. Zu ihrem Glück jedoch lassen die Gesellen sie ebenfalls in Ruhe – auch wenn sie zumindest von Dawid bewusst Abstand hält, ihn stets mit einem halben Auge beobachtet.

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VIII. Doppelter Anschiss

Nach einer ungewöhnlich guten und ruhigen Nacht steht Samira pünktlich um 7 in der Werkstatt, um alles für den Tag vorzubereiten. Zu ihrer Überraschung trifft ihr Chef heute aber nicht, wie sonst üblich, erst kurz vor 9, sondern schon viertel vor 8 ein. Es dauert keine zwei Minuten, da sieht er den noch halb zerlegten Buick auf ihrer Hebenbühne und baut sich kurzerhand direkt neben ihr auf.

„ICH HABE DIR DOCH GESAGT DER WAGEN SOLLTE GESTERN FERTIG WERDEN! WAS MACHT DER HIER NOCH KOMPLETT IN EINZELTEILEN?!“ brüllt er los, donnert sein Organ derart laut durch die Werkstatt, dass die Tore zu beben beginnen.

Samira zuckt sichtlich zusammen, drückt sich rückwärts gegen den auf der Bühne stehenden Wagen.

„Ich…der…der…Wärme…tauscher…“ stottert sie auf den Mann, der gerade mal halb so groß wie sie ist, herabblickend. Trotzdem fühlt sie, wie die Angst ihr Herz zu zerquetschen beginnt, es im Gegenzug in ihrer Brust hämmert, ihr Puls in ihren Ohren rauscht. Ihre Angst lähmt ihren Kiefer, jeden Muskel in ihrem Leib.

„WARUM HAST DU DEN NICHT GETAUSCHT?!? DER WAGEN WIRD GLEICH ABGEHOLT VERDAMMT! DAS ZIEH ICH DIR VON DEINEM GEHALT AB. ACH, WAS RED ICH, SO VIEL BEKOMMST DU GAR NICHT, WIE MICH DAS KOSTET. DU DÄMLICHES, FETTES, FAULES FELLVIEH!“

Mit diesen Worten voller Hass und Abscheu greift er nach einem Schraubenschlüssel und pfeffert ihn in ihre Richtung, verfehlt Samira aber knapp, trifft dafür die Windschutzscheibe des Buick, die unter geräuschvollem Krachen einen langen, von einer Seite zur anderen gehenden Riss bildet und schließlich, ebenfalls geräuschvoll, reißt.

Er stampft schnaubend auf, deutet auf sie. „DIE TAUSCHST DU JETZT SOFORT. UND WENN DER WAGEN NICHT IN ZWEI STUNDEN FERTIG IST, MACH ICH DICH FERTIG, VERSTANDEN?!“ Mit den Worten und ohne auf eine Reaktion von Samira zu warten, dreht er sich um, stapft zur Kaffeemaschine, nimmt sich einen Becher und verschwindet damit in seinem Büro. Zurück bleibt Samira, die sich noch immer an den Buick drückt, nun aber langsam, an den Wagen gepresst, zu Boden sinkt. Ihr Körper zittert unkontrolliert, Tränen schießen in ihre Augen. Sie will weinen. Ihr Körper will weinen. Aber sie kann nicht – die Angst lässt sie nicht. Noch mit Tränen in den Augen rafft sie sich wieder auf die Beine, macht sich ran, die geborstene Windschutzscheibe zu tauschen.

Um Punkt 9 Uhr steht niemand geringeres als Olivier mit einem Mal in der Werkstatt, sieht sich suchend nach Samira um, kann sie aber nirgends erspähen. Auch die Hebebühne, auf der jener alte Buick, von den Pietro gestern noch lamentiert hat, steht mit fehlender Windschutzscheibe und halb zerlegtem Motorblock auf der Bühne, aber von der Humanoiden fehlt jede Spur.

„Hey, hast du eine Ahnung, wo deine Kollegin hin ist?“ fragt er den Gesellen, der gerade eine der Radkappen bemüht langweilig mit einem ölig aussehenden Lappen poliert. Selbst Olivier als Nicht-Mechaniker sieht, dass diese dadurch trotz bester Bemühungen eher dreckiger als sauberer wird.

„Was weiß ich. Vielleicht hat es sich irgendwo in eine Ecke verzogen und flennt. Mir doch egal.“ schnaubt Dawid mit heftigem, russischen Akzent.

„Wieso? Was ist passiert?“

„Der Chef hat sie heute früh ziemlich zusammengebrüllt, weil sie den Wärmetauscher gestern nicht mehr ausgewechselt hat.“ mischt sich einer der Lehrlinge ein. „Ich hab nachgesehen – konnte sie konnte ihn nicht tauschen, weil wir keinen passenden haben. Aber das hat den Chef nicht interess..“

„Hab ich dir nicht gesagt du sollst die Klappe halten und dich um deinen Kram kümmern?!“ schnauzt Dawid den Lehrling an.

„Aber wenn er doch fragt?“

„Halt die Schauze Jonas und mach weiter. Oder willst du fliegen?“

Olivier hebt die Hände, um den Streit zu schlichten. „Danke. Euch beiden. Ich denke ich habe genug gehört.“

Mit diesen Worten dreht er sich auf dem Absatz rum, marschiert schnurstracks auf das Büro zu, drückt die Tür, ohne anzuklopfen, auf und tritt in einer einzigen, fließenden Bewegung ein.

Gerade will Pietro zu einem weiteren Anschiss ausholen, als er Olivier noch im letzten Augenblick erkennt. Seine Mimik lockert sich, ein breites Lächeln erscheint auf seinen Lippen. „Oli, zweimal in einer Woche zu Besuch. Und dann noch so früh. Was verschafft mir die Ehre?“

Olivier schließt die Tür hinter sich, hält seinen „Freund“ dabei die ganze Zeit mit seinem eigenen Blick fixiert. Dann tritt er langsam in Richtung Schreibtisch vor.

„Es geht um Samira.“ sagt er, langsam und ruhig, ohne zu zeigen, wie sehr es gerade in ihm selbst brodelt.

Pietro verdreht die Augen. „Was hat das dämliche Fellbündel jetzt schon wieder angerichtet? Die hat mich heute schon genug Geld und Nerven geko…“

„Sie ist bei dir in der Lehre, ja?“ unterbricht Olivier ihn mitten im Satz.

„Ja, seit..ähm…19 glaube ich…“

„Drei Jahre. Und in diesen drei Jahren war sie wie oft auf der Berufsschule?“

Pietro legt den Kopf schief. „Woher soll ich wissen, wo sie ihre…“

„Und in den drei Jahren ist dir nicht aufgefallen, dass sie nicht lesen kann?“

Ein einzelner, trockener Lacher entflieht seiner Kehle. „Klar. Aber wozu…“

„Keine Schule, keine Lehre, kein Urlaub und fast 70 Wochenstunden, die sie für dich hier in der Werkstatt steht. Seit drei Jahren. Als Lehrling. Ohne, dass sie wirklich ausgebildet wird. Pietro…“

Olivier donnert seine rechte Faust auf den Schreibtisch. Die dünne Tischplatte federt derart heftig nach, dass der halbvolle Becher kalten Kaffees ein Stück in die Luft fliegt und sich bei der Landung über einigen auf dem Tisch ausgebreiteten Papieren ergießt. Ein „Menschpassdochaufverdammtnochmal“ entfleucht Pietro, der schnell nach einer Papierserviette greift, um den auslaufenden Kaffee von den Unterlagen runterzutupfen.

„….WILLST DU MICH VERARSCHEN ODER WAS?!“ brüllt nun Olivier mit einer Lautstärke, die dem Italiener in nichts nachsteht. Im Gegenteil – der Schrei dröhnt durch die geschlossene Bürotür hindurch nach draußen und hallt durch die gesamte Werkstatt, nur um etwa eine halbe Sekunde später als Echo ein zweites Mal in das kleine Büro zu dringen.

„Das hier ist meine Werkstatt! Und die führe ich, wie ICH es für richtig halte, Olivier!“

„DEINE Werkstatt, aber MEIN Geld. Vergiss das nicht, mein Freund. Ich habe dir ein großzügiges Darlehen gewährt, weil du mich um Hilfe gebeten hast. Und ich habe über die Rückstände bei den Raten hinweg gesehen, weil du ihr eine Chance geben wolltest. Und jetzt höre ich, dass du sie wie eine Sklavin ackern lässt und zusammenfaltest – für Fehler, für die sie NICHTS KANN?!“

Olivier wendet sich von Pietro ab, geht einige Schritte weg vom Schreibtisch und hin zur Tür, die auf den Hof nach draußen führt. Vor der Tür stehend schließt er seine Augen, atmet tief durch, ehe er sich wieder seinem italienischen Freund zuwendet.

„Ich habe gestern Abend mit einem Freund gesprochen, der eine Privatschule in der Nähe von Düsseldorf hat. Er meint, dass sie das nötige Wissen, das sie in der Schule verpasst hat, nachholen kann. Aber in Vollzeitunterricht. Ein Jahr lang.“

Jetzt tritt Olivier wieder an den Schreibtisch heran. „Sie wird dieses Jahr auf die Schule gehen. Und DU wirst ihr Lehrlingsgehalt weiterbezahlen, bis sie aufgeholt hat, was sie die drei Jahre hier bei dir hätte lernen sollen – inklusive Lesen und Schreiben. Und du wirst ihr Lehrlingsgehalt entsprechend auf das Niveau anheben, das jemand, der im dritten Lehrjahr ist, haben sollte. Und du wirst…“

Mit einem Griff zieht Olivier den von ihm wieder glattgestrichenen, ehemals zerknüllten Zettel vom Vortag aus seinem Sakko und knallt ihn mit gleicher Heftigkeit wie noch gerade eben seine Faust auf den Tisch.

„…diese gottverdammte Brille bezahlen. Wenn nicht über deine Versicherung, dann aus deiner eigenen Tasche.“

Pietro schnaubt. „Die Schule…bittesehr. Aber warum sollte ich dieses dämliche…“

„WEIL DU EIN ARSCHLOCH BIST UND SIE EBEN SO ZUR SAU GEMACHT HAST. DAS IST DAS MINDESTE. UND KEINE DISKUSSION! NOCH EIN WIDERWORT UND DU KANNST DICH WIEDER NACH SIZILIEN VERPISSEN, FREUND.“

Erneut schließt Olivier die Augen, atmet deutlich hörbar tief ein und wieder aus, öffnet sie wieder und blickt dann Pietro, dessen Gesicht eine Mischung aus Wut und Angst spiegelt, mit kalten, bohrenden Augen an.

Der Italiener hält dem Blick einige Augenblicke stand, ehe er auf den Tisch und den dort von Olivier platzierten Zettel starrt.

„Entschuldige meine Wut, aber ich habe das Gefühl, dass ich mich in dir getäuscht habe. Beweis mir, dass ich mich irre und mach das Richtige.“

Mit diesen Worten reicht Olivier seine rechte Hand über den Tisch zum Handschlag. Pietro zögert einen Augenblick, dann ergreift er die Hand und schüttelt sie, leise vor sich hin murrend.

„Schön, dass der Pietro, den ich gekannt habe, da doch noch irgendwo drin ist.“

Mit nun sichtlich besserer Laune, wendet sich Olivier wieder in Richtung Werkstatt, öffnet die Tür und sieht, wie die Gesellen verdächtig nahe an der Bürotür stehen, schlagartig Kehrt machen und überaus geschäftig tun.

„Da ihr eh alles mitgehört habt – wenn ihr sie seht, sagt ihr, dass sie packen soll. Freitag geht es für sie zur Schule.“

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VII. Unerwartete Wendungen

Die Suche nach dem Leck im undichten Buick zieht sich über Stunden hin. Nachdem Samira alle Dichtungen ausgewechselt, alle Schläuche überprüft, den Kühler und alle übrigen Behälter auf Leckagen gecheckt und schließlich sogar die Klimaanlage mit äußerster Vorsicht untersucht hat – einen Unfall wie vor zwei Jahren, der sie fast ihr Augenlicht gekostet hat, will sie nicht noch ein zweites Mal riskieren – steht sie nun, kurz nach 18 Uhr, vor einem halb zerlegten Motor, hält den gerissenen Wärmetauscher zwischen Öl und Wasser in Händen. Ein passendes Ersatzteil liegt für so eine Antiquität von einem Wagen natürlich nicht auf Lager, muss bestellt werden. Ihr Chef jedoch hat bereits vor einer Stunde Feierabend gemacht, die Bürotüren abgeschlossen und sie als letzte in der Werkstatt zurückgelassen. Genau so, wie sie es immer gewohnt ist eben.

