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Kategorie: Samiras Hintergrundgeschichte

Die Hintergrundgeschichte der Tiger-Mensch-Hybriddame namens Samira

Abschnitt 12 – Der Status Quo Stand heute

All das, was in der Vergangenheit geschehen ist, wie sie sich entwickelt hat und was so vorgefallen ist, hat seine Spuren bei der Tigerhumanoiden hinterlassen. Noch immer ist sie eine Gefangene, eine von anderen abhängige Dame. Der einzige Unterschied zu den vorherigen Abhängigkeiten, der fast schon Gefangenschaft gleichen Abhängigkeit von Trainern, von Möchtegern-Vätern oder jenen Wärtern hinter Gittern war, dass sie nun die Gefangene ihres eigenen Lebens war. Die Schulden, die sie für die verhunzten Behandlungen ohne ihr Wissen auf ihren Rücken aufgeladen hatte, drückten unbarmherzig auf sie hinab, zwangen sie, nahezu ihr gesamtes Einkommen in die Tilgung zu stecken und karg zu leben. Ihr geliebter mp3-Player und die Musik darauf sind der einzige Trost, den sie in ihrem Leben finden kann. Und so trägt sie, wann immer sie die Möglichkeit hat, ihre Kopfhörer, flieht so aus der wirklichen Welt in die Welt der Musik, träumt dort von einem besseren und vielleicht etwas faireren Leben.

Ihr Job verschlingt sie geradezu. Sicher, sie hat in den Jahren vorzügliche Fortschritte gemacht, doch Ausbildung oder Lehre wurden von ihrem Chef nie als offiziell abgeschlossen bezeichnet. Immer hatte er andere Vorwände, sie noch ein wenig länger auszubilden und das schmale Gehalt, das er ihr zahlte, nicht zu erhöhen. Ihr fehle der „Teamgeist“, wie er ständig wiederholte, erwartete er doch, dass sie mit anderen zusammenarbeitete, diese unterstützte oder ihnen die Teile brachte, die diese nicht tragen konnten oder wollten. Am Ende, das spürte Samira überdeutlich, wurde sie von ihrem Chef und auch den übrigen Angestellten eben nur als Arbeiter zweiter Klasse wahrgenommen – als ein Fremdkörper, der zufälligerweise recht stark und nützlich war. Die meisten empfanden sie mehr als Sache, denn als Person – und ihre Angst vor den Menschen, die zu einer kühlen Distanz diesen gegenüber führte, so dass sie sich regelmäßig in die hintersten Ecken der Werkstatt oder ins Lager zurückzog, taten ihr Übriges: Sie fiel nie auf, wurde von Kunden nicht als herausragend wahrgenommen, erhielt keine Trinkgelder und wurde auch niemals zu irgendwas eingeladen. Sie war nur ein Stück Inventar, das von morgens kurz vor 7 bis abends lange nach 18 Uhr in der Werkstatt war, arbeitete und dabei im Hintergrund blieb – montags bis samstags.

Das wenige Geld, das von der Schuldentilgung übrig blieb, reichte gerade so, damit sie mit den billigsten Lebensmitteln über die Runden kam. Die Mangelernährung, der fehlende Sport und ihre Vorliebe, sich mit Süßem und folglich kalorienreichen, dafür aber äußerst billigen Speisen zu trösten, dazu noch ein sehr ungesunder Essensrhythmus, führten dazu, dass ihr ihre ursprünglichen Klamotten schnell viel zu eng wurden, ihr hagerer Körper rundlicher und massiger wurde. Zwar nutzte sie ihre freien Sonntage, wann immer es ihr möglich war, für Wanderungen und zumindest etwas Bewegung an der frischen Luft, die Probleme mit ihrem durch die beiden versauten Operationen dauerhaft geschädigten Knöchel wurden durch ihre doch recht beträchtliche Gewichtszunahme nur noch verschärft, zwangen sie, regelmäßige Pausen einzulegen, bremsten sie unangenehm heftig aus.

