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VIII. Doppelter Anschiss

Nach einer ungewöhnlich guten und ruhigen Nacht steht Samira pünktlich um 7 in der Werkstatt, um alles für den Tag vorzubereiten. Zu ihrer Überraschung trifft ihr Chef heute aber nicht, wie sonst üblich, erst kurz vor 9, sondern schon viertel vor 8 ein. Es dauert keine zwei Minuten, da sieht er den noch halb zerlegten Buick auf ihrer Hebenbühne und baut sich kurzerhand direkt neben ihr auf.

„ICH HABE DIR DOCH GESAGT DER WAGEN SOLLTE GESTERN FERTIG WERDEN! WAS MACHT DER HIER NOCH KOMPLETT IN EINZELTEILEN?!“ brüllt er los, donnert sein Organ derart laut durch die Werkstatt, dass die Tore zu beben beginnen.

Samira zuckt sichtlich zusammen, drückt sich rückwärts gegen den auf der Bühne stehenden Wagen.

„Ich…der…der…Wärme…tauscher…“ stottert sie auf den Mann, der gerade mal halb so groß wie sie ist, herabblickend. Trotzdem fühlt sie, wie die Angst ihr Herz zu zerquetschen beginnt, es im Gegenzug in ihrer Brust hämmert, ihr Puls in ihren Ohren rauscht. Ihre Angst lähmt ihren Kiefer, jeden Muskel in ihrem Leib.

„WARUM HAST DU DEN NICHT GETAUSCHT?!? DER WAGEN WIRD GLEICH ABGEHOLT VERDAMMT! DAS ZIEH ICH DIR VON DEINEM GEHALT AB. ACH, WAS RED ICH, SO VIEL BEKOMMST DU GAR NICHT, WIE MICH DAS KOSTET. DU DÄMLICHES, FETTES, FAULES FELLVIEH!“

Mit diesen Worten voller Hass und Abscheu greift er nach einem Schraubenschlüssel und pfeffert ihn in ihre Richtung, verfehlt Samira aber knapp, trifft dafür die Windschutzscheibe des Buick, die unter geräuschvollem Krachen einen langen, von einer Seite zur anderen gehenden Riss bildet und schließlich, ebenfalls geräuschvoll, reißt.

Er stampft schnaubend auf, deutet auf sie. „DIE TAUSCHST DU JETZT SOFORT. UND WENN DER WAGEN NICHT IN ZWEI STUNDEN FERTIG IST, MACH ICH DICH FERTIG, VERSTANDEN?!“ Mit den Worten und ohne auf eine Reaktion von Samira zu warten, dreht er sich um, stapft zur Kaffeemaschine, nimmt sich einen Becher und verschwindet damit in seinem Büro. Zurück bleibt Samira, die sich noch immer an den Buick drückt, nun aber langsam, an den Wagen gepresst, zu Boden sinkt. Ihr Körper zittert unkontrolliert, Tränen schießen in ihre Augen. Sie will weinen. Ihr Körper will weinen. Aber sie kann nicht – die Angst lässt sie nicht. Noch mit Tränen in den Augen rafft sie sich wieder auf die Beine, macht sich ran, die geborstene Windschutzscheibe zu tauschen.

Um Punkt 9 Uhr steht niemand geringeres als Olivier mit einem Mal in der Werkstatt, sieht sich suchend nach Samira um, kann sie aber nirgends erspähen. Auch die Hebebühne, auf der jener alte Buick, von den Pietro gestern noch lamentiert hat, steht mit fehlender Windschutzscheibe und halb zerlegtem Motorblock auf der Bühne, aber von der Humanoiden fehlt jede Spur.

„Hey, hast du eine Ahnung, wo deine Kollegin hin ist?“ fragt er den Gesellen, der gerade eine der Radkappen bemüht langweilig mit einem ölig aussehenden Lappen poliert. Selbst Olivier als Nicht-Mechaniker sieht, dass diese dadurch trotz bester Bemühungen eher dreckiger als sauberer wird.

