Das einzige, nichtmenschliche Kind, in einem Waisenhaus zu sein ist schon schwer. Das einzige, nichtmenschliche Kind, in einem Waisenhaus mitten in einem kleinen Dorf in Indien zu sein war dagegen die pure Folter für die junge Samira. Zwar war sie aufgrund ihrer Physiologie mit biologischen vier bis fünf Jahren und rund 1,30 Körpergröße, wenn sie aufrecht stand, schon recht enorm hoch gewachsen, gegen die schiere Masse an Kindern, die schon viele Jahre älter als sie waren und sie um ein bis zwei Köpfe überragten, sagte das aber nichts aus. Und das Sprichwort „Kinder sind grausam“ traf bei ihr in besonderer Härte zu.
Das Waisenhaus war schlicht in Aussehen und Ausstattung, bot wenig Beschäftigung und nahezu keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Gleichzeitig teilten sich nur zwei ältere Damen die Betreuung von mehr als fünfzig Kindern untereinander auf – und einige dieser fünfzig Kinder hatten Samira schnell als lebendiges, ungewöhnliches Spielzeug für sich auserkoren, um das vortrefflich gestritten wurde. Nicht jedoch, um etwa mit ihr zu schmusen oder mit ihr gemeinsam zu spielen – sie war im Gegenteil häufig der Spielball in der Mitte einer schieren Meute. Ihre Scheu gegenüber den vielen Menschenkindern wich zwar mit den Wochen und Monaten, die ins Land gingen, doch wann immer sie sich zu wehren versuchte, wurden die Versuche der Kinder, mit ihr zu „spielen“, nur noch vehementer und gewaltsamer. Das gipfelte schließlich im Jahr 2002 – sie entsprach im Alter etwa einer Fünfjährigen – darin, dass einige Zehnjährige geradezu Jagd auf sie machten, nur um dann ihren Schwanz in der Tür einzuklemmen und sie auf der einen Seite der Tür dann mit Müll und Essensresten zu bewerfen, während am anderen Ende zwei an ihrem Schwanz zogen. Irgendwann gaben die Knochen in ihrem Schwanz nach, brach dieser unter leisem Knirschen und blieb in scharfem 90-Grad-Winkel stehen.
Vom Schmerz angestachelt, versuchte Samira ihrerseits sich zur Wehr zu setzen und zog mit aller Kraft, um ihren Schwanz wieder zu befreien. Doch die beiden auf der anderen Seite der Tür zogen kräftiger am nun schief stehenden Schwanz. bogen ihn kurz vor der Biegung noch etwas weiter und brachen ihn so auch an einer zweiten Stelle, kurz oberhalb des ersten Bruchs, so dass ihr Schwanz nun wie ein seltsames Z aussah. Erst durch diesen letzten Impuls sah Samira vollends rot, warf sich mit ihrem ganzen Gewicht und aller Kraft gegen die Tür. Diese gab unter der Wucht, die diese Tiger-Humanoide mit einer für ihr Alter beachtlichen Körperkraft überraschend leicht nach, löste sich aus den Fugen und klatschte schließlich auf der anderen Seite zu Boden. Erst jetzt, durch diesen Krach aufgeschreckt, wurde eine der Betreuerinnen auf sie aufmerksam. Statt sich aber um sie, die sie ja verletzt war oder die Kinder, die sie ja angegriffen hatten, zu kümmern, fiel ihr Blick zuerst auf die nun kaputte Tür, dann auf Samira, die kurzerhand am Kragen ihrer nur mühsam passenden Kleidung gepackt und in die Abstellkammer gesperrt wurde. In den Augen der Betreuer war sie schließlich nichts anderes als eine Abnormität, ein wildes Tier auf zwei Beinen – und ihre braven Kinder mussten vor ihr geschützt werden.
Immerhin hatte die kaputte Tür auch etwas Gutes: Die Kinder hatten nun Angst vor ihr und hielten Abstand. Zumindest so lange, wie sie wach war und sich zu verteidigen wusste…
Frechheiten und Fiesheiten jedoch halten länger an, Lektionen wie jene mit der kaputten Tür geraten beängstigend schnell in Vergessenheit. Spätestens als die Tür, einige Wochen später, wieder repariert, die Farbe getrocknet und die letzten Spuren verwischt waren, kehrte auch die Schikaniererei zurück. Besonders gern ärgerte man sie für die zusammengeschusterten Flickenwerke, die sie als Kleidung trug.