Aber es gab noch viel größere Probleme: Mit nahezu keinem Geld musste sie zusehen, sich passende Kleidung zuzulegen. Oberteile waren hier weniger ein Problem – T-Shirts fand sie massenhaft in passenden Größen. Unterwäsche dagegen war schon schwerer. Doch das größte Problem waren Hosen, die es billig oder gebraucht quasi gar nicht für sie zu erstehen gab. Und wenn sie einmal eine Hose fand, die in ihrer Größe war und vom Schnitt her auch für Humanoide wie sie gedacht war, verlangten die Läden dafür Beträge, die einem ganzen Monatseinkommen (also inklusive der Kredittilgung) entsprachen. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als zu Discountermodellen von Hosen für Menschen zu greifen und diese dann selbst ein wenig anzupassen. Sie war aber gewiss keine Schneiderin, mit Nadel und Faden alles andere als behände unterwegs. Die Hosen, die sie ergatterte, waren zudem auch nie perfekt in Länge oder Weite. Immer wieder kniffen die Hosen, waren sie entweder am Bauch zu eng oder zu weit, spannten sie an den Oberschenkeln oder Knien, waren die Hosenbeine zu kurz oder viel zu lang.

Ihr größtes Problem aber waren ihre Augen. Hatte anfangs noch eine normale Brille gereicht, waren diese im Laufe der folgenden beiden Jahre immer schlechter, die Brillengläser folglich immer dicker geworden. Zwar hatten sich ihre Augen irgendwann auf dem miesen Niveau stabilisiert, doch mit fast -10 Dioptrien auf beiden Augen war sie ohne ihre Brille nahezu blind. Die Tatsache, dass sie dank dem Unfall mit dem Klimakompressor auch eine hochgradige Nachtblindheit entwickelt hatte, im Dunkeln und bei Dämmerung gar nichts mehr sah und bei widrigen Lichtverhältnissen nur schwer überhaupt etwas erkennen konnte, machte ihr das Leben noch zusätzlich schwer. Ihre Wohnung beispielsweise hatte zwar neben der einzelnen Neonröhre an der Decke noch zwei weitere Lampen, diese boten aber so wenig Licht, dass sie oft blind durch die Schwärze tastend schleichen musste, wenn eben jene Deckenlampe nicht eingeschaltet war.

Was sie sich jetzt, mit 24 Jahren, am sehnlichsten wünschte, war eine Perspektive, um aus dieser Situation, in die sie durch den Fluch ihrer Gene gekommen war, wieder heraus zu kommen. Wie ihr DAS jedoch gelingen sollte, wusste sie selbst nicht.

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Abschnitt 11 – jetzt aber alles gut, oder?

Gern hätte Samira angenommen, dass ihr Leben nun eine glückliche Wendung genommen hätte. Doch wie sehr sie mit dieser Einschätzung daneben lag, merkte sie erst, als sie schon hüfttief drin steckte.

Eine Ausbildung zur Mechatronikerin – das war, wofür sie unterschrieben und was sie sich gewünscht hatte. Tatsächlich wurde sie in der Werkstatt schnell zum Mädchen für alles ernannt, musste sie ihre überlegene Körperkraft einsetzen, um Dinge zu tun, die den anderen Mitarbeitern und Mit-Azubis zu schwer waren. Wenn die Bühnen oder die Wagenheber kaputt waren, durfte sie auch gerne einmal selbst unter die Autos kriechen und diese mit Muskelkraft so weit hoch stemmen, dass ihre Kollegen die Räder und Bremsen montieren und Achsen tauschen konnten. Morgens wurde von ihr, die sie ja unter dem Büro der Werkstatt wohnte, selbstverständlich erwartet, dass sie die Werkstatt sauber hielt und am Abend, dass sie sich um Müll und die übrigen Kleinigkeiten kümmerte, die dem Chef und allen anderen unangenehm waren.