Zu ihrer Überraschung hat Jonas heute Überstunden gemacht und die Zeit genutzt, in der Werkstatt Ordnung zu schaffen. Lediglich die Hebebühne und der Werkstattwagen von Samira selbst muss noch aufgeräumt werden, was sich aber erledigt, da der Buick heute doch nicht fertig wird, also halb zerlegt stehen bleibt, bis der Wärmetauscher sowie die übrigen Anbauteile, die auch neu müssen, bestellt werden können.

Es ist viertel nach, als sie die Werkstatt abschließt und die Stufen zu ihrer Behausung herabsteigt. Müdigkeit macht sich in ihren Knochen breit, aber immerhin sind die Kopfschmerzen, die sie am Morgen gequält haben, nicht mehr da. Für einen Augenblick überlegt, sie, ob sie sich lediglich etwas Wasser durchs Gesicht spülen und dann so, in ihrer Arbeitsklamotte zu der Einladung mit dem Besucher ihres Chefs gehen soll. Bei dem Gedanken an den Mann läuft ihr erneut ein leichter Schauer über den Rücken. Sie kann sich nicht erklären, warum er so beharrlich ist, sie unbedingt einladen und sich irgendwie revanchieren will. Gleichzeitig spürt sie aber auch ihren Magen knurren, blickt auf das fast leere Paket Brot und die letzten beiden Konserven in ihrem Vorrat.

Im nächsten Moment hat sie bereits ihren Overall abgestreift, die Arbeitsschuhe ausgezogen und auch die beiden T-Shirts, die mittlerweile nass vor Schweiß sind, von ihrem Oberkörper gepellt. Ihre Füße schmerzen von den viel zu engen Schuhen, ihr Rücken von der krummen Haltung über der Haube des Buick, ihre Augen brennen und ihr Magen knurrt. Gerade greift sie an die Orthese an ihrem rechten Fuß, zögert, diese abzustreifen. Stattdessen steht sie auf, greift nach ihrer Jeans und zieht diese über, streift ein halbwegs sauberes, schwarzes T-Shirt mit irgendeinem Firmennamen auf der Front über den Kopf und schlüpft in ihre Turnschuhe. Jetzt rächt sich, dass sie die Orthese nicht abgenommen hat – ihr rechter Schuh passt nicht richtig, dehnt sich zu den Seiten, die Schnürsenkel zu kurz.

Sie blickt auf die Uhr – nur noch fünf Minuten. Sie schüttelt den Kopf, stopft die Schnürsenkel links und rechts in den Schuh hinein, krempelt die zu langen Hosenbeine herunter. Die wiederum rutschen fast die halbe Länge ihrer Füße nach unten, verdecken gut die Hälfte ihrer Schuhe. Dann noch ein prüfender Blick in den Spiegel – ihre Haare sind noch mit zwei Knoten fest zusammengebunden und bilden einen strengen, kurz aussehenden Zopf an ihrem Hinterkopf. Gern will sie ihn lösen, aber dazu ist keine Zeit mehr. Wenn sie das macht, sehen ihre Haare kraus und hässlich aus. Also bleiben sie so.

Mit raschem Schritt verlässt sie ihre Behausung, steigt die Kellertreppe nach oben, umrundet die Werkstatt und steht nur zwei Minuten später an der Hauptstraße.

Die Straßenlaternen sind bereits angesprungen, es dämmert. Samira kneift die Augen zusammen, versucht das sich bildende Gemisch aus Grau und Schatten besser zu erkennen, überquert schließlich, als sie meint, kein Auto mehr zu hören, die Straße und marschiert auf eine Gestalt zu, die ihr zuwinkt.

Olivier streckt die Hand zum Gruß aus, nickt ihr freundlich zu, als sie näher kommt. Statt die Hand zu ergreifen, bleibt Samira gute zwei Meter vor ihm stehen, den rechten Arm hängen lassend, während sie sich mit der linken Hand über ihren rechten Oberarm streicht. Ihr ist gerade erst klar geworden, dass dieser Mann sie nun zum ersten Mal nicht in ihrer Arbeitskluft sieht, sie so nicht verbirgt, was sie Menschen gegenüber doch unbedingt verbergen will.

Er hält seine Hand noch einige Augenblicke zum Gruße hin, ehe er versteht, dass sie ihre Distanz schätzt. Dann wendet er sich stattdessen um, deutet mit der noch immer zum Handschlag erhobenen Hand auf die Tür des italienischen Restaurants hinter sich und dreht sich dabei ein wenig in Richtung Restaurant.

„Schön, dass du hier bist. Komm, ich habe einen Tisch reserviert.“

Der Kellner, der die Reservierung aufgenommen hat, verzieht das Gesicht, als er Samira, die ein gutes Stück hinter Olivier steht, erblickt. Mit so viel Höflichkeit, wie er in der ihm anzusehenden Abscheu in der Lage ist aufzubringen, fragt er, ob die beiden an getrennten Tischen Platz zu nehmen wünschen, was Olivier entschieden verneint und damit den kurzen Funken Hoffnung in Samiras Augen schlagartig wieder verlöschen lässt. Einen kurzen Augenblick versucht der Kellner sich noch zu winden, dann greift er zwei Menükarten, dreht sich in eine Richtung und deutet an, ihm zu folgen.

In der hintersten Ecke des Restaurants, direkt neben dem Abgang zum Keller und einem Lagerraum, wischt der Kellner einen leicht staubigen Tisch mit einem Lappen grob sauber, bedeutet den beiden, an diesem Platz zu nehmen. Olivier verdreht die Augen, dankt aber dennoch dem Kellner für seine Mühe und tritt an die Seite, deutet auf die Bank, während er zu Samira blickt.

„Du darfst gerne auf der Bank Platz nehmen, wenn du möchtest. Ich nehme mir dann einen der beiden Stühle.“

Die Tigerdame atmet tief ein, beißt auf die Zähne, nimmt dann langsam Platz. Der Platz auf der Bank, die in der Wand eingelassen ist, bietet ihr in der Tat einen strategischen Vorteil, den der Mann nicht bedacht hat. Hier sieht sie alles und jeden, kann sie niemand überraschen, ihr niemand unerwartet zu nahe kommen. Als sie sich mit ihrem Rücken an die harte, kalte Wand anlehnt, kehrt zum ersten Mal seit fast einer Stunde ein Hauch Ruhe in ihrem wild brodelnden Kopf aus Horrorfantasien ein. Dann aber reißt sie ihre Augen wieder etwas auf, als er sich dicht an das Fenster, das von der anderen Seite gänzlich mit Werbung beklebt ist und so keinerlei Blick nach draußen erlaubt, setzt, ihr so den eventuellen Fluchtweg komplett freihält. ‚Er hat das geplant. Und er versucht Rücksicht zu nehmen. Oder irre ich mich da?‘ denkt sie für einen Augenblick.

Er rückt den Stuhl neben sich ein wenig weiter nach außen und nach hinten, sieht zu ihr hinüber. „Du darfst dein Bein hochlegen wenn du möchtest. Keine Sorge, es wird keiner sehen.“

Sie legt den Kopf schief. „Warum?“ entfährt es ihr schließlich. „Erst das heute Mittag und jetzt schon wieder. Warum?“

„Weil du hinkst.“ erwidert er mit einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, als wäre es offensichtlich.

„Du hast heute Mittag im Büro merklich auf deinem linken Bein gestanden und deinen rechten Fuß entlastet. Und als du eben über die Straße gelaufen bist, hast du sehr deutlich sichtbar gehumpelt. Die Stufen hast du normal genommen – am Knie liegt es also nicht. Du hast dir also wahrscheinlich den Fuß verletzt und willst es dir nur nicht anmerken lassen. Aber deine Schauspielkunst ist nicht sonderlich gut, wenn ich das sagen darf. Also – leg deinen Fuß ruhig hoch, wenn es sich besser anfühlt.“

Sie starrt ihn an. Für einen Augenblick ist sie einfach nur wütend. Dann beißt sie ihre Zähne zusammen, lehnt sich kurz zur Seite und streckt ihr rechtes Bein aus, hebt es und legt ihre Ferse schließlich auf dem Stuhl ab. Das Hosenbein rutscht ein gutes Stück hoch, entblößt so ein wenig von der Orthese. Olivier nickt langsam, erhebt sich und streift sein Sakko aus, schlägt es über den Stuhl neben sich und legt es in der Form ab, dass ihr rechter Fuß gänzlich davon verdeckt wird.

Ein ‚Warum?!?‘ liegt Samira auf der Zunge, während in ihrem Kopf die unterschiedlichsten Horrorszenarien darum kämpfen, welche Möglichkeiten denn wohl die Schlimmeren sind. Dann greift Olivier zu den Speisekarten, reicht ihr eine der beiden und schlägt seine auf. Samira tut es ihm gleich, blickt hinein.

Buchstaben. Wörter. Viele davon auf der ersten Seite, ein Logo von dem Restaurant, wie es scheint, das Foto von den Mitarbeitern. Sie hofft, dass in der Karte irgendwo Bilder für die Gerichte sind – doch diese Hoffnung zerschlägt sich, als sie weiterblättert. Seite um Seite mit viel Text, ein paar Zahlen, kleinen Zahlen, ein paar kleinen Buchstaben oben an größeren Buchstaben dran, ganz klein geschriebene Buchstaben an der Unterseite der Seite und auf der nächsten Seite eine Wiederholung desselben. Minutenlang blättert sie, starrt sie die Buchstaben böse an, hofft, dass das Starren ihr die Geheimnisse doch irgendwie verraten mag. Doch nichts dergleichen.

„Weißt du, was du haben willst?“ fragt Olivier nach einigen Minuten. Samira antwortet nicht, hat die Menükarte wie eine Mauer zwischen sich und dem Menschen aufgebaut, verbirgt sich dahinter und weint innerlich, weil sie kein einziges dieser Zeichen deuten kann.

Zwei weitere Minuten vergehen, dann wiederholt er die Frage. „Findest du nichts, was du magst?“

Erneut Schweigen. Sie rutscht auf der Bank merklich nach unten. Plötzlich steht der Kellner am Tisch, blickt mit einer Mischung aus Langeweile und Abscheu in ihre Richtung.

„Weißt du mittlerweile, was….“

„Nein…ich…“ unterbricht sie Olivier, legt die Karte zusammen und rutscht so weit es geht auf der Bank in Richtung Fenster, weg von dem Kellner.

Der Kellner verdreht die Augen. „Wenn die Gäste noch nicht gewählt haben, komme ich gleich…“

„Nein, warten sie. Ich nehme eine Pizza Quadro Stagioni und für meine Begleiterin eine große Pizza Serrano e Rucola. Aber bitte mit doppelt Serrano wenn es geht, ja? Und zu trinken bringen sie uns bitte eine große Flasche Wasser mit zwei Gläsern.“

Der Kellner blickt Olivier wenig beeindruckt an, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet wieder in den Weiten des Restaurants. Olivier aber lehnt sich nach vorn.

„Du kannst nicht lesen, oder?“

Wenn Blicke töten könnten, Samira wäre in diesem Moment eine Mörderin gewesen. Ihre Augen fokussieren seinen Blick, starren mit einer ihr selbst unbekannten Kälte auf ihn ein. Noch viel entsetzlicher als das Gefühl, das sie durch diesen Ausbruch an Zorn spürt ist die Tatsache, dass dieser Mann ihrem Blick widersteht. Aber während ihr Blick von eisiger Kälte geprägt ist, wirkt seiner voller Wärme und Freundlichkeit. Eine Sorte Blick, wie sie ihn maximal von einer anderen Humanoiden einmal gespürt hat.