Hierzu sei gesagt, dass Humanoide, gleich welchen Genpools sie entspringen und welche Tier-DNS als Basis genommen wurde, natürlich das Fell ihrer entfernten Verwandten geerbt haben. Samira machte mit ihrem orange-weißen Fell und den schwarzen Streifen, von denen lediglich einer je Oberarm eine seltsame, dünne, rote Umrandung aufwies, keinen Unterschied. Um jedoch zu belegen und zu beweisen, dass man eben kein Tier, sondern ein Wesen mit Intelligenz, mit Bewusstsein und somit „zivilisiert“ ist, hatte die UNO in der Resolution, die nebenbei auch zur Auflösung und Ächtung der Gen-Laboratorien geführt hatte, festgeschrieben, dass nur solche Humanoide, die sich auch entsprechend kleiden, ihre Rechte zugesprochen bekommen sollten. Wer sich indes gänzlich ohne Kleidung zeigte, war nicht viel mehr als ein Haustier – oder, wenn es ganz schlecht kam, nur ein ungewöhnlich aussehendes Wildtier. Es war also Gebot für jeden Humanoiden, sich Kleidung zu beschaffen und zu tragen. Und hier kommen wir zu einem weiteren Problem:
Menschen haben eine relativ einheitliche Anatomie. So einheitlich gar, dass gute 99% aller Menschen Standard-Konfektionsgrößen in Supermärkten, in Bekleidungsgeschäften oder im Zweifelsfall auch beim Schneider kaufen können. Humanoide dagegen besitzen eine andere, recht eigene Physiologie und leicht andere Proportionen, als sie für einen Menschen typisch sind. Wo also weite T-Shirts noch passen mögen, scheitern viele spätestens an den Hosen und der fehlenden Öffnung für den Schwanz, den falschen Beinlängen oder den zu engen Öffnungen für die doch recht breiten, langen, digitigraden Füße, für die wiederum Schuhe oder Stiefel nahezu gar nicht zu bekommen sind. Bedeutet also: Alles, was ein Humanoider tragen will, muss entweder auf Maß geschneidert oder umgenäht und angepasst werden. Um den Vorschriften und der Zivilisiertheit auch wirklich gerecht zu werden, greifen viele zu einfachen Sandalen, lassen die Hosenbeine dafür einfach bis runter zu den Zehenspitzen reichen und dort lose schlackern. Wieder andere nehmen alte, viel zu große Stiefel und schneiden sich diese zurecht – den Rest besorgen dann überlange Schnürsenkel, Klebeband oder Nähkünste.
Samira hatte direkt in mehrerlei Hinsicht Pech: Nicht nur war ihre Kleidung selten, sie wuchs auch überraschend schnell aus ihr raus. Das bedeutete ständige Nacharbeiterei, neue Flicken, neue Nähte und dergleichen. Zu sagen, sie wäre ein laufender Flickenteppich, wäre noch eine Untertreibung gewesen. Einzig eines – ein rotes Halstuch, das sie einmal aus der Wäsche gefischt und seither nicht mehr fortgegeben hatte – blieb konstant und ihr Markenzeichen. Und eben jenes rote Halstuch war es auch, mit dem sich die Kinder gerne Späße erlaubten. Doch im Dezember 2002, kurz vor ihrem 6. „Geburtstag“, wenn man es so sagen möchte, ging einer der Jungen in seiner Hänselei einen entschiedenen Schritt zu weit: Er angelte sich das Tuch vor Samira aus der Wäsche, hielt es stolz vor ihr in die Luft, setzte es dann unter seiner Nase an und schniefte seine volle Nase in das Halstuch hinein, ehe er es zusammenknüllte und in ihre Richtung warf.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben sah Samira dunkelrot. In diesem Moment war ihr egal, dass der Junge fast 1,70 und sie nur 1,40 war. Es war ihr auch egal, dass der Junge 13 und sie nur knapp über 5 Jahre jung war (streng genommen sogar noch viel jünger). Ohne nachzudenken stürmte sie auf ihn zu, ihre rechte Hand zur Faust geballt, um ihm diese mit aller Kraft ins Gesicht donnern zu lassen.
Welche Kraft sie tatsächlich bereits in diesem jungen Alter besaß, hatte sie nie wirklich ausgekostet oder ausprobiert. Es war ihr in diesem Moment aber auch egal – und sie spürte vor Zorn gar nicht, wie ihre Hand den Jungen am Kinn traf, es unter ihren Fingern leise knackte und der Kopf des Jungen ruckartig nach rechts-hinten geschleudert wurde. Eine Wolke aus Blut, begleitet von zwei Zähnen, die lose durch die Luft segelten, blieb noch einen Augenblick an der Stelle, wo vor Sekundenbruchteilen der Kopf des Jungen gewesen war, ehe die umstehenden Kinder mitbekamen, wie Samira einen der stärksten Jungs des gesamten Waisenhauses mit einem Schlag zwei Meter durch den Raum und auf den Boden geworfen hatte.
Sofort war die Panik da. Die eine Hälfte der Kinder fing an panisch zu kreischen, während zehn andere sich ein Harz fassten und ihrerseits auf Samira – dieses verhasste Tigermonstrum – losgingen und ihrerseits auf sie einprügelten. Einer von ihnen erwischte ihr linkes Ohr und zog mit aller Kraft daran, um sie zu Boden zu ringen. Doch der linke Ellenbogen traf ihn knapp unter dem Auge, ließ ihn nach hinten stürzen. Sein Griff um ihr Ohr jedoch löste sich nicht – und zu seiner Überraschung hielt er, als er durch das zuschwellende Auge auf seine Finger blickte, ein kleines Stück von ihrem Ohr zwischen zwei Fingern.
Samira blutete aus ihrem gerissenen, linken Ohr. Das Blut und der Schmerz brachten sie noch weiter in Rage. Alles, was sie in den vergangenen Monaten ertragen hatte, brach mit einem Schlag aus ihr heraus. Der Kampf mit den sicher zwölf halbstarken Jungs dauerte realistisch gesehen nicht einmal eine Minute, für sie jedoch schien mit jedem Faustschlag, mit jedem Tritt, jedem Ellenbogenhieb und jedem Jungen, der im hohen Bogen zur Seite flog, eine Ewigkeit zu verstreichen.
Die Konsequenz für das, was sie angerichtet hatte, war diesmal nicht die Abstellkammer. Sie wurde stattdessen an ihrem noch heilen Ohr gepackt und achtkantig aus dem Waisenhaus herausgeworfen – auf die Straßen des kleinen Dorfes in der Nähe von Delhi. Mitten im Winter.
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