„Ich dachte, Humanoide dürfen keinen Führerschein bekommen.“ sagt Samira mit sichtlicher Überraschung, als beide in eine weiße Limousine steigen, Yuki dabei auf den Fahrersitz, den Finger auf den Start-Knopf drückt und der Wagen nahezu geräuschlos losrollt.
„Hier in Deutschland nicht. Aber in Japan hat man ihn mir schon mit sechszehn gegeben. Ich sollte mit den Kindern auch aufs Land und zu den Tempeln fahren können. Und weil man keinen Fahrer gefunden hat, hat man mir Stunden gegeben.“
„Du…bist aus Japan?“
Yuki nickt. „Hai. Aber keine Sorge, ich spreche fließend Deutsch. Und Englisch. Und Russisch. Und Chinesisch, Spanisch, Französisch, Hindi, Malagassi, ein wenig Suaheli sowie noch über zwanzig weitere regionale Dialekte. Aber wir beide fangen erstmal nur mit Deutsch an, oder?“
„In…Ordnung…“ entgegnet Samira, sichtlich beeindruckt. „Wo fahren wir denn…hin?“
„Wie ich schon sagte: Zuerst einmal dir ein paar andere Klamotten besorgen. Etwas, das dir passt und nicht so nass ist. Und nun erzähl doch mal, warum du in so einem – bitte entschuldige, wenn ich es so nenne – Loch lebst, wo du doch schon seit Jahren arbeitest? Du kannst dir doch sicher etwas Besseres leisten als das.“
Samira schüttelt ihren Kopf. „Nein, leider nicht. Ich…ich habe nicht viel Geld..“
‚…dafür aber ziemlich große Schulden.‘ war, was Samira sagen wollte, dann aber nicht gesagt, sondern lediglich derart oberflächlich gedacht hat, dass Yuki es so deutlich hört, als wäre es ausgesprochen worden. Sie nickt nur langsam. „Verstehe. Nun, auch deswegen ist es wichtig, dass du in die Schule gehst und lernst. Nur so kannst du dich weiterentwickeln und einen besseren Job bekommen. Oder willst du ewig Spielball von diesen Machos bei dir in der Werkstatt bleiben?“
Die Reaktion von Samira ist so deutlich, dass es keiner Telepathie bedarf, um sie zu interpretieren. Ihre Gesichtszüge verzerren sich, sie legt ihre Arme um ihre Brust und schluckt trocken. Doch noch ehe sie gänzlich in die Schockstarre, in der sie überzugehen scheint, verfällt, drückt Yuki ein paar Knöpfe am Radio und schaltet mit einem Handgreif einen Sender ein, auf dem gerade ein inbrünstiges Saxophon-Solo spielt, begleitet von sanften Jazz-Klängen.
Binnen weniger Augenblicke sieht Yuki, wie sich ihre Mitfahrerin entspannt, die Augen schließt und den Kopf nach hinten an die Kopfstütze, die ihr leider nur bis zum Nacken reicht, anlehnt.
So vergehen einige Minuten, in denen Yuki bewusst still bleibt und Samira zur Ruhe kommen lässt. Dann, eine gute halbe Stunde und fünf Songs später, dreht sie die Lautstärke etwas herunter und ergreift wieder das Wort.
„Du magst die Menschen nicht, oder?“
Samira behält ihre Augen geschlossen, atmet deutlich hörbar durch die Nase aus. „Du hast Angst vor ihnen, richtig?“
Sie antwortet nicht. Aber die Welle an Gefühlen, die nun richtiggehend durch den Wagen schwappt, ist mehr als genug Antwort.
„Hör mal, nicht alle Menschen sind so schlecht. Ja, es gibt genug Drecksäcke, aber die findest du leider auch in den Reihen von unsereins. Verurteile nicht alle aufgrund dem, was du erlebt hast.“
„Tsk.“ ist alles, was Samira darauf erwidert. Dann legt sie den Kopf zur Seite und blickt durch nur einen Spalt geöffnete Augen hinaus in die vorbeifliegende Landschaft.
„Ich verspreche dir eins: So lange du bei mir bleibst, wird dir kein Mensch auch nur ein Haar krümmen. Du bist ab jetzt meine Schülerin und als Lehrer habe ich die Verantwortung, auf dich aufzupassen.“
„Und wie willst du halbe Portion das machen?“ sagt Samira mit einem kalten, niedergeschlagenen Unterton. „Wo doch selbst ich es nicht geschafft habe…“
„Halbe Portionen sind besonders gefährlich. An denen kann man sich ganz furchtbar verschlucken.“ entgegnet Yuki keck.