Ruckartig dreht sie ihren Kopf zur Seite, blickt auf das völlig überklebte Fenster, tut so, als würde sie draußen etwas beobachten.

„Wie schaffst du die Lehre und die Schule, wenn du nicht lesen kannst?“

„Schule?“ fragt Samira leicht abwesend.

„Ja. Deine Lehre ist in der Werkstatt und zwei- bis dreimal in der Woche bist du doch in der Schule.“

„Nein.“ antwortet sie, ohne den Blick auf ihn zu richten. „Bin ich nicht. Ich arbeite.“

„Moment. Willst du mir sagen, dass du seit drei Jahren in der Werkstatt arbeitest, ohne auch nur eine einzige Stunde in der Berufsschule gewesen zu sein? Und was machst du, wenn du Urlaub hast?“

„Urlaub?“

Olivier ringt um Fassung. So eigenwillig Pietro auch immer ist, er hat stets große Stücke auf den kleinen Italiener gehalten. Ganz gleich, was für ein Ganove er auch sein mag, er ist seinen Freunden und Partnern gegenüber ein ehrlicher Ganove. Aber das er sie hier derart…nein, er kann es einfach nicht glauben, will es nicht glauben. Aber was sie da sagt, wirkt ehrlich, aufrichtig. Trotzdem – er muss dem nachgehen. In Gedanken sagt er bereits den geschäftlichen Termin morgen früh ab, um mit Pietro ein weiteres, ernstes Wörtchen zu reden.

Gerade will er die zur Erwiderung ansetzen, als der Kellner, ohne ein freundliches Wort dabei zu verlieren, eine große, grüne Flasche nebst zwei Gläsern auf dem Tisch platziert, gefolgt von einem kleinen Brotkorb mit einem Töpfchen rötlicher, kräftig riechender Sauce. Dann verschwindet er, ohne auch nur ein Wort des Grußes zu verlieren.

„Urlaub.“ sagt er schließlich, als er die Wasserflasche öffnet und erst in ihr, dann in sein Glas einschenkt. „20 Tage im Jahr mindestens, an denen du frei hast. Auch Humanoide bekommen Urlaub, je nachdem, wie lange sie arbeiten.“ Dann sieht er auf. „Wann arbeitest du?“

Samira greift nach dem Glas Wasser, hebt das Glas vor ihr Gesicht, beobachtet die Gasblasen, wie sie langsam am Rand des Glases nach oben steigen. Sie zögert, dann presst sie ein „immer“ heraus.

„Wann ‚immer‘? Die ganze Woche? Auch samstags?“

Sie nickt, nimmt dann einen Schluck aus dem Glas.

„Von wann bis wann?“

Sie stellt das zur Hälfte geleerte Glas ab. „Sieben…bis neunzehn Uhr. Normalerweise. Manchmal länger. Heute kürzer.“

Die Augen von Olivier werden weit. Die Scheibe Knoblauchbrot, die er sich gerade nehmen und zum Mund führen wollte, fällt ihm auf den Tisch, während er sie ungläubig anstarrt. Dann, einige Augenblicke später, angelt er wieder nach dem Stück Brot, atmet tief durch, greift es, führt es zum Mund und beißt davon ab.

„Ich werde morgen ein paar Dinge mit Pietro klären müssen. Aber jetzt – greif zu. Du bist schließlich eingeladen.“

Sie zögert, ehe sie schließlich nach einer der Scheiben Weißbrot greift und sie unsicher in Richtung Nase führt. Es riecht nach Knoblauch, Butter, Kräutern – ein irgendwie verführerischer Duft, wie sie findet.

Noch während sie die erste Scheibe Brot kaut, bringt der Kellner bereits die beiden Pizzen. Hat Olivier noch einen normalgroßen Teller mit einer interessanten Pizza, stellt der Kellner eine übergroße Pizza vor ihr ab, die über und über mit reichlich feinen Schinkenscheiben und feinen Rucolablättern belegt ist. Die Aufforderung von Olivier, eine Extraportion von dem edlen Schinken auf die Pizza zu packen, ist der Koch offensichtlich nachgekommen, hat das Äquivalent von fast einem Pfund auf dem fast vierzig Zentimeter im Durchmesser messenden Rad aus Teig verteilt.

Sie blickt Olivier kurz fragend an, doch der nickt nur. „Muss ich mich wiederholen? Greif zu. Ich hoffe es schmeckt.“

Deutlich fühlt Samira, wie ihr grummelnder Magen, der seit dem kleinen Frühstück nichts mehr an Nahrung gesehen hat und für den Fleisch in dieser Menge und Qualität etwas ist, was sie seit Jahren nicht mehr hatte, wahre Freudentänze in ihrem Bauch veranstaltet, als sie den ersten Bissen der Pizza probiert. War bis gerade noch die Angst vor diesem Mann die herrschende Kraft in ihrem Körper, ist es nun der Appetit, der Hunger, das Verlangen, so viel wie möglich davon in sich hinein zu stopfen.

Olivier blickt fast schon etwas eingeschüchtert zu ihr, wie Samira mit einem Mal deutlich zeigt, dass ein nicht unwesentlicher Teil Tigergene in ihr stecken, wie sich ihre Zähne in den Teig bohren, die feinen Schinkenstreifen zerreißen, sie weniger kaut und mehr schlingt, während ihr Körper innerlich das erste Festmahlseit Jahren, das sie ihm bietet, mit leichten Zuckungen unter ihrer Kleidung begleitet. So dauert es keine zehn Minuten, bis sie die Pizza fast gänzlich in sich hinein gestopft hat, das letzte Stück in Händen hält und zum ersten Mal seit langem eines spürt: Sättigung.

Eine gute Vierteilstunde später, in der Olivier nur beobachtet, wie Samira den Kopf nach hinten an die Wand anlehnt, die Augen schließt und sich, die Hände auf ihrem Bauch gefaltet entspannt, erhebt er sich, nickt er ihr kurz zu, deutet in Richtung Eingang und redet dort – für sie gerade noch so erkennbar, allerdings aufgrund der schlechten Beleuchtung nur unscharf zu sehen – mit dem Kellner, drückt ihm einige Geldscheine in die Hand. Für einen kurzen Augenblick wirkt es wie ein Streit, dann aber senkt der Kellner den Kopf, wendet sich um. Olivier indes kehrt zurück an den Tisch, reicht seine Hand in ihre Richtung.

„Wenn du nichts mehr möchtest, können wir gehen. Brauchst du Hilfe?“

Samira blickt auf seine Hand, hebt dann ihren Fuß von dem Stuhl und stellt sich, ohne ein Wort zu sagen, aber dafür mit leichtem Kopfschütteln langsam wieder hin. Ihm gegenüber gibt sie es zwar nicht zu, aber die knappe Dreiviertelstunde, in der sie in Ruhe gesessen, gegessen, sich ausgeruht und ihren Fuß hochgelegt hatte, war eine Wohltat. Entsprechen steht sie ohne jegliche Probleme auf, drückt sich an die Wand und damit in einen möglichst großen Abstand zu ihm, während er sein Sakko greift und wieder überstreift. Dann wendet er sich in Richtung Ausgang, blickt noch einmal zu dem Kellner, der erst ihm, dann ihr – nun ungewöhnlich und unnatürlich freundlich – zunickt und einen angenehmen Abend wünscht, ehe beide das Restaurant verlassen.

„Ich hoffe du bist satt geworden.“ sagt Olivier vor der Tür.

Samira nickt nur leicht, ihr Blick schon wieder auf die Werkstatt gegenüber gerichtet.

„Aber…bevor ich mich verabschiede, ich habe gänzlich vergessen, mich vorzustellen. Bitte entschuldige diese Unhöflichkeit.“ sagt er und deutet eine leichte Verbeugung an, reicht ihr erneut seine Hand – zum dritten Mal an diesem Abend. Und erneut ergreift sie diese nicht, blickt sie diesmal nicht einmal an.

„Olivier van Mernue. Es war mir eine Freude, heute Abend ein wenig von dir zu erfahren.“

„Ja…danke. Ich…bin Samira.“ presst sie schließlich heraus, ehe sie sich schon fast zum Gehen wendet.

Er lächelt jedoch immer noch freundlich in ihre Richtung. Offenbar hat er sie haargenau verstanden, geht einige Schritte zur Seite, wendet sich schließlich selbst ab. „Eine angenehme Nacht. Ich hoffe du bist bald wieder vollkommen in Ordnung.“

Die letzten Worte hört sie nur noch ganz vage – ist sie doch schon in schnellem Schritt über die Straße und zurück in Richtung Werkstatt unterwegs.

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VI. Katerstimmung

Das Klingeln des Weckers bohrt sich wie Nadelstiche in ihren Schädel. Nadeln, auf die im Takt des Weckerklingelns mit einem Hammer direkt in ihre Schädeldecke geschlagen werden. Dazu ein seltsam pelziger Geschmack auf ihrer Zunge, die Schwere ihrer Arme und Beine und leichter Schwindel. Alles in allem Gründe, den Wecker zu ignorieren und im Bett zu bleiben. Doch die Arbeit wartet…und das letzte, was sie will, ist ihren Chef ungehalten zu sehen. Also schält sie sich mit dem letzten Rest ihrer Willenskraft doch aus dem Bett und beginnt mit ihrer alltäglichen Morgenroutine.

Endlich in der Werkstatt angekommen greift sie zum ersten Mal überhaupt nach dem von ihr jeden Morgen aufgesetzten Kaffee und leert einen der für ihre Hände ungewöhnlich klein wirkenden Pappbecher in einem Zug, ehe sie sich an die Arbeit macht, die Werkstatt wieder sauber zu machen. Ein kurzer, prüfender Blick verrät ihr, dass ihre Kollegen am Samstag genau gar nichts davon getan haben. Überall quillen die Mülleimer über, liegen noch etliche Schrauben als gefährliche Stolperfallen herum und einige der Werkzeugwagen sind nicht wieder richtig befüllt worden. Erst als auch schließlich ihr Chef eintrifft, hat sie das Chaos so weit beseitigt, dass es wieder so aussieht, wie es hier für gewöhnlich jeden Morgen seit nun über drei Jahren ausgesehen hat. Mit etwas Glück wird sie so nicht weiter auffallen, kann ihre Arbeit machen und das Wochenende und alles, was die vergangene Woche passiert ist, kann in Vergessenheit geraten.

Kurz vor der Mittagspause zeigt sich, dass diese Hoffnung von ihr eine leere war. Ihr Chef brüllt durch die gesamte Halle das verhasste „Sam! Beweg deinen pelzigen Arsch hier rüber!“

Samira verzieht das Gesicht. Von einem Moment zum nächsten spürt sie, wie die Blicke der anderen auf sie gerichtet sind, sich in ihren Körper bohren, als wäre jeder einzelne ein Dolch, der gnadenlos unter ihre Fassade und in ihre Seele blicken kann. Mit dem eigenen Blick stur auf den Boden gerichtet legt sie das Werkzeug auf den nahen Werkzeugwagen, geht raschen, festen Schrittes auf das Büro ihres Chefs zu, öffnet die angelaufene Metalltür und tritt ein in das kleine, muffige Büro. Ihr Chef sitzt dort auf seinem Drehstuhl, blickt sichtlich sauer in ihre Richtung. In seiner rechten Hand hält er einen Zettel. Oder einen Brief. Jedenfalls etwas aus Papier. Er knüllt das Papier, schnaubt und wirft es in ihre Richtung.

„Zweihundertvierundachtzig Euro für eine neue Brille? Und dieser Mistkerl von Optiker meint, dass ich das bezahle oder meiner Versicherung einreichen soll?! Nur damit dir eines klar ist Madame – DU wirst das Geld für die Brille abarbeiten! Sonst ziehe ich dir das von deinem Lohn ab, verstanden?!“

Sie reißt die Augen auf, ist mit einem Male starr vor Angst. So viel Geld…so teuer…viel mehr, als sie im Monat überhaupt übrig hat. Schnell senkt sie ihren Blick, will dem Toben ihres Chefs zustimmen, als eine andere Stimme an ihr Ohr dringt.