Die „Wohnung“, die von dem Chef so großzügig als Einliegerwohnung im Souterrain angepriesen wurde, war in Wirklichkeit nichts anderes als ein einziger, großer Kellerraum, in dem früher einmal eine große Kohleheizung gestanden hatte und in den eine kleine Zwischenwand eingezogen wurde, um auf den Kacheln, die den Standplatz des alten Ofens markierten, eine notdürftige Dusche sowie einen Klopott unterzubringen. Vom „Wohnraum“, wenn man den Rest so nennen wollte, war diese kleine Nische nur mit ein paar Leichtbauwänden und einem Plastikvorhang, der die besten Tage schon lange hinter sich hatte, abgetrennt. Der restliche Raum war mit einem billigen Bett Marke „Kartoffelkiste“, das gerade so für Samira passte, wenn sie sich etwas zusammenrollte, einen Tisch, der nur noch drei Beine besaß und an einer Seite an der Wand festgeschraubt war, um nicht umzukippen, einen Kleiderschrank ohne Türen, dafür aber mit einer schief hängenden Kleiderstange und einem Kanonenofen in der Raumecke, dessen Rohr hoch in das einzige, schmale und nicht zu schließende Fenster (Modell „Schießscharte“) führte, ausgestattet. Der Boden war gänzlich gegossener Beton, der nur von ein paar ausgelegten, schimmeligen Handtüchern, die wohl Teppiche darstellen sollten, bedeckt, während an der Decke nur eine einzelne, im Betrieb grässlich brummende Leuchtstoffröhre für Licht sorgte. Nur die Wohnungstür machte den Eindruck, wirklich „neu“ zu sein, auch wenn Samira nicht ansatzweise verstand, was die massive Tür denn wirklich schützen sollte. Auch ihre Arbeitskleidung, die sie nach einigen Tagen erhielt, war alles andere als angenehm. Die Arbeitsschuhe beispielsweise hatten zwar ihre Größe und waren auch für digitigrade Füße angefertigt worden, allerdings waren ihre Füße deutlich breiter als die desjenigen, der wohl Modell gestanden hatte. Auch die Nähte und Zierteile waren grässlich gefärbt – grell rosa, um genau zu sein – und bissen sich mit dem von ihr so geliebten Rot. Doch selbst wenn die Farbe gepasst hätte, die Schuhe waren schlicht zu schmal. Doch auf Nachfrage hin blieb es dabei – das waren die Sicherheitsschuhe, die sie zu tragen hatte.

Erschwerend kam noch hinzu, dass Samira nach einigen Tagen, die sie in der Werkstatt arbeitete, spürte, wie ihr rechter Knöchel immer mehr zu schmerzen begann. Irgendwann wurden die Schmerzen so schlimm, dass sie nicht mehr auftreten konnte. Als sie das ihrem Chef sagte und fragte, ob sie zum Arzt gehen dürfe, wiegelte dieser schroff ab, sie solle das gefälligst nach Feierabend oder am Wochenende machen. Krankfeiern gäbe es mit ihm nicht. Also schleppte sie sich am Abend, als sie mit der Arbeit fertig war, humpelnd zur Klinik und beschrieb ihre Probleme. Es brauchte keine große Untersuchung, die Diagnose war klar: Überbelastung. Deutlich wurde ihr empfohlen, sich mehr zu schonen. Als sie sagte, dass dies bei der Arbeit nicht möglich sei, verschrieb ihr die Ärztin eine Orthese, die sie bei der Arbeit tragen sollte und empfahl, den Fuß wann immer es ging auszuruhen und hochzulegen, da Folgeschäden bei ständiger Überlastung nicht auszuschließen seien.

Mit ihrem letzten Geld kaufte Samira also die Orthese, dank der die eh schon engen Arbeitsschuhe an ihrem rechten Fuß nun noch etwas enger saßen. Doch immerhin konnte sie so vorerst schmerzfrei arbeiten.