Samira reißt ihre Augen auf, blickt schlagartig zu Yuki hinüber, starrt diese an, die den Blick ihrerseits erwidert, aber vollkommen ernst dabei wirkt. Einige Sekunden starren sie sich gegenseitig an. Dann beginnt Yuki mit einem Lächeln, das in ein Kichern übergeht. Ein Kichern, das Samira mehr oder minder ungewollt ansteckend findet und dann, zum ersten Mal seit einer so langen Zeit, dass sie sich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern kann, zu lachen beginnt.
Gut eine halbe Stunde später biegt Yuki mit dem Wagen in ein Parkhaus ein, zieht ein Ticket, fährt auf den nächstbesten Parkplatz und stellt den Wagen dort ab.
„Wo sind wir hier?“ fragt Samira, den Kopf vorstreckend, um etwas zu erkennen. Sie blinzelt mehrmals, versinken die Schatten für sie fast in einem vollkommenen Schwarz, erkennt sie lediglich einige wenige, graue Konturen.
„Kaufhaus. Ich habe dir doch gesagt, dass du ein paar ordentliche Sachen brauchst. Insbesondere etwas Sauberes. Und trockenes.“
„Aber ich…“ beginnt sie als Entgegnung.
„Kein Aber. Jetzt steig aus. Ich zeig dir den Weg.“ drängt Yuki, steigt flugs ihrerseits aus, ist in beachtlichem Tempo schon an der Beifahrertür und hat diese geöffnet, lächelt Samira an. Es braucht nur einen kurzen Blick um zu erkennen, dass Samira Schwierigkeiten damit hat, im Dunkeln etwas zu erkennen. Also greift sie nach der rechten Hand der Tigerdame und zieht sie sanft nach vorn.
„Halt dich einfach an mir fest. Ich bin bei dir, keine Sorge.“
Die weiteren Gänge und das Treppenhaus sind zum Glück gut beleuchtet. Dennoch lässt Yuki die rechte Hand von Samira nicht los, führt sie die Treppen hinab. Große Texttafeln weisen den Weg und erklären, was in welcher Etage zu finden ist. Yuki aber braucht scheinbar keinen davon, geht schnurstracks immer weiter nach unten in Richtung Keller des großen Kaufhauses. Erst als sie ganze drei Stockwerke nach unten gekommen sind und vor einer großen, metallenen Doppeltür ankommen, bleibt Yuki stehen. Links neben der Tür ist eine kleine Theke aufgebaut, darauf eine Kasse und dahinter ein Mann. An seiner Brust hängt ein Namensschild. Er starrt die beiden gelangweilt an.
„Tut mir leid, aber derzeit ist keine Verkäuferin frei. Sie müssen warten.“ murmelt er monoton.
„Das wird nicht nötig sein der Herr. Wir sind nur auf der Suche nach ein paar Kleinigkeiten für meine Freundin hier. Ich werde sie bestmöglich dabei unterstützen. Sie müssen sich keine Umstände machen.“
Der Mann seufzt. Er kennt die Regeln. Aber er will auch nicht unbedingt länger, als irgendwie nötig, mit gleich zwei dieser Viecher in diesem kleinen Foyer warten müssen, ehe sich eine der Verkäuferinnen erbarmt, runter zu kommen. Wofür überhaupt diese dämliche Regel, wo es doch nur diesen einen Eingang gibt und die beiden ihre Einkäufe eh hier von ihm kontrollieren und abrechnen lassen müssen? Und keine von beiden sieht so aus, als hätte sie etwas von hier. Insbesondere nicht dieser orange-rote Riese von einer Humanoiden mit ihren heruntergekommenen Kleidern am Leib, die aussehen, als hätte sie diese aus einem Müllcontainer gezogen.
Er verdreht die Augen. „Also bittesehr, wenn sie meinen. Klopfen sie, wenn sie fertig sind und bezahlen wollen.“
„Haben sie vielen, herzlichen Dank der Herr.“ bedankt sich Yuki mit ihrer gewohnt freundlichen Stimme, als der Mann ihr zur Tür deutet. Mit einem Ruck öffnet sich der eine Flügel des schweren Doppelportals und beide treten ein.
„Au.“ entfleucht Samira mit einem Mal, als sie sich den Kopf an der zu niedrigen Decke stößt.