„Jetzt lass mal die Kirche im Dorf Pietro. Du weißt genau so gut wie ich, dass es ein Wegeunfall war. Und genau dafür hast du eine Versicherung. Also was soll der Mist jetzt gerade?“

Sie kennt die Stimme, blickt aber nur kurz auf, sieht in die Raumecke. Da, am Wasserspender, steht der Mann, dem sie am Donnerstag den Wagen gebracht hat. Ein Schauer läuft über ihren Rücken.

„Sie ist aber nicht versichert. Nicht, so lange sie außerhalb der Werkstatt ist.“ schnaubt der kleine Italiener von seinem Chefsessel, greift in eine Schublade und zieht einen Zigarillo hervor, stopft in sich in den Mund. „Ich gebe dieser Humanoiden schon einen Job und eine Unterkunft. Um den Rest muss sie sich gefälligst kümmern. Ich bin doch nicht die Wohlfahrt.“

„Auch Humanoide haben Rechte, wenn ich dich daran erinnern darf.“

Pietro greift nach einem Feuerzeug, zündet sich den Zigarillo an und pafft. Dann, eine gute Minute später, erwidert er schließlich grummelnd. „Jetzt fang nicht wieder mit diesem Mist an Olivier. Du weißt haargenau, dass du damit nicht bei mir landen kannst.“

Olivier verschränkt die Arme vor der Brust. „Und du weißt ziemlich genau, dass du ohne das günstige Darlehen von mir keine Werkstatt hättest, in der du diese deine Meinung so frei ausleben könntest.“

Pietro schnaubt erneut. Eine dicke, blaugraue Wolke füllt den kleinen Büroraum. Samira hustet, als ihr der Qualm in die Nase steigt und den Atem raubt. Dann richtet sich Pietro in seinem Sessel auf.

„Red was du willst. Ich zahle meine Raten, ich mache gute Arbeit hier. Und jetzt – mache ich Mittag.“ Dann zeigt er auf Samira. „Du kannst dann ja mit dem Ding da in Ruhe alleine reden, wenn du unbedingt willst. Und du..“ sagt er und deutet dabei mit dem Zigarillo auf sie „..wirst, wenn du mit deinem aktuellen Wagen fertig bist draußen noch den Buick reinholen. Der hat irgendwo Wasserverlust. Muss heute fertig werden, klar?“

Sie nickt, ohne ihren Blick zu heben, starrt stattdessen auf den Boden direkt vor ihren Füßen und auf das zerknüllte Blatt Papier, das dort liegt.

„Gut, dann Mahlzeit.“ brummt Pietro, marschiert auf Samira zu, die einen Schritt nach drinnen und zur Seite macht, verpasst ihr einen kräftigen Klaps auf den Po und verschwindet schließlich mit einem grunzenden Lacher in der Werkstatthalle, grölt dort etwas in Richtung der Gesellen. Samira indes bückt sich, greift das Blatt Papier, streicht es glatt und legt es langsam auf den Schreibtisch zurück, ehe sie sich umwendet und gehen will.

„Warte bitte einen Augenblick.“ sagt Olivier, der sie von oben bis unten musternd anblickt. „Gib mir bitte den Zettel.“

Sie tut, wie ihr aufgetragen, tritt einen Schritt näher an ihn heran, hält das Blatt in seine Richtung. Er greift mit der linken Hand danach, fasst sie aber gleichzeitig mit seiner rechten Hand am linken Handgelenk, blickt auf den kleinen Stuhl an der Seite, der normalerweise für Kunden oder Gäste vorgesehen ist.

„Setz dich bitte.“ sagt er mit freundlicher, aber auch entschlossener Stimme.

Samira spürt, wie ihr Puls sich beschleunigt, ihr Herz hämmert. Schweiß bildet sich unter ihrer Kleidung, ein Engegefühl umfasst ihren Brustkorb. „Ich…sollte wieder an die Arb…“

„Hinsetzen.“ sagt Olivier, diesmal mit etwas mehr Nachdruck. Sie gehorcht, nimmt auf dem Stuhl Platz. Sofort löst er den Griff um ihr Handgelenk, tritt einen Schritt zur Seite und greift sich den kleinen Hocker, der neben dem Wasserspender in der Ecke des Raumes steht. Normalerweise steht darauf eine Topfpflanze, aber seit diese vor vier Wochen vertrocknet ist, dient er Pietro nur als Ablage für etliche Aktenordner. Ordner, die Olivier jetzt an die Seite stellt und den Hocker in ihre Richtung schiebt.

Sie blickt ihn etwas verwundert, vor Allem aber ängstlich an. Ein Gefühl von Panik greift wallend nach ihr, schreit sie innerlich an, aufzustehen und rauszurennen, zu flüchten. Aber etwas anderes in ihr hält sie zurück.

„Leg deinen Fuß da drauf.“ sagt er schließlich, statt nur zu deuten. Wieder zögert sie einen Augenblick.

Olivier seufzt. „Jetzt mach schon und hör auf dich zu zieren. Ich werd ihn dir schon nicht abhacken.“

In einer langsamen Bewegung hebt sie schließlich ihr rechtes Bein, legt ihren Fuß auf den Hocker. Olivier nickt, macht einen Schritt nach hinten und lehnt sich seinerseits an den Schrank, ehe er auf den Zettel in seiner Hand blickt.

Einige Minuten vergehen, in denen er nur zu lesen scheint und nichts sagt. Samira indes sagt nichts, blickt ihn nur verwundert an, fühlt, wie sich etwas in ihrem Körper immer mehr verkrampft, ihr Fluchtinstinkt immer lauter schreit.

„Es tut mir leid, was am Donnerstag auf dem Rückweg mit dir passiert ist.“ sagt Olivier schließlich, ohne den Blick von dem Papier zu lösen. „Ich schäme mich dafür, dass du auf dem Heimweg angegriffen und verletzt wurdest. Dazu hat niemand das Recht. Egal ob Mensch oder Humanoider. Und ich möchte dich gern zum Trost zum Essen einladen.“

Samira blickt ihn starr an. „Das…nein…ich will nicht, dass…“ stottert sie.

„Bitte. Ich fühle mich verantwortlich für das, was dir passiert ist. Bitte nimm das Angebot an.“

Sie verzieht das Gesicht. Alles in ihr brüllt lautstark ein ‚Nein‘, Bilder schießen durch ihren Kopf, mahnen sie zur Vorsicht. Doch da ist auch noch etwas anderes, ein Flüstern aus ihrem Innersten, das nur ein „hab Mut. Was kann denn schon passieren?“ in ihr Gewissen spricht.

„W…ann?“ presst sie schließlich nach einigen Momenten heraus.

Olivier senkt das Blatt, enthüllt so ein kleines Lächeln. „Heute nach Feierabend. Bei dem Italiener schräg gegenüber. Kennst du den?“

Sie deutet ein Kopfschütteln an. Sie hat das Restaurant schräg gegenüber zwar schon gesehen, weiß auch, dass ihr Chef und etliche ihrer Kollegen dort häufiger ihre Mittagspause verbringen, aber sie hat kein Geld, sich so etwas leisten zu können.

„Egal. Wir treffen uns vor der Tür. Du arbeitest bis 18 Uhr, oder?“

„Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich…vielleicht länger.“ stammelt sie. Dabei weiß sie sehr genau, dass sie normalerweise bis lange nach 19 Uhr in der Werkstatt steht, noch Ordnung schafft und die Reste, die die anderen nicht fertig bekommen haben, zu Ende bringt. Ganz so, wie es ihr Chef ihr einmal aufgetragen hat und seither immer von ihr erwartet.

„Dann sagen wir 19 Uhr. Und wenn du dann noch arbeiten solltest, komme ich einfach kurz vorbei und hole dich hier ab. In Ordnung?“

Sie nickt schnell. Schneller, als ihr Bauchgefühl, ihr Instinkt für gut und richtig befunden hätten.

„Gut. Dann werde ich mich wieder selbst an die Arbeit machen. Mach du ruhig noch deine Pause und ruh dich aus.“

Mit diesen Worten steckt er den Zettel, den er noch in Händen hält, in seine Sakkotasche, wendet sich um und öffnet die Tür nach draußen, verschwindet mit einem letzten Nicken in ihre Richtung und lässt sie allein im Büro und auch der gesamten Werkstatt zurück.

Erst jetzt lehnt sich Samira wirklich in dem Stuhl zurück, holt einmal tief Luft und lässt einen langen, aber leisen Seufzer entfahren.

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V. Freies Wochenende

Samstag ist normalerweise ein Arbeitstag. Aber nicht heute. Ihr Chef will, dass sie sich erholt, genau das tut sie.

Schlaf. Süßer, sonst viel zu knapper Schlaf. So schläft sie, in dem zu kleinen Bett, eingewickelt in zwei Wolldecken, dank denen sie die Kälte, die durch das offene Kellerfenster in ihre Behausung hineinzieht, zumindest etwas warm und gemütlich, vergehen die Stunden wie im Flug. Nicht einmal der nagende Hunger vermag es, sie aus dem tiefen Schlaf, in den sie gefallen ist, zu wecken. So vergeht der gesamte Samstag, kommt eine neue Nacht.

Sie träumt, aber die Bilder, die sie sieht, sind wirr und ohne Zusammenhang. Bilder vom Trainingslager in Russland, von peitschenden Trainern, von ihrem prügelnden Ziehvater in Indien, von jubelnden Fans im Stadion bei Frankfurt, von Kliniken, Ärzten, vom Gulag und den verzerrten Fratzen von zahllosen Männern um sie herum, von Händen, die nach ihr greifen, sie packen und zu Dingen zwingen. Sie schreit.

Schlagartig ist sie wach, hat die Augen weit aufgerissen und starrt auf die schmutzige Betondecke über sich. Die Konturen verschwimmen vor ihren Augen, Muster aus Schimmel, Dreck und der grauen Farbe bilden einen verschwommenen Dreck, der im schwachen Licht, das durch das Fenster in ihre Behausung hinein scheint wie dreckige Wolken aussieht. Ein eisiger Luftzug weht durch das nicht schließbare Fenster hinein. Trotzdem schwitzt sie am ganzen Körper, ist ihr Fell am ganzen Körper klamm und klebrig, läuft ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie atmet schnell, fühlt, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmert. Sie angelt nach ihrer Brille, drückt sie sich auf die Nase und blickt panisch umher, versucht so, ihren Puls wieder etwas zu beruhigen.

Blick auf die Uhr des alten Radioweckers: Kurz nach 8. Es ist Sonntag. Sie hat den gestrigen Tag wirklich gänzlich durchgeschlafen. Dann ein Blick neben ihren kleinen Ofen. Das Brot ist grün vor Schimmel, einige leere Konserven und leere Plastikflaschen. Sonstige Vorräte hat sie nicht. Sie braucht neue. Es bedeutet aber auch, dass sie für den Moment hungrig und durstig bleiben muss. Also macht sie das nächstbeste: Sie macht sich fertig, erfrischt sich etwas im Bad.

Im Spiegel blickt ihr eine noch immer leicht ramponiert dreinblickende Tigerdame entgegen. Die Spuren ihrer Begegnungen am Donnerstag sind schon gut verheilt, nur eine leichte Schwellung an der Nase zeugt noch von dem, was geschehen ist.

Eine kurze, dafür eiskalte Dusche später sucht sie eines der T-Shirts, das noch sauber ist, schlüpft in ihre Hose, ihre Stützsocke, Sneaker, wirft sich ihre Jeansjacke über und verschwindet, mit einer zusammengeknüllten Plastiktüte in einer Jackentasche, durch die Wohnungstür nach draußen. Noch während sie die Stufen nach oben erklimmt, drückt sie sich die Ohrhörer in die Ohren, lauscht sie nur Augenblicke später der Musik ihres mp3-Players. Wie genau das Lied heißt, kann sie nicht sagen, aber das sanfte, dunkle Saxophon und die Klänge eines Klaviers beruhigen ihren noch immer aufgeregten Puls merklich, während sie ihre Schritte auf die Nebenstraßen und -gassen lenkt, die zum nächsten Supermarkt führen.