Auf der Arbeit jedoch merkte sie überdeutlich, wie die anderen Mitarbeiter und Azubis sie ständig mit Blicken bedachten. Auch deswegen zog sie sich in der Werkstatt immer weiter zurück – so weit, wie es denn ging – und beschloss für sich, ihr Aussehen, wenn sie arbeitete, möglichst gut zu verbergen. So zwängte sie ihre Brüste in viel zu enge BHs, zog dann noch ein enges T-Shirt darüber, ehe sie mit einem lockeren T-Shirt und ihrer Arbeitskleidung schloss, ihre Oberweite so nahezu gänzlich unter Kleidung verbarg. Auch ihr Haar, das lang gewachsen und auf das sie so stolz gewesen war, flocht sie jeden Morgen mehrfach zusammen, knotete es und verbarg dann das meiste unter einer Kappe. Selbst ihren Schwanz ließ sie in den Gürtelschnallen ihres Overalls nahezu vollständig verschwinden, so dass sie, wenn sie jemandem nicht gerade frontal gegenüberstand, auf eine gewisse Distanz weder als Frau, noch als Humanoide erkennbar war. Selbst ihre Hände und die schönen, rot lackierten Fingernägel, verbarg sie unter Handschuhen.

Schließlich blieb da noch die Ausbildungsvergütung. Es gab zwar fixe Vergütungssätze, die zu bezahlen waren, doch ihr Chef zwackte einen nicht kleinen Teil für die „Wohnung“ ab, zahlte ihr so nur noch 500 Euro jeden Monat aus. Davon jedoch gingen jeden Monat über 350 Euro zur Tilgung ihres Krankenhauskredites ab. Von den verbleibenden 150 Euro musste sie dann zusehen, irgendwie leben zu können. Das wiederum gelang ihr nur, indem sie wirklich das billigste vom billigen aß und trank. Viel Getreide, viel Fett, wenig Gemüse, nahezu klein Fleisch bedeutete damit eine Diät, die ihr Körper sehr miserabel vertrug, dazu eine große Zahl an billigen Fertiggerichten, die allesamt schnell dafür sorgten, dass zusammen mit dem Fehlen jeglicher, sportlicher Aktivität, ihre vormals schlanke, fast hagere Figur rundlicher wurde, ihr Bauch an Fülle zunahm.

Als Samira im dritten Ausbildungsjahr angekommen war, wurde ihr beiläufig eröffnet, dass sie EGIENTLICH auch die Berufsschule hätte besuchen müssen, um ihre Ausbildung abschließen zu können. Da sie aber mit ihren nun 23 Jahren noch immer nicht lesen konnte, hatte sie das weder gewusst, noch auch nur im Ansatz eine Chance auf das Bestehen irgendeiner Prüfung gehabt. Schulen hatte sie schließlich in ihrem Leben noch nie von innen gesehen. Ihrem Chef war das nur recht – er passte ihren Vertrag so an, dass sie keine Ausbildung, sondern eine Lehre machte, ihr alles Wesentliche hier in der Werkstatt beigebracht würde. Nicht nur bedeutete das, dass er ihr keine höhere Vergütung zahlen musste, er bekam umgekehrt noch Förderung dafür, dass er sie hier unter eigener Arbeit unterrichtete und damit weiterbildete – was er selbstverständlich NICHT tat. Stattdessen ließ er sie so weiterarbeiten wie bisher. Und bei eben jener Arbeit ereignete sich dann leider ein Unfall.

Samira war aufgetragen worden, an einem alten, amerikanischen Lincoln einen Ölwechsel durchzuführen, während einer ihrer Kollegen sich daran machte, einen Fehler am Klimakompressor zu beseitigen. Leider waren die Hebebühnen alle belegt, so dass Samira unter den Wagen kriechen musste, um die Schraube an der Ölwanne zu öffnen und das Öl ablassen zu können. Unbequem, aber sie hatte darin bereits Routine. Als sie aber gerade dabei war, die Schraube zu lösen und ihr Kollege am Klimakompressor arbeitete, platzte an Letzterem ausgerechnet der überalte Schlauch der Klimaanlage, entleerte sich der Kühlkreislauf mit einem Schwall nach unten.

Samira brüllte, als die scharfe Lauge auf sie runter spritzte und sie im Gesicht traf, ihr die ätzende Flüssigkeit in die Augen lief und sie von einer Sekunde zur nächsten nichts mehr sehen konnte. Panisch strampelte sie, versuchte sie, unter dem Auto hervor zu kommen, doch das dauerte lange, mühselige Minuten. Ihr Kollege rannte los, holte Wasser, während ein anderer bereits den Notruf gewählt hatte.