„Was weiß ich. Vielleicht hat es sich irgendwo in eine Ecke verzogen und flennt. Mir doch egal.“ schnaubt Dawid mit heftigem, russischen Akzent.

„Wieso? Was ist passiert?“

„Der Chef hat sie heute früh ziemlich zusammengebrüllt, weil sie den Wärmetauscher gestern nicht mehr ausgewechselt hat.“ mischt sich einer der Lehrlinge ein. „Ich hab nachgesehen – konnte sie konnte ihn nicht tauschen, weil wir keinen passenden haben. Aber das hat den Chef nicht interess..“

„Hab ich dir nicht gesagt du sollst die Klappe halten und dich um deinen Kram kümmern?!“ schnauzt Dawid den Lehrling an.

„Aber wenn er doch fragt?“

„Halt die Schauze Jonas und mach weiter. Oder willst du fliegen?“

Olivier hebt die Hände, um den Streit zu schlichten. „Danke. Euch beiden. Ich denke ich habe genug gehört.“

Mit diesen Worten dreht er sich auf dem Absatz rum, marschiert schnurstracks auf das Büro zu, drückt die Tür, ohne anzuklopfen, auf und tritt in einer einzigen, fließenden Bewegung ein.

Gerade will Pietro zu einem weiteren Anschiss ausholen, als er Olivier noch im letzten Augenblick erkennt. Seine Mimik lockert sich, ein breites Lächeln erscheint auf seinen Lippen. „Oli, zweimal in einer Woche zu Besuch. Und dann noch so früh. Was verschafft mir die Ehre?“

Olivier schließt die Tür hinter sich, hält seinen „Freund“ dabei die ganze Zeit mit seinem eigenen Blick fixiert. Dann tritt er langsam in Richtung Schreibtisch vor.

„Es geht um Samira.“ sagt er, langsam und ruhig, ohne zu zeigen, wie sehr es gerade in ihm selbst brodelt.

Pietro verdreht die Augen. „Was hat das dämliche Fellbündel jetzt schon wieder angerichtet? Die hat mich heute schon genug Geld und Nerven geko…“

„Sie ist bei dir in der Lehre, ja?“ unterbricht Olivier ihn mitten im Satz.

„Ja, seit..ähm…19 glaube ich…“

„Drei Jahre. Und in diesen drei Jahren war sie wie oft auf der Berufsschule?“

Pietro legt den Kopf schief. „Woher soll ich wissen, wo sie ihre…“

„Und in den drei Jahren ist dir nicht aufgefallen, dass sie nicht lesen kann?“

Ein einzelner, trockener Lacher entflieht seiner Kehle. „Klar. Aber wozu…“

„Keine Schule, keine Lehre, kein Urlaub und fast 70 Wochenstunden, die sie für dich hier in der Werkstatt steht. Seit drei Jahren. Als Lehrling. Ohne, dass sie wirklich ausgebildet wird. Pietro…“

Olivier donnert seine rechte Faust auf den Schreibtisch. Die dünne Tischplatte federt derart heftig nach, dass der halbvolle Becher kalten Kaffees ein Stück in die Luft fliegt und sich bei der Landung über einigen auf dem Tisch ausgebreiteten Papieren ergießt. Ein „Menschpassdochaufverdammtnochmal“ entfleucht Pietro, der schnell nach einer Papierserviette greift, um den auslaufenden Kaffee von den Unterlagen runterzutupfen.

„….WILLST DU MICH VERARSCHEN ODER WAS?!“ brüllt nun Olivier mit einer Lautstärke, die dem Italiener in nichts nachsteht. Im Gegenteil – der Schrei dröhnt durch die geschlossene Bürotür hindurch nach draußen und hallt durch die gesamte Werkstatt, nur um etwa eine halbe Sekunde später als Echo ein zweites Mal in das kleine Büro zu dringen.