Natürlich hat der Supermarkt an einem Sonntag geschlossen. Aber sie hat auch nicht vor, zur Vordertür hinein zu wandern und dort dann für teuer Geld etwas zu Essen einzukaufen. Dafür reicht ihr Budget so oder so im Leben nicht aus. Stattdessen lenkt sie ihre Schritte zur Rückseite des Supermarktes, blickt einmal zu allen Seiten und setzt, als sie niemanden erspähen kann, zu einem Sprung an, klettert über die gut zweieinhalb Meter hohe Mauer, lässt sich auf der anderen Seite langsam runter, blickt zu den Müllcontainern des Supermarkts. Drei riesige Container, alle verschlossen und mit Schlössern gesichert. Eine Veränderung zu den vorherigen Malen, bei denen sie sich aus den Containern bedient hatte, aber einer, der sie nicht davon abhält, dennoch auf den mittleren der drei Container zuzugehen und dessen Verschluss zu greifen. Unter deutlich hörbarem Kreischen verbiegt sich das Metall unter ihrem Griff, hebt sich der Deckel gerade so weit, dass sie, dank des Lichtes einer nahen Laterne, hineinblicken kann.

Viele kaputte Konserven, verbeult, fehlende Etiketten, fünf Pakete mit irgendwelchem Fleisch, das sich schon leicht verfärbt hat und ein Paket Brot, dazu noch Dosen mit etwas zu Trinken darin und jede Menge welkes Gemüse liegen in dem Container. Gerade als sie dabei ist, ihre Funde in die zusammengeknüllte Tüte zu packen, hört sie jedoch jemanden in ihre Richtung schreien.

„Hey, bleib sofort stehen du dreckiger Dieb!“

Samira macht natürlich das genaue Gegenteil, schnappt sich die wenigen Dinge, die sie aus dem Container angeln kann und rennt zurück zur Mauer. Mit einem Schwung schleudert sie die Tüte darüber, holt Anlauf, springt ihrerseits an der Mauer hoch, schwingt sich rüber und springt auf der anderen Seite runter.

Es knackt deutlich spürbar in ihrem rechten Knöchel. Für einen Augenblick strauchelt sie, greift dann aber noch halb im Sturz nach ihrer Tüte, schwankt leicht zur Seite und rennt dann, stark humpelnd, in die nächste Straße, biegt um die nächste Ecke, dann um noch eine, ehe sie, heftig keuchend, an einer Laterne gelehnt zum Stehen kommt.

Ihre Lungen brennen, ihr Herz hämmert wie wild und ihr Fuß brüllt vor Schmerzen. Aber noch ist sie nicht in Sicherheit. Sie wartet nur einige Augenblicke, ringt nach Luft, ehe sie sich wieder aufrichtet und dann, mit deutlichem Humpeln, nach Hause aufbricht.

Sie macht erst in einem kleinen Park abseits ihrer Route halt, setzt sich auf eine der halb von Büschen zugewachsene Parkbank und blickt in ihre Tüte, prüft, was sie alles aus dem Container greifen konnte. Dann hellt sich ihre Miene etwas auf.

Das erste, was sie aus der Tüte herauszieht, ist eine längliche Getränkedose mit einigen, kräftigen Dellen. Aber sie ist noch voll und dicht, der Verschluss an der Oberseite jedoch abgerissen. Sie drückt die Sollbruchstelle mit dem Daumen ein, hört ein Zischen, begleitet von reichlich Schaum, der sprudelnd hervorstößt. Reflexartig drückt sie die Dose an den Mund. Ein süßlich-bitterer Geschmack, aber durchaus schmackhaft, füllt ihren Mund, als sie die Dose in einem Zug leert und neben sich abstellt. Dann blickt sie erneut in ihre Tüte.

Zwei Packungen Brot, in Scheiben geschnitten und stark zerdrückt, aber ohne Schimmel, eine längliche Dose mit einem Bild von irgendeiner Art von Fleisch, zwei andere, längliche Dosen mit Fisch – eine der Dosen ist bereits leicht offen, wird von ihr kurzerhand gänzlich geöffnet. Der Inhalt riecht stark fischig, aber noch nicht bitter. Also nimmt sie drei Scheiben Brot, leert die Dose auf diese und verzehrt die Scheiben Brot im Rekordtempo.

Ein Karton, der ursprünglich für mehr Dosen als die noch drei darin befindlichen gedacht ist, bildet den Abschluss dessen, was sie retten konnte. Die Dosen sind dunkelgrün mit irgendwelchen Buchstaben auf der Seite. Sie nimmt eine davon, öffnet diese und nimmt einen Schluck – deutlich bitterer, als die erste Dose, doch ihr Durst ist stark genug, damit sie auch diese leert. Eine sanfte Wärme macht sich allmählich in ihrem Körper breit, als sie zur nächsten Dose greift, öffnet und auch diese leert. Als sie auch noch die letzte der Dosen leert, ist die Wärme in ihrem Körper intensiv, fühlt sich ihr Kopf seltsam leicht an und die Klänge, die sie durch die Kopfhörer hört, wirken fast hypnotisch. Sie spürt, wie ihr Körper einerseits ungewöhnlich leicht, ihre Beine dafür umso schwerer zu sein scheinen, schüttelt mehrmals den Kopf, um den leichten Schwindel, der die Welt vor ihren Augen in Drehung versetzt, abzustreifen, packt dann schließlich das übrige Brot und die beiden noch vollen, ungeöffneten Dosen zurück in die Tüte. Dann steht sie langsam auf, greift dabei mit einer Hand nach der Parkbank, um dem Schwindel, der ihren Kopf gänzlich erfasst hat, auszugleichen, richtet sich dann schließlich gänzlich auf.

Das Brennen ihrer Lungen ist fort, ebenso die Schmerzen in ihrem Fuß. An ihrer Stelle ist da nun die wohlige Wärme und eine Weichheit, in der ihr Kopf gebettet zu sein scheint. Es kostet sie jedoch ungewöhnlich viel Mühe, ihre Schritte halbwegs geradeaus zu lenken, denn offenbar schwankt und bewegt sich die Welt um sie herum. Aber das stört sie nicht auf ihrem Weg nach Hause.

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IV. Weg zurück

„Die Fahrkarte bitte!“ dröhnt es in ihrem Ohr.

Schlagartig ist sie wach, richtet Samira sich auf, blickt sich hektisch um. Grelles, kaltweißes Licht brennt in ihren Augen. Ein Mensch steht viel zu dicht neben ihr, als es für sie angenehm wäre, starrt sie fordernd an.

Ein Traum. Alles das war ein Traum gewesen. Sie sitzt in der Bahn, der Mann in Uniform steht weiter fordernd vor ihr.

Ungelenk fingert sie in ihrem Overall herum, sucht nach der Innentasche und findet schließlich einen Fetzen Papier. Flecken aus Wasser und Blut zieren den Abschnitt, aber er ist lesbar.

Hofft sie jedenfalls.

Der Mann blickt auf den Fetzen, nickt kurz. „Das Abteil für Humanoide ist im letzten Waggon. Hier ist die zweite Klasse für Menschen.“

Sein Blick wandert durch den Waggon. Er ist leer – bis auf ihn und Samira ist niemand hier. Auch der Waggon dahinter ist leer, ebenso der hinterste und damit auch letzte der drei Waggons. Wenig verwunderlich um diese Uhrzeit. Niemand fährt um drei Uhr morgens mit dieser Bahn. Niemand außer dieser Humanoiden und ihm.

„Ich mache eine Ausnahme. Aber wenn ich dich nochmal hier erwische, wird es teuer. Verstanden?“

Samira nickt langsam, nimmt ihr Ticket wieder an sich und lässt es im Overall verschwinden.

Dann sieht sie nach oben. Die LED-Anzeige zeigt vier Ziffern.

03:11

Draußen ist alles dunkel. Der Zug schwankt und wackelt. Aus den Lautsprechern dröhnt die Stationsansage. Endstation. Sie ist angekommen.

Mit aller Kraft rappelt Samira sich auf und spürt, wie ihr gesamter Körper schmerzt. Sie blickt auf das Fenster, sieht ihre Reflexion darin und einige Spuren von Blut, ein dickes, unterlaufenes Auge und ihre in zwei Teile gebrochene Brille, die ihr schief auf der Nase hängt. Aber ihre Beine tragen sie, wenn auch unter Schmerzen.

Raus aus dem Zug. Von hier aus noch etwa ein Kilometer bis zur Werkstatt, zum Keller und ihrem Bett. Sie fühlt sich so unendlich müde, fühlt die Schmerzen in ihrem Leib. Was genau passiert ist – sie weiß es nicht mehr. Im Halbschlaf muss sie sich wieder auf den Bahnsteig und die nächste Bahn geschleift haben. Oder hat sie jemand in die Bahn gesetzt? Sie weiß es nicht mehr.

Der Kilometer zieht sich. Ihr Knie schmerzt, ihr Fuß schmerzt, ihre Hüfte schmerzt. Nein, ihr gesamter Körper schmerzt. Sie hustet, spuckt etwas Blut, zittert. Ihr Overall und auch die T-Shirts darunter sind vollkommen durchnässt.

Es ist kurz vor 4, als sie in ihrer Behausung ankommt, die nassen Sachen von sich streift und ins Bett fällt. Nur ein paar Stunden Schlaf und sie muss wieder zur Arbeit.

5:30

Der Wecker klingelt. Noch vollkommen erschöpft von weniger als zwei Stunden Schlaf stellt sie ihn auf Wiederholung. Sie hat ihre Sachen nur halb ausgezogen bekommen. Es wird also schnell gehen. Nur eine Stunde Extraschlaf…

6:55

Übernächtigt steht Samira vor dem Spiegel, zieht ihre Kleidung zurecht. Sie ist dreckig, Öl gemischt mit Erde gemischt mit Blut gemischt mit undefinierbaren Flecken. Ihr rechtes Augenlid ist geschwollen. Die Brille hängt schief. Noch immer tut ihr alles weh, ist sie unendlich müde. Aber sie muss arbeiten.

„Wie siehst DU denn aus?“ kommentiert Jonas ihren Anblick.

Samira schweigt, widmet sich ihrer Arbeit. Jonas aber rennt zum Chef, redet auf ihn ein, gestikuliert. Dann Gebrüll, gefolgt von lauterem Gegengebrüll. Beides verebbt.

„Gab es gestern Probleme bei der Lieferung?“ fragt die Stimme vom Chef hinter ihr.

Samira dreht sich um. Seine Augen mustern sie, werden kurz etwas weiter, der Blick finster, ernst.

„Du gehst heute Nachmittag zum Optiker und lässt dir eine neue Brille machen. Und danach nimmst du dir frei und beseitigst diese Kampfspuren. Verdammt, du verschreckst mir noch Kundschaft so wie du aussiehst!“

Mittag. Sie macht zum ersten Mal mittags Feierabend, geht runter in ihre Behausung. Es dauert ungewöhnlich lange, bis sie ihren Overall und die übrigen Kleidungsstücke ausgezogen hat. Dann nimmt sie ein schwarzes T-Shirt, streift es sich über und schlüpft in ihre Jeans. Die Hose ist ihr wieder enger geworden, lässt sich kaum schließen.

Schließlich angelt sie nach ihren Schuhen. Rote Chucks. Maßanfertigung nach ihren Wünschen und ihrer Fußform. Das einzige Kleidungsstück hier, das ihr wirklich passt. 849 Euro das Paar – aus einer Zeit, als sie noch besser verdient hat.

Und besser gewohnt.

Und besser gelebt.

Und besser gegessen.

Sie zieht den im rechten Schuh steckenden Neopren-Stützverband heraus und streift ihn sich über den rechten Fuß. Er ist ausgeleiert, aber er wärmt und hilft zumindest etwas. Meint sie jedenfalls.

Dann streift sie die Schuhe, einen nach dem anderen, über, schnürt beide, steht auf.

Das Gefühl ist deutlich angenehmer als in ihren Arbeitsschuhen. Sie blickt kurz in den Spiegel im Bad, betrachtet sich.

Sie sieht grässlich aus. Das schwarze T-Shirt ist viel zu weit, die Hose zu eng, die rechte Hälfte ihrer Brille hängt nur an der Augenschwellung, die linke ist schon runter gerutscht.