Ihr Chef tobte, als der Krankenwagen vor der Werkstatt stand und Samira trotz seines Protestes eingeladen und ins Krankenhaus gefahren wurde. Dort erfuhr sie dann die niederschmetternde Diagnose: Die Klimaflüssigkeit, die ihr das Gesicht und insbesondere die Augen verätzt hatte, war stark basisch gewesen und tief in ihre Augen eingedrungen, hatte dort beträchtliche Schäden verursacht. Wäre ihr Kollege nicht so schnell mit dem Wasser gekommen und sie in die Klinik gebracht worden, sie wäre an der Menge und Stärke der Lauge vermutlich gänzlich erblindet. So jedoch verblieb eine sehr starke Kurzsichtigkeit und die Notwendigkeit, zukünftig eine Brille zu tragen. Was die Ärzte indes nicht wussten, da sie keine Spezialisten für die Eigenheiten, die Augen von katzenartigen Humanoiden waren: Die Verätzungen hatten die Reflexionsschicht, die es Katzen erlaubt, im Dunkeln zu sehen und gerade bei Dämmerung noch eine überlegene Sehschärfe zu besitzen, als erstes angegriffen und vollständig zerstört. Samira fiel das sofort auf, als sie in der Abenddämmerung aus der Klinik zurückgehen wollte und außer den hellen Punkten der Laternen nur auf Schwärze traf, sich so von Laternenmast zu Laternenmast nahezu blind vorantasten musste.

Die Ärzte hatten ihr angeboten, sie für einige Tage krankzuschreiben, da es offensichtlich ein Arbeitsunfall gewesen war, doch Samira verzichtete darauf, trat am nächsten Morgen mit ihrer neuen, nun dringend nötigen, Brille wieder ihre Arbeit an.

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Abschnitt 10 – am Boden angekommen

Das Bild, das sie sah, kam ihr beängstigend bekannt vor. Es war das selbe Klinikzimmer, in dem sie vor Monaten bereits mit ihrer Knieverletzung gelegen hatte. Nur stand diesmal kein Coach neben ihr, der mit den Ärzten oder der Schwester hätte reden können. Und das konnte sie auch jetzt nicht, denn der Arzt und eine Schwester standen am Fußende ihres Bettes und begutachteten etwas, was Samira aufgrund der hoch gesteckten Decke nicht sehen konnte. Dann fühlte sie mit einem Schlag ein Krachen, begleitet von einem infernalischen Schmerz, der durch ihr rechtes Bein schoss. Zum ersten Mal in ihrem Leben brüllte sie aus ganzer Kehle, so laut, dass die Scheiben in den Fenstern knirschende Geräusche von sich gaben.

Der Arzt und die Schwester sahen zu ihr hinauf, überrascht, dass sie wach und bei Bewusstsein war. Fast entschuldigend meinte der Arzt „hätte ich das gewusst, hätten wir dir zuerst Schmerzmittel gegeben.“ ehe er die Decke zur Seite legte und ihr so den Blick auf ihr rechtes Bein freigab.

„Ich habe das Gelenk wieder gerichtet. Aber die Bänder sind alle gerissen. Vermutlich noch mehr. Aber das müssen Spezialisten herausfinden.“

Samira seufzte tief. Erstens weil sie keine Ersparnisse und niemanden mehr hatte, der für sie bürgen konnte und zweitens, weil sie erneut von den Menschen abhängig war. Immerhin gestand man ihr eine Krücke zu, mit der sie selbst zur nächsten Klinik humpeln konnte.

Dort angekommen eröffnete sie ihr Problem. Doch statt sie abzulehnen, wurde sie stattdessen zu einem anderen Ansprechpartner in der Klinik vermittelt, der ihr anbot, ein Darlehen über den Betrag der Operationskosten zu gewähren, das sie durch die folgende Arbeit abstottern konnte. Sie unterschrieb, ohne das Vertragswerk lesen zu können – denn auch wenn ihr zumindest rudimentäre Deutschkenntnisse beigebracht worden waren, gehörte Lesen noch immer zu den Dingen, die sie nicht beherrschte. Zahlen kannte sie zwar inzwischen, aber das war es auch schon.