„Das hier ist meine Werkstatt! Und die führe ich, wie ICH es für richtig halte, Olivier!“

„DEINE Werkstatt, aber MEIN Geld. Vergiss das nicht, mein Freund. Ich habe dir ein großzügiges Darlehen gewährt, weil du mich um Hilfe gebeten hast. Und ich habe über die Rückstände bei den Raten hinweg gesehen, weil du ihr eine Chance geben wolltest. Und jetzt höre ich, dass du sie wie eine Sklavin ackern lässt und zusammenfaltest – für Fehler, für die sie NICHTS KANN?!“

Olivier wendet sich von Pietro ab, geht einige Schritte weg vom Schreibtisch und hin zur Tür, die auf den Hof nach draußen führt. Vor der Tür stehend schließt er seine Augen, atmet tief durch, ehe er sich wieder seinem italienischen Freund zuwendet.

„Ich habe gestern Abend mit einem Freund gesprochen, der eine Privatschule in der Nähe von Düsseldorf hat. Er meint, dass sie das nötige Wissen, das sie in der Schule verpasst hat, nachholen kann. Aber in Vollzeitunterricht. Ein Jahr lang.“

Jetzt tritt Olivier wieder an den Schreibtisch heran. „Sie wird dieses Jahr auf die Schule gehen. Und DU wirst ihr Lehrlingsgehalt weiterbezahlen, bis sie aufgeholt hat, was sie die drei Jahre hier bei dir hätte lernen sollen – inklusive Lesen und Schreiben. Und du wirst ihr Lehrlingsgehalt entsprechend auf das Niveau anheben, das jemand, der im dritten Lehrjahr ist, haben sollte. Und du wirst…“

Mit einem Griff zieht Olivier den von ihm wieder glattgestrichenen, ehemals zerknüllten Zettel vom Vortag aus seinem Sakko und knallt ihn mit gleicher Heftigkeit wie noch gerade eben seine Faust auf den Tisch.

„…diese gottverdammte Brille bezahlen. Wenn nicht über deine Versicherung, dann aus deiner eigenen Tasche.“

Pietro schnaubt. „Die Schule…bittesehr. Aber warum sollte ich dieses dämliche…“

„WEIL DU EIN ARSCHLOCH BIST UND SIE EBEN SO ZUR SAU GEMACHT HAST. DAS IST DAS MINDESTE. UND KEINE DISKUSSION! NOCH EIN WIDERWORT UND DU KANNST DICH WIEDER NACH SIZILIEN VERPISSEN, FREUND.“

Erneut schließt Olivier die Augen, atmet deutlich hörbar tief ein und wieder aus, öffnet sie wieder und blickt dann Pietro, dessen Gesicht eine Mischung aus Wut und Angst spiegelt, mit kalten, bohrenden Augen an.

Der Italiener hält dem Blick einige Augenblicke stand, ehe er auf den Tisch und den dort von Olivier platzierten Zettel starrt.

„Entschuldige meine Wut, aber ich habe das Gefühl, dass ich mich in dir getäuscht habe. Beweis mir, dass ich mich irre und mach das Richtige.“

Mit diesen Worten reicht Olivier seine rechte Hand über den Tisch zum Handschlag. Pietro zögert einen Augenblick, dann ergreift er die Hand und schüttelt sie, leise vor sich hin murrend.

„Schön, dass der Pietro, den ich gekannt habe, da doch noch irgendwo drin ist.“

Mit nun sichtlich besserer Laune, wendet sich Olivier wieder in Richtung Werkstatt, öffnet die Tür und sieht, wie die Gesellen verdächtig nahe an der Bürotür stehen, schlagartig Kehrt machen und überaus geschäftig tun.

„Da ihr eh alles mitgehört habt – wenn ihr sie seht, sagt ihr, dass sie packen soll. Freitag geht es für sie zur Schule.“

Published inDas Leben von Samira

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