Dann nimmt sie den mp3-Player mitsamt dem Kopfhörer, drückt sich die Ohrhörer in die Ohren und schaltet ihn ein. Die Hälfte des gebrochenen Displays erwacht zum Leben, zeigt nur einen Teil des Titels an, der spielt. Unnötig – sie kann den Titel eh nicht lesen. Aber sie genießt die Musik, die da in ihre Ohren schallt. Die Klänge von Saxofon und Klavier beruhigen ihre Nerven.

Dann verlässt sie ihre Behausung wieder in Richtung Optiker.

„Das Gestell habe ich hier auf Lager. Und die Gläser…hrm…du hast Glück, dass so gut wie niemand welche mit Minus vierzehn Dioptrien braucht.“

Der Optiker fingert an dem Tresen herum, die Reste ihrer Brille vor sich auf dem Tisch. Es hat nicht viel Überzeugungskraft seinerseits gebraucht, um darauf hinzuweisen, dass die Kunststoffgläser gerissen und das Gestell derart gebrochen waren, dass sich eine Reparatur nicht lohnen würde. Und der Optiker wiederum kannte die Humanoide bereits, die seit dem Unfall in der Werkstatt mehrmals gekommen war, um sich ihre Augen untersuchen zu lassen. Es hatte ihm in der Seele weh getan, als er hörte, wie sie beinahe ihr Augenlicht verloren hatte und sie sich selbst die billigste Brille, die er ihr anbieten konnte, nicht zu leisten fähig war. Daran hatte sich mittlerweile, wenn er sie sich richtig betrachtete, noch immer nichts geändert. Und wenn, dann eher zum Schlechteren hin.

Samira hört den Ausführungen des Optikers zu, hat dafür einen der Ohrstöpsel heraus gezogen, lauscht auf dem anderen noch immer ihrer Musik. Die Klänge, die eine Mischung aus Jazz und klassischer Musik sind und ihr von einer Freundin, die sie aus den Augen verloren hat, gegeben wurde, wirken beruhigend. So erträgt sie die Nähe dieses Menschen, den sie mangels Brille nur schemenhaft sehen kann.

„So, hier. Probier die hier einmal.“ sagt der Mann und schiebt ihr kurzerhand die neue Brille auf die Nase. Samira erschreckt kurz, ehe aus dem milchigen Brei aus Farben, Schatten und Licht vor ihren Augen durch die kleinen, eingerahmten Fenster wieder Klarheit und erkennbare Formen erscheinen.

„Leider keine Kunststoffgläser, sondern richtiges Glas diesmal. Du musst damit vorsichtiger umgehen. Und es ist etwas teurer fürchte ich.“

Samira schluckt trocken. Sicher hat sie das Trinkgeld von dem Mann von gestern, aber die 20 Euro braucht sie auch so, um sich etwas zu essen leisten zu können. Und die Brille klingt teuer.

„Einem Menschen ohne Versicherung würde ich jetzt rund hundert Euro für die Gläser und das Gestell berechnen. Bei Humanoiden dagegen…“ begann er auszuholen. „…muss ich höhere Preise nehmen. Hundertfünfzig mindestens.“

Sie reißt die Augen auf. Drei Monatseinkommen, von denen sie jeweils irgendwie zu überleben versucht und von denen nichts übrig bleibt. Solche Beträge – wie soll sie so etwas bezahlen? Erneut kocht die Panik in ihr hoch. Doch der Mann hebt beschwichtigend die Hände.

„Es gibt andere Wege. Ich werde versuchen, etwas mit der Versicherung von deinem Chef zu arrangieren. Aber das bleibt unter uns.“

Der Weg zurück zu ihrer Behausung zieht sich noch deutlich mehr, jetzt, da sie den Weg wieder sehen kann. Die Müdigkeit und die Schmerzen in ihrem Körper nehmen zudem wieder zu, sie sehnt sich nach ihrem Bett.

Kaum das sie in ihrer Wohnung, so man das Zimmer mit Dusche so nennen kann, fällt sie direkt auf ihr Bett, ohne sich auszuziehen. Sie braucht Schlaf. Dringend.

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III. Kein Rückweg

Der Regen wollte und wollte nicht aufhören. Noch immer schüttet es wie aus Eimern, kämpft sie sich den durchaus rutschigen Weg den kleinen Hügel hinab zum Bahnhof, ringt mit ihrer Brille, die bei der ganzen Feuchtigkeit ständig beschlägt und ihr so die Sicht nimmt. Dann endlich, nach mühevollen zwei Kilometern, erreicht sie den Bahnhof. Wann genau eine Bahn kommt, in welchen Bahnhof sie fährt – sie kann es nicht sagen. Nur die Himmelsrichtung, in die sie wohl muss, kennt sie. Das, und die Karte, die sie zum Glück noch aus dem Navi in Erinnerung hat.

Auf dem Bahnsteig tritt sie unter das kleine Vordach, blickt auf die Karte, nickt dann für sich. Das hier würde die richtige Bahn sein, sobald sie kommt. Und hier ist sie erst einmal aus dem Regen raus, bis der Zug endlich…

„Hey du Missgeburt. Verpiss dich aus dem Unterstand.“ zischt eine Stimme rechts neben ihr. Sie blickt in die Richtung, sieht eine Gruppe Jugendlicher. Einer davon zeigt auf sie.

„Ja, mit dir red ich. Hau ab, oder es setzt was!“

Samira seufzt, wendet sich ab und tritt zurück in den Regen. Sie merkt nicht, wie es den vier Jugendlichen offenbar nicht reicht und zwei hinter sie schleichen. So ist alles, was sie spürt, nur der Tritt von hinten in ihre linke Kniekehle, fühlt sie, wie ihr Körper runtersackt, sie mit vollem Tempo mit ihrem linken Knie auf den Boden knallt. Leise, zu leise für die Jugendlichen, aber für sie deutlich spürbar, knirscht etwas in ihrem linken Knie.

Vor fünf Jahren hatte sie sich beim Training das Kreuzband in dem Knie gerissen, den Meniskus verletzt, war ihr Knie im Anschluss operiert worden. Es war zwar stabil, aber wenn das Wetter sich änderte oder wenn sie hin und wieder eine komische Bewegung machte, schmerzte es wie damals, dauerte es einige Stunden bis Tage, ehe sie es wieder normal benutzen konnte. Beim Sport wäre es deutlich schlimmer geworden, doch den konnte sie wegen ihres kaputten rechten Sprunggelenks ja eh nicht mehr machen – und dieses machte normalerweise deutlich mehr Probleme.

Die Vergangenheit zählt jetzt nicht. Das hier und das jetzt ist, was relevant ist. Und in diesem Moment fühlt es sich an, als steche jemand mit einem heißen Messer in ihr Knie. Sie will gerade vor Schmerz schreien, da folgt ein weiterer Tritt gegen ihren Rücken, noch einer gegen ihre Hüfte.

Sie klatscht seitlich über auf den vom Regen nassen Bahnsteig. Doch das reicht den Jugendlichen offenbar nicht. Immer weiter treten sie auf sie ein, treffen Bauch, Brust, Kopf, Nacken, Schultern, Hüfte. Ihre Welt explodiert in Schmerz. Dann, der Bewusstlosigkeit nahe, hört sie ein „Die hat genug. Los. schaut, ob sie was dabei hat.“ – „Was soll so ein Miststück schon dabei haben?“ – „Du weißt doch, dass diese Viecher alles Mögliche geschenkt bekommen. Handys, Bargeld, Schmuck. Such halt.“

Minuten vergehen, in denen die Hände wirklich jeden Winkel von ihr abtasten, aber die kleine Innentasche in ihrem Overall zum Glück übersehen.

„Nichts. Die hat gar nichts dabei!“ kommt ein enttäuschter Ausruf. „Und was machen wir jetzt mit der?“- „Hier liegen lassen und abhauen.“ – „Spinnste? Wir wollen doch in die Disco!“ – „Na dann wird sie halt hier in den Graben. Komm, pack mit an!“

Jeder von ihnen packt sie an einem Arm oder Bein, zerrt sie über den Bahnsteig an den Rand. Ein letzter Tritt schickt sie in die Tiefe. Büsche, ein Baum, mit dem sie mit dem Kopf gegen knallt, dann endlich bleibt sie irgendwo hängen, ehe sie das Bewusstsein verliert.

Freitag

Die Schmerzen wecken sie. Es regnet nicht mehr, die Sonne ist schon aufgegangen. Ihr ganzer Körper schmerzt unerträglich. Sie sieht nur auf dem linken Auge scharf, stellt fest: Ihre Brille ist zerbrochen, hängt nur noch zur Hälfte auf ihrer Nase. Als sie sich zu bewegen versucht schießt ein scharfer Schmerz durch ihr linkes Knie. Ihre linke Hand tastet danach, fühlt die Kniescheibe, die falsch sitzt, rausgerutscht.

Auf dem Bahnsteig ist Trubel und laufen viele Menschen. Hin und wieder schaut einer zu ihr runter, geht dann weiter. „Nur ein Vieh.“ murmeln einige, andere sagen gar nichts.

Mit aller Kraft drückt sie ihre Kniescheibe zurück in die richtige Position. Es kracht, sie schreit. Eine leere Dose fliegt in ihre Richtung. Dann rollt sie sich zur Seite, greift mit den Händen nach dem Gebüsch, versucht sich aus dem Graben nach oben zu ziehen.

Mühsame Minuten vergehen, bis sie endlich an der Kante zum Bahnsteig ankommt. Die nächste Bahn ist schon wieder weg, der Bahnsteig nun leer. Die Uhrzeit – 10:25. Sie kommt viel zu spät zur Arbeit.

Eine letzte Kraftanstrengung, dann drückt sie sich gänzlich auf den Bahnsteig und auf die Beine. Ihr linkes Knie fühlt sich wackelig an. Ihre halbe Brille, dank der sie nur mit dem linken Auge scharf schauen kann, baumelt mehr zwischen Nase und Auge, als dass sie fest fixiert hält. Blut läuft noch aus ihrer Nase und ihren Mundwinkeln, ihre Kappe ist weg und die Haare hängen nun, zweifach verknotet wie eine unförmige Wurst, halb hinten ihren Kopf runter. Das Blut rauscht in ihren Ohren, lässt sie ihre Umwelt nur noch dumpf wahrnehmen. Gerade meint sie, ihren Namen zu hören. Aber sie sieht nicht von wo, wendet sich in irgendeine Richtung und geht los.

Drei Schritte kommt sie weit, ehe sie auf eine Glasflasche tritt. Dummerweise mit ihrem rechten Fuß, der von der Flasche runter rutscht und mit einem unangenehmen Knacken zur Seite wegknickt. Sie hat die Flasche nicht gesehen – nur verschwommene Bodenmuster. Nun reckt sie die Arme nach vorn, um ihren unvermeidlichen Sturz und das erneute Klatschen auf den Bahnsteig abzufedern. Doch da ist kein Klatschen. Stattdessen spürt sie einen Griff, der von hinten um ihre Hüfte gelegt ihren Sturz verhindert und sie zwei Schritte weiter zur Seite aufrecht gehalten hat. Wie in Trance dreht sie ihren Kopf, blickt in das Gesicht eines jungen Mannes mit schwarzen Haaren, der seinerseits besorgt ausschaut. Doch noch immer rauscht das Blut durch ihre Ohren, ist alles, was sie hört, wie durch Watte gefiltert. Dann spürt sie, wie es wieder dunkel vor ihren Augen wird.

Als sie wieder zu sich kommt, sitzt sie auf einer Bank. Genauer gesagt: Sie liegt halb auf einer Bank, die Beine auf die Bank gelegt, der Oberkörper an etwas Warmes gelehnt. Sie braucht einige Augenblicke, sich zu orientieren, doch der Ort hier kommt ihr völlig unbekannt vor. Auch, weil ihre Brille nun gänzlich fehlt, alles um sie herum verschwommen ist.

„Na, wieder unter den Lebenden?“ hört sie eine bekannte Stimme viel zu nah an ihrem Ohr flüstern. Erschreckt fährt sie mit dem Oberkörper nach vorn, will sie aufstehen, doch eine Hand legt sich auf ihre Schulter, hält sie in Position.