Etliche Signaturen ihrerseits später wurde sie erneut operiert, versprach man ihr, dass sie ihren Fuß binnen zwei Wochen wieder benutzen können würde.

Nach besagten zwei Wochen aber merkte Samira, dass ihr rechter Fuß deutlich steifer, unbeweglicher war, sie ihn dazu kaum belasten konnte. Als sie es dennoch versuchte, knackte es böse darin, flammten die nur zu bekannten Schmerzen erneut auf. So schnell sie konnte suchte sie die Klinik erneut auf, schilderte ihre Probleme. Ein anderer Arzt der Klinik übernahm die Untersuchung, ließ zahlreiche Diagnosen anfertigen, machte jede Menge Röntgenbilder, ehe er zu der Erkenntnis kam, dass die Verletzung durch ihren eigenen Fehler offenbar verschlimmert worden war und eine zweite Operation nötig wäre. Erneut folgten viele Formulare, viele Unterschriften, erneut landete sie unter dem Messer und wurde ihr im Anschluss eröffnet, dass sie bitte drei Wochen keinerlei Belastung auf den Fuß bringen sollte.

Ihr Apartment war mittlerweile geräumt worden. Ohne ein Dach über dem Kopf und ohne Idee, was sie jetzt noch machen sollte, wandte sich Samira hilfesuchend an Aera. Die Leopadendame bot Samira an, sie übergangsweise bei sich auf der Couch einziehen zu lassen, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen konnte. Ja, diesen Wortwitz brachte sie wirklich genau so und hob vor Scham beide Hände vor den Mund, als sie merkte, was genau sie da gesagt hatte.

Die drei Wochen vergingen und erneut spürte Samira Probleme mit ihrem rechten Fuß. Diesmal war er aber nicht steif, sondern im Gegenteil viel zu locker. Ganz gleich, wie sehr sie die Muskeln anspannte, er knickte bei jeglicher Belastung einfach zur Seite weg. Zwar verursachte das keine Schmerzen, aber wie sollte sie so trainieren oder gar bei einem Wettkampf teilnehmen? Wieder machte sie einen Termin bei der Klinik. Oder besser: Sie war gerade dabei, als Aera einschritt. Die äußerst belesene Leopardin – Samira hatte mittlerweile herausgefunden, dass sie ursprünglich für den Geheimdienst erschaffen worden war und nach den Sanktionen der UNO 2001 zuerst einen Posten als Dolmetscherin, dann im Laufe der letzten Jahre einen Botschaftsposten ergattern konnte. Und mit diesem Wissen und diesen Kenntnissen hatte sie die Mengen an Papieren, die Samira aus der Klinik mitgenommen hatte, überflogen. Allein schon an dem Gesichtsausdruck, den sie dabei bekommen hatte, merkte Samira, dass etwas nicht stimmte.

„Du warst zu zwei Operationen, richtig?“ fragte Aera. Samira nickte.

„Hier steht, dass für die Behandlungen, die Diagnostik und die Eingriffe nebst Kreditvorstreckung insgesamt 72.485 Euro fällig geworden sind. Das ist doch viel zu viel. Warum hast du das nicht gelesen? Wieso hast du das unterschrieben?“

Samira antwortete nicht. Sie blickte Aera nur entsetzt an. Die packte Samira dann nur am Handgelenk, zog sie auf die Beine, reichte ihr die Krücke aus der ersten Klinik und brachte sie daraufhin zu einem anderen Krankenhaus – einem, das sie selbst kannte und in dem zu Samiras Überraschung am Empfang eine andere Humanoide saß, die Aera übermäßig freundlich begrüßte. Binnen weniger als einer Stunde hatte sie einen Termin mit einer Ärztin, die sich Samiras Fuß genau ansah.

Nach einem Röntgenbild und einem Besuch im MRT blickte die Ärztin die beiden humanoiden