Yuki blickt nach oben und wie Samira sich mit der linken Hand ihre Stirn reibt, dann leicht gebückt weitergeht. „Oh, bitte entschuldige. Ich habe nicht daran gedacht, dass die Decke für dich zu niedrig sein könnte.“
„Schon in Ordnung.“ murmelt Samira, geht einige Schritte und sieht sich dabei um.
Kleider. Hemden. Hosen. Jacken – sehr feinsäuberlich nach Farbe sortiert, einige dutzend oder hundert verschiedene strahlen aus allen Ecken und Enden. „Ich war noch nie in so…wo…wo bist du…?“
„Hier drüben. Schauen wir doch erst einmal nach einer ordentlichen Hose für dich. Etwas wärmeres als das, was du so hast. Weißt du deine Größe?“
„Ich…ähm…nein, ich glaube nicht…“ stutzt Samira, versucht sich am Geräusch zu orientieren und in Richtung Yuki zu gehen. Doch die Humanoide, die optisch einem Schneeleoparden sehr nahe kommt, verschwindet immer wieder zwischen den Kleiderständern und -regalen, taucht dann Augenblicke später wieder ganz woanders auf.
„Lass mal sehen…“ murmelt Yuki, als sie kurzerhand hinter Samira steht und ihr ein Maßband um die Hüfte schwingt. Samira erschrickt, macht fast einen Satz nach vorn, ehe sie realisiert, dass es doch Yuki ist.
„Oje, ich glaube das schränkt die Auswahl doch ziemlich ein.“ sagt sie und legt eine Hand auf Samiras Bauch. „Aber ich glaube die Übergrößen sind da vorn. Wollen wir doch mal sehen.“
Gerade will Samira etwas sagen, da ist Yuki schon wieder weg. Momente später ruft sie schließlich. „Ja, ich glaube ich hab hier was. Komm mal her.“
Samira blickt in Richtung der Stimme, bahnt sich einen Weg durch drei Reihen Regale. „Hör mal, du musst das nicht tun. Ich…ich kann mir das doch nicht…“
„Tadaa. Die sollte die richtige Größe haben. Ist sogar runtergesetzt, weil sie scheinbar keinem anderen passt. Na komm, probier sie mal an.“ sagt Yuki und hält stolz einen Bügel mit einer schwarzen Cordhose hoch.
„Ich…hier?“ fragt Samira unsicher, aber Yuki deutet nach rechts auf drei große, viereckige Kästen, die vom Boden bis zur Decke reichend hoch stehen und an beiden Enden verschraubt zu sein scheinen.
„Da sind die Umkleiden. Nur zu, probier sie an. Ich schaue derweil, ob ich noch ein oder zwei Oberteile finde. Ach und wenn du in der Umkleidekabine bist, verrat mir doch deine Schuhgröße, ja? Dann schaue ich, was die sonst noch so haben.“
Wieder will Samira protestieren, doch kaum hat Yuki ihr die Hose in die Hand gedrückt, ist sie schon wieder zwischen den Regalen verschwunden. Sie seufzt, geht in Richtung Umkleidekabine, zieht den einen Vorhang zur Seite und lässt sich auf dem darin stehenden, sehr – wirklich SEHR – wackelig aussehenden Hocker nieder. Dann beginnt sie langsam, sich ihrer Schuhe und Hose zu entledigen, die neue Hose anzuprobieren.
Sie hat die Hose gerade halb angezogen, als Yuki ihr drei Oberteile hinein reicht. Eine cremefarbene Bluse, ein dunkelrotes T-Shirt und ein Pullover, ebenfalls dunkelrot, dafür aber mit ein paar schönen Ziernähten an den Ärmeln und am Kragen.
„Versuch mal zumindest die Bluse. Wenn die passt, sollten die anderen Sachen auch passen. Und verrat mir bitte noch deine Schuhgröße.“
Samira nimmt die Sachen entgegen, blickt auf ihre Schuhe. Ein Zettel klebt an der Innenseite der Zunge, darauf Buchstaben- und Zahlensalat, den sie nicht entziffern kann. Also schiebt sie den Schuh kurzerhand unter dem Vorhang hervor.
Der Schuh verschwindet kurzerhand und sie hört, wie Yuki sich auf den Weg macht. Sie hat gerade genug Zeit, um die Hose ordentlich anzuziehen, die Bluse überzustreifen und die Knöpfe zu schließen, als Yuki wieder vor der Kabine steht und ihr eine schwarze Wildlederstiefelette hereinschiebt.
„Das sollte deine Größe sein. Ist leider der einzige in der Größe, der breit genug ist. Alle anderen sind viel zu schlank geschnitten.“
Seufzend nimmt Samira auch die Stiefelette und schlüpft mit dem linken Fuß hinein. Sie spannt etwas an den Seiten, aber passt weitestgehend. Jedenfalls um Welten besser, als ihre Arbeitsschuhe.
„In Ordnung. Und jetzt?“
„Na, lass sehen.“ sagt Yuki, zieht den Vorhang langsam auf, bedeutet Samira, einige Schritte nach draußen zu kommen. Dann legt sie den Kopf schief, umrundet Samira einige Male.
„Hrm…Oben sitzt die Hose gut, aber die Beine sind zu lang. Aber die Bluse sieht wirklich wunderbar an dir aus. Und die Stiefeletten? Wie passen die?“
„Ganz okay…glaube ich.“
„Gut, die sind wenigstens etwas wärmer, wenn es draußen winterlich wird. Sonst holst du dir noch den Tod – und das will keiner. Die Hose kann man ändern lassen. Aber die Bluse lässt du am Besten direkt an. Die sieht um Welten besser aus, als das nasse, schmutzige T-Shirt von dir. Das kommt erstmal in die Wäsche.“
Mit einem Ruck zieht Yuki das Etikett von der Bluse ab, nimmt dann das noch zusammengelegte T-Shirt, den Pullover und das schmutzige, immer noch etwas feuchte T-Shirt, während Samira wieder in der Umkleide verschwindet und in Hose und Turnschuhe zurückwechselt, dann die schwarze Cordhose sowie die Stiefelette anreicht.
Keine fünf Minuten später stehen die beiden wieder an der Tür, klopft Yuki an. Der Verkäufer öffnet die Tür, blickt Samira, die nun in der Bluse steckt, mit tief herabhängenden Mundwinkeln an. „Die hat sie aber vorher nicht getragen!“
„Das ist korrekt der Herr. Hier ist das Etikett – wir haben es vorgezogen, sie direkt in dem besseren Outfit zu belassen. Sie steht ihr, habe ich Recht?“ schreitet Yuki sofort ein, ihr freundliches Lächeln auffahrend, während sie die Hose, T-Shirt, Pullover und Stiefeletten auf die Theke legt und schließlich noch das Etikett der Bluse vor die Augen des Mannes hält.
Der Mann murmelt etwas unverständliches, lässt den Handscanner über das Etikett fahren, blickt kurz auf den Bildschirm und deutet dann ein Nicken an, ehe er zu den anderen Teilen übergeht.
„Bluse, T-Shirt, Pullover, Hose, Stiefel. Macht zusammen eintausendeinhundertzuweiundneunzig Euro. Bar nehme ich an?“
Samira fällt vor Schreck fast das Gesicht nach hinten, als sie die Zahl hört. Sie öffnet ihren Mund, will etwas sagen, aber außer Krächzen kommt da nichts. So steht sie nur da wie ein Fisch auf dem Trockenen, die Augen und den Mund weit aufgerissen, was in ihrem Fall aber wesentlich bedrohlicher wirkt, als bei einem Fisch.
„Karte, wenn ich darf.“ sagt Yuki und zieht eine Kreditkarte aus der Tasche.
Nun ist der Mann sichtlich baff, blickt zuerst auf die Karte, dann auf Yuki, dann nochmal auf die Karte, krächzt etwas von „Ausweis?“, während Yuki kurzerhand einen japanischen Pass mit ihrem Konterfei darauf neben die Kreditkarte legt.
Einige Minuten später steigen die beiden Humanoiden wieder die Treppe hinauf. Samira findet erst wieder die Sprache, als sie am Wagen ankommen und dort ihren Einkauf verstauen. „Wie…wieso hast du….wie…?“ ist jedoch alles, was sie herausbringt.
„Sieh es als eine Art Investition in dich an. Eine Schülerin muss ordentlich angezogen sein. Jedenfalls wird das an der Schule erwartet.“
Samira senkt den Kopf, blickt an sich herab und auf ihre Hose, die noch immer leicht feucht ist, schmutzig und voller Flicken. Noch ehe sie aber aussprechen kann, was sie denkt, legt Yuki ihr eine Hand auf die Schulter.
„Es ist nicht deine Schuld. Mach dir keine Gedanken deswegen. Für den Anfang werden wir beide sowieso die meiste Zeit unter uns sein. Und wenn du erstmal geduscht, die anderen Sachen gewaschen sind und du dich eingelebt hast, sieht die Sache schon ganz anders aus.“
Mit diesen Worten fährt Yuki den Wagen wieder aus dem Parkhaus heraus und in Richtung Schule.
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