„Nein, das lass besser. Du hast ganz schön was abbekommen. Was zum Teufel ist denn passiert?“

Wieder steigt die Angst in ihr hoch. Doch ihr Körper hat keine Kraft mehr für die Panikreaktionen, die sie gestern – war das gestern? – gegenüber ihren sadistischen Arbeitskollegen gezeigt hat. Als sie also Anstalten macht, nicht länger aufstehen zu wollen, lockert sich auch die Hand auf ihrer Schulter, bis sie gänzlich verschwindet. Stattdessen lehnt sie sich gegen das warme, weiche Etwas hinter sich und schließt ihre Augen, mit denen sie eh nichts andere als Verschwommenes um sich herum sehen kann.

„Ein paar Halbstarke. Nicht schlimm. Alles okay.“ sagt sie leise.

Das weiche Etwas hinter ihr bewegte sich mit einem Zucken und sie meinte eine Art leises Lachen zu hören.

„Dein Chef hat mich heute früh angerufen. Wollte wissen, ob du bei mir geblieben bist oder wo du steckst. Ich habe ihm gesagt, dass du dich direkt auf den Weg gemacht hast. Und ich habe ihm gesagt, dass ich dich schwer verletzt und zusammengeschlagen am Bahnhof liegend gefunden habe.“

Wieder versucht sie, sich aufzurichten, um diesem Kerl direkt in die Augen zu blicken. Doch erneut hält er sie zurück.

„Warum hast du das gesagt?“

„Weil es die Wahrheit ist. Das sieht man doch. Du bist übersät mit Blutergüssen und Prellungen. Ein Wunder, dass du dir nichts gebrochen hast.“

DAS verdankt sie in der Tat ihren Genen. Die Physiologie jener Gene, die für ihre Erschaffung benutzt wurden, sollten sie ursprünglich für den Kampf vorbereiten. Dummerweise wirkte die Veränderung nur auf Knochen, nicht auf den Rest.

„Ich muss zur Arbeit.“

Wieder fühlt sie dieses leichte Beben, hört sie nun ein Kichern. „Wir haben gleich 14 Uhr. Du kommst mit mir mit und dann kümmern wir uns um deine Verletzungen. Wenn du wieder auf deinen eigenen Beinen stehen und dich bewegen kannst, DANN reden wir über deine Arbeit. Aber erst dann.“

Nun wehrt sich Samira doch. Sie beißt auf die Zähne, hebt die Hand von ihrer Schulter, lässt die Beine von der Bank runter und drückt sich mit aller Kraft auf ihre Beine. Ein scharfer Schmerz schießt durch ihr rechtes Bein, lässt sie zurück auf die Parkbank klatschen. Sie beißt auf die Zähne, flucht ein leises „Verdammt.“

Der Mann drückt ihr etwas in die Hand. Sie schaut schielend mit ihren kurzsichtigen Augen drauf, erkennt ihre Brille, die mit Klebeband wieder zusammengeklebt ist. Eines der Gläser hat zwar einen Sprung, aber der ist nicht schlimm. Sie setzt die Brille auf und betrachtet zunächst einmal sich. Sie erschreckt – ist doch ihr Overall bis zur Hüfte runtergezogen, fehlt das unterste, engere T-Shirt und hat man ihr ein anderes, weites, dafür aber schwarzes T-Shirt übergezogen. Ihr rechter Arbeitsschuh und ihre Orthese fehlen. Dafür prangen ein Verband und ein Kühlkissen daran.

„Ist zum Glück nur eine Zerrung, kein Riss. Ich habe dich wohl gerade noch rechtzeitig auffangen können. Aber um dich nach Hause zu tragen bist du doch ein wenig zu schwer, meine Dame.“

„Meine…Sachen…ich…muss zur Arbeit…“ stammelt sie.

„Ja, etwas in der Art hat Pietro auch gesagt. Jedenfalls bis ich ihm gesagt habe, dass das alles hier allein SEINE Schuld ist. Er weiß doch genau so gut wie ich, wie manche Menschen Humanoiden gegenüber drauf sind. Und die Uhrzeit, etwas Alkohol oder andere Drogen machen das nur noch schlimmer.“

Dann steht er auf, blickt ihr von vorn direkt ins Gesicht. Überdeutlich fühlt sie, wie die Panik, die schon die ganze Zeit unterschwellig durch ihren Körper raste, immer lauter, immer ohrenbetäubender verlangt, von hier zu fliehen, aus der Gefahr zu entkommen.

„Er hat zugestimmt, dass er so lange weiter deinen Lohn bezahlt, bis du wieder in Ordnung bist. Und jetzt komm – ich habe deine Sachen…deine anderen Sachen…schon im Auto.“

Ohne auf ein Wort von ihr zu warten, ihr irgendeine Chance des Widerspruchs zu geben, packt er ihren rechten Arm, zieht sie daran hoch, wirft ihn sich über die Schulter und führt sie so, sie so gut er kann stützend, zu seinem Wagen.

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II. Donnerstag

Die Nacht war der Horror. Wieder ist der Ofen viel zu früh aus gegangen, ist die Kälte unter ihre dünne Decke gezogen. Immer wieder ist sie in der Nacht durch heftige Hustenanfälle aufgewacht, konnte nur schwerlich zurück in den Schlaf finden. Immerhin ist heute früh das Wasser schneller warm geworden, schmerzt ihr Knöchel glücklicherweise nicht mehr. Außerdem ist heute Donnerstag – die Lehrlinge bleiben da den ganzen Tag in der Werkstatt und helfen mit. Wobei – EIGENTLICH ist sie selbst noch Lehrling. Zwar mittlerweile im vierten von drei Jahren, weil ihr Chef sie nie zu irgendeiner Prüfung angemeldet hat, aber dafür bekommt sie den selben Hungerlohn wie ein Lehrling im ersten Lehrjahr – 700 Euro.

Nicht viel. Insbesondere, wenn man sieht, was monatlich alles abgezogen wird. Den größten Posten bildet die Tilgung ihrer Schulden – 500 Euro jeden Monat. Und trotzdem wird es noch mindestens zehn, fünfzehn Jahre dauern, bis sie die Schulden abbezahlt hat. Bestenfalls.

Weitere 150 Euro darf sie für diese tolle Behausung mit fließend kaltem Wasser, eisiger Durchlüftung und lediglich einem alten, gusseisernen Ofen, der ihr sowohl als Heizung wie auch Kochstelle dient, abdrücken. Das es hier feucht und modrig riecht, die Beleuchtung noch aus dem letzten Jahrhundert stammt und der ständige Krach…Souterrainwohnung unterhalb der Werkstatt eben, von ihrem Chef ‚netterweise‘ zur Verfügung gestellt. Immerhin hat sie Strom und ein Dach über dem Kopf.

Die übrigen 50 Euro müssen im Monat für alles andere reichen: Essen, Getränke und wenn irgendwann auch mal etwas übrig bleibt auch für dringend benötigte, neue Kleidung.

Seufzend macht sie sich fertig, schlüpft wieder in ihre Arbeitsklamotten und verschwindet aus ihrem Unterschlupf in Richtung Werkstatt. Im Vorbeigehen sieht sie ihr Gesicht nur flüchtig im Spiegel. Dicke Ringe unter ihren Augen zeigen überdeutlich, wie wenig Schlaf sie hatte. Sie seufzt und denkt sich ‚muss ich Sonntag aufholen‘, ehe sie mit dem rostigen, großen Schlüssel abschließt und die Stufen nach oben steigt.

Der Vormittag ist so rau, trubelig und unfreundlich wie immer. Wieder wurde ihr ein „Sonderauftrag“ gegeben: Ein alter Bus, dessen Motor und Getriebe komplett zerlegt und generalüberholt werden müssen. Eine Tagesaufgabe für zwei bis drei Gesellen oder einen Meister und einen Gesellen. Sie darf es allein versuchen. Immerhin ist sie stark, kann die schweren Teile auch allein heben. „Oder wozu seid ihr Humanoiden sonst gut?“ schwingt in der Aussage wie eine stumme Beleidigung mit. Ihren Hinweis auf ihre Beinverletzung, dank der sie nicht schwer heben darf, von der ihr Chef sehr genau weiß und stets demonstriert, wie scheißegal ihm das ist, schluckt sie runter, nickt nur leise und geht dann hustend und schniefend an die Arbeit.

Direkt neben dem Bus arbeiten Dawid und Michael zusammen an einem alten Benz. Ein einfacher Ölwechsel, den Michael eigentlich allein hätte hinbekommen sollen. Aber die beiden nutzen die Gelegenheit, um während ihrer Arbeit zu Samira hinüber zu sehen und ihr auf den Hintern zu starren, während sie sich in den Motorraum beugt und das Getriebe zu zerlegen beginnt. Schnell wird klar: Die Kupplung ist nicht nur uralt, sondern auch halb verbrannt, wehrt sich sichtlich gegen den Ausbau. Mit einem kräftigen Ruck ihrer behandschuhten Hände aber rutscht das widerspenstige Teil schließlich aus seiner Halterung und Samira kann es langsam aus dem Motorraum ziehen.

*KLATSCH*

Eine ölverschmierte Schraube fliegt aus der Richtung des Benz auf sie zu, trifft sie an der Hüfte und hinterlässt dort einen sichtbaren Ölfleck zum einen, eine sehr schmerzhafte Stelle zum anderen.

„Hey, heb das auf!“ ruft Michael grinsend. Sie schaut ihn nur einen Augenblick an, blickt dann aber schnell weg. Sie will keinen Streit. Das gibt nur Ärger und würde ihr nur wieder vom Lohn abgezogen. Und ihr Budget ist jetzt schon knapp.

„Hast du nicht gehört? Er hat gesagt du sollst die Schraube aufheben und her bringen du Miststück.“ keift Dawid mit stark russischem Akzent in ihre Richtung.

Für einen Moment schaut sie abschätzend. Nur zu gern hätte sie ihn gänzlich ignoriert und einfach mit ihrer Arbeit weiter gemacht. Aber sie wusste, dass Dawid der Liebling vom Chef war. In der Schule war er ebenso eine Niete wie hier in der Werkstatt. Schon dreimal hatte er Autos als fertig gemeldet, obwohl er nicht alle Schrauben festgezogen oder genug Öl nachgefüllt hatte. Und hinterher hatte er immer irgendwie so gedreht bekommen, dass SIE es gewesen sein musste. Das war auch simpel, denn von jedem wurde erwartet, mittels Unterschrift zu bestätigen, mit dem jeweiligen Fahrzeug fertig zu sein. Sie jedoch konnte weder lesen noch schreiben, wusste nicht, was genau sie unterschrieb – oder besser, was sie mit einem X versah. Und genau jetzt würde er sicher nicht davor zurückschrecken, sie erneut im schlechten Licht stehen zu lassen, wenn sie nicht genau tat, was er sagte.

Ohne noch weitere Zeit zu verschwenden geht Samira also auf die Schraube zu, die Kupplungsscheibe noch in der linken Hand haltend. Zwei spitze Finger reichen und die Schraube liegt in ihrer Hand, drei Schritte und sie steht neben dem Werkstattwagen der beiden, lässt diese dort ohne weiteres Wort drauf klatschen und wendet sich wieder zu ihrem Auftrag um.

Sie hat nicht einen halben Schritt gemacht, da spürt sie eine Hand, die ihren Schwanz dicht an ihrem Rücken packt und daran heftig zieht.

Angst. Sie ist so schlagartig da, wie damals im russischen Gefängnis. Ihr Herz hämmert in ihrer Brust. Ihr Körper ist wie erstarrt, sie kann sich nicht wehren. Auch nicht, als Dawid mit seinen beiden Händen auf ihre Schultern drückt, sie in die Knie zwingt.

„Hast die Wette gewonnen. Jetzt lös deinen Wetteinsatz ein.“ lacht er dreckig, die rechte Hand von hinten auf Samiras rechte Schulter gedrückt haltend. Ihr Blick wandert – auf der Suche nach Hilfe, schnell zu allen Seiten.

Der Bus steht am äußersten Ende der Werkstatthalle. Der Benz direkt daneben. Sie hockt nun dazwischen. Das Büro und die anderen Arbeitsbereiche sind auf der anderen Seite, vom Benz verdeckt. Das haben die beiden genau geplant.

Michael greift den Reißverschluss ihres Overalls, zieht diesen ein gutes Stück nach unten- gerade genug, damit er eine Hand in den Overall hinein und unter das erste T-Shirt schieben kann. Dann umgreift er ihre rechte Brust und drückt zu.

Samira kneift die Augen zu. Die beiden Männer lachen. Ihr Puls rast. Panik. Schwärze.

Was genau dann geschieht, bekommt sie nicht mehr mit. Nur, wie Michael, seine Nase haltend, zwei Meter weiter in der Seite des Benz klebt, Dawid dagegen drei Schritte von ihr zurückgetreten ist und sie, mit einem Hechtsprung, den sie sich nicht erklären konnte, nun hinter dem Bus stand, sich an die Seite lehnend und heftig, schnell und geradezu hechelnd atmend.

„WAS IST DENN HIER LOS?!?“ brüllt Pietro, der Chef, mit seinem Organ quer durch die Werkstatt. Michael gestikuliert, hält seine Nase. Blut rinnt heftig aus ihr raus. Dann deutet er auf Samira.

„Die hat mir die Nase gebrochen!“ tönt es in Richtung des Busses, hinter dem sich Samira versteckt. Mehr bekommt sie nicht mit – das Blut rauscht ihr durch den Kopf, die Panik hat sie noch voll gepackt. Sie bekommt auch nicht mit, wie sich der Chef neben ihr aufstellt, ihr eine Standpauke hält, dann aber mitten im Satz stockt, als er sieht, wie ihr Overall zur Hälfte geöffnet ist und ihr T-Shirt halb nach oben gezogen raushängt.

Es folgt noch weiteres Geschrei und Gezeter hinter ihr, weiter weg, nur noch schwach hörbar. Dann Stille. Etliche Minuten hört sie nichts außer ihrem hämmernden Herzschlag, der sich nur allmählich beruhigt und ihr erlaubt, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

„Geht es wieder?“ hört sie nach fast einer halben Stunde die Stimme von Jonas neben ihr. Ihr Blick wandert zu ihm. Er schaut besorgt.

„Tut mir leid.“ sagt er, scheinbar vollkommen ernst gemeint. Ihr Blick wandert langsam nach oben, durch die Fenster des Busses und rüber zu dem Benz. Niemand da.

„Der Chef ist mit Michael zum Krankenhaus. Gibt ihm auf dem Weg hoffentlich eine gehörige Standpauke, hier so einen Mist abzuziehen.“

Erst jetzt stellt Samira fest, dass ihr T-Shirt noch halb draußen hängt, ihr Overall offen ist und sie so ein wirklich mieses Bild abgibt. Eilig stopft sie das T-Shirt zurück, schließt den Reißverschluss wieder.

„Du hast übrigens Glück gehabt, dass der Chef dich so gesehen hat. Er wollte dir das, was Michael an dem Wagen kaputt gemacht hat, von deinem Lohn abziehen. So hat er nur gemeint, dass du den Schaden heute schnellstmöglich beseitigen sollst und die Sache ist erledigt. Musst nur bis heute Abend fertig werden.“

Sie blickt den Benz durch das Fenster genauer an. Linker Außenspiegel abgerissen, Beule in der Tür, Seitenscheibe kaputt. Immerhin scheint der Ölwechsel fertig zu sein. Aber die Tür auszubeulen wird zeitraubend.

„Ich kann dir gern mit dem Bus helfen. Dann geht es schneller.“ meint Jonas. Samira aber schüttelt den Kopf.

„Die Kupplung ist hinüber. Und zwei Zylinder sitzen fest. Der Motor ist hinüber, für das Getriebe müssen wir neue Teile bestellen.“ fasst sie knapp zusammen, geht dann im großen Bogen um Jonas auf den Benz zu. Kurzer Blick auf die Uhr – 14:23. Wie lange hat sie hinter dem Bus gestanden und nichts getan?

Drei Stunden später taucht der Chef wieder auf. Samira hat unterdessen eine komplett neue Tür von einem Wagen, der eigentlich zur Verschrottung sollte, ausgeschlachtet, die Innenverkleidungen getauscht, den manuellen Fensterheber gegen den elektrischen getauscht, alles wieder angeschlossen und ist gerade dabei, den Spiegel wieder richtig einzustellen.

„Was sollte der Scheiß heute Mittag?!“ brüllt der Chef, viel zu nahe neben Samira, in ihre Richtung los. Die zuckt erschreckt zusammen, macht einen Sprung nach vorn und wendet sich dabei in der Luft in seine Richtung.

Sein Kopf ist hochrot. So wirkt er, der ihr gerade einmal knapp über die Hüfte reicht, noch bedrohlicher, als sie Menschen grundsätzlich empfindet. Aber sie versteht nicht, was er meint, legt den Kopf etwas schief.

„Wenn du nochmal einen der Jungs zu verführen versuchst, schmeiß ich dich zurück in die Gosse, aus der du zu mir angekrochen gekommen bist.“

Sie starrt ihn an. Sie – ihn verführt? Wie denn? Sie blickt an sich herab. Ihre Brüste sind unter ihrem Overall nahezu vollständig verborgen, ihre Haare stecken in ihrer Mütze, alles an ihr ist verdeckt. Wie sollte sie denn…?

„Er wusste, dass er sich nicht mit einem von euch einlassen soll. Also belasse ich es dieses eine Mal bei einer Verwarnung. Und jetzt zur Arbeit – ist der Wagen fertig?“

Samira zeigt auf den Wagen. Von den Schäden, als Michael gegen die Seite geknallt ist, kann man nichts mehr erahnen.

„Und die Stoßdämpfer?“ blafft er los.

Stoßdämpfer? Da hat doch niemand was von gesagt. Woher soll sie denn wissen…

Chef geht zur Windschutzscheibe, greift den Werkstattbrief und zeigt drauf, liest deutlich sichtbar vor.

„Ölwechsel, Kühlflüssigkeit, Spur, Stoßdämpfer. Also, bist du fertig? Der Kunde wartet.“

Sie schüttelt den Kopf. Wie sollte sie das gelesen haben können? Er weiß doch, dass sie nicht lesen kann.

Der rote Kopf des Chefs wird noch eine Idee roter. „DANN BEEIL DICH GEFÄLLIGST! Ich rufe jetzt den Kunden an und sage ihm, dass es länger dauert und DU IHM DEN WAGEN DANN BRINGST!“

Was hat er da gesagt? Samira hebt die Hand. „Ich…darf doch nicht? Kein Führersch….“

„DAS IST MIR SCHEISSEGAL! DU MACHST DAS JETZT FERTIG UND BRINGST IHM DEN WAGEN ODER DU FLIEGST HIER GLEICH RAUS, VERSTANDEN?!“ föhnt er sie mit einer Welle aus heißer Luft und Spucke. Sie tritt noch drei weitere Schritte zurück, dreht sich dann um und rennt in Richtung Lager.

Zwei weitere Stunden später – fast 20 Uhr – und der Wagen ist ENDLICH fertig. Der Chef blickt sie mürrisch an.

„Hier, das ist die Adresse. Ganz oben im Navi. Bring ihm den Wagen – und kein einziger Kratzer, verstanden? Wenn du zurück bist, kannst du hier aufräumen. Und jetzt Bewegung!“

Mit den letzten Worten drückt er auf den Knopf für das große Sektionaltor hinter dem Wagen. Draußen ist es bereits dunkel. Und es schüttet wie aus Eimern. Zittrig bedient sie die Schaltkulisse am Lenkrad, gibt sie vorsichtig Gas. Die beiden Elektromotoren des elektrischen SUV, an dem sie bis gerade eben noch geschraubt hatte, surren leise auf, setzen das Fahrzeug im Kriechtempo in Bewegung.

Zu ihrem Glück ist es ein SUV. In ein kleineres Auto hätte sie nicht hinein gepasst. Auch so ist ihr der Sitz etwas zu klein, kann sie ihn nicht ausreichend weit nach hinten schieben, sitzt eher unbequem. Und sie hat Glück, dass sie hier auf dem Gelände der Werkstatt schon mehrmals Autos hin und her bewegen musste, Übung mit den verschiedensten Modellen, deren Abmessungen und dem allgemeinen Fahren hat. Aber richtig gefahren, auf öffentlichen Straßen – das ist sie noch nie. Auch, weil Humanoide keinen Führerschein besitzen dürfen.

Es ist stockfinster. Zwar hat sich das Licht am Wagen von selbst eingeschaltet, brennen die Straßenlaternen, aber ihre Nachtblindheit schlägt voll zu – sie kann kaum etwas erkennen, fährt also vorsichtig, langsam. Das Navi sagt etwas von 50 Kilometern Fahrstrecke und schätzt etwa 30 Minuten. Eine sehr optimistische Zeitschätzung, wie sie nach einer Viertelstunde selbst feststellen darf.

Mit großer Mühe und Vorsicht biegt sie schließlich, rund eine Stunde nach Abfahrt, in das Wohnviertel ein, in dem der Kunde wohnen soll. Die Hausnummer steht auf dem Navi, aber sie sieht kein Haus mit der Nummer, rollt vorsichtig weiter. Dann eine Sackgasse mit einigen Parkplätzen. In der Ferne meint sie, die Hausnummer zu sehen. Das muss reichen.

Sie parkt das Auto auf dem Parkplatz, schaltet den Wagen ab, nimmt den Schlüssel und öffnet die Tür. Eine Sintflut an Wasser ergießt sich durch die offene Tür auf sie. Binnen weniger Schritte ist sie nass bis auf die Knochen, schließt sie im Gehen noch den Wagen mit einem Druck auf die Fernbedienung ab und beschleunigt sie ihren Schritt in Richtung Haus.

Kurzer Blick – die Nummer stimmt. Das muss reichen. Sie betätigt die Türklingel.

Ein Mann öffnet die Tür. Junges, freundliches Gesicht, schwarze Haare. Er schaut sie freundlich an und bedeutet ihr, näher zu kommen – raus aus dem Regen und unter das Vordach.

„Ah, die Mitarbeiterin von Pietro. Ist er doch nicht selbst gekommen. Komm ruhig rein. Du holst dir da draußen doch den Tod.“

Samira schüttelt den Kopf, hebt nur die Hand und überreicht den Schlüssel. „Ich muss zurück.“

Er legt den Kopf schief. „Es ist jetzt gleich 21 Uhr. Die nächste Bahn fährt in einer Stunde und braucht etwa noch eine Stunde zurück. Und du siehst aus, als hättest du drei Tage durchgearbeitet. Komm rein.“

Sie wiederholt ihr Kopfschütteln und wendet sich ab. „Nein.“ ist alles, was sie sagt. Doch ehe sie den ersten Schritt machen kann, fühlt sie, wie ihr Handgelenk gegriffen wird. Schlagartig ist die Panik wieder da, wendet sie den Kopf zu ihm, die Augen hinter den Brillengläsern weit aufgerissen.

Seine rechte Hand umschließt ihr linkes Handgelenk, während die linke Hand ein Stück Papier in sie hinein drückt.

„Dann nimm wenigstens das hier und kauf dir gleich auf dem Weg etwas zu essen.“

Es dauert nur einen Augenblick, dann löst er seinen Griff um ihr Handgelenk. Für sie das Zeichen: Weg hier! Mit großen Schritten stürmt sie davon, den Schildern in Richtung Bahnhof folgend. Erst etliche Minuten später blickt sie in ihre zur Faust geballten Hand.

20 Euro. Der Mann hat ihr gerade 20 Euro zugesteckt. Und sie ist einfach weggerannt, ohne ein Wort zu sagen.

Sie steckt das Geld weg – in die Innentasche auf Hüfthöhe, die in ihren Overall eingenäht ist. Was sich der Hersteller bei der Platzierung gedacht hat, will sie sich nicht vorstellen. Jedenfalls heißt es nun, auf das Geld gut aufzupassen – damit kann sie sich diese Woche vielleicht doch noch etwas zu essen kaufen. Wenn auch anders, als der Mann es wohl gemeint haben dürfte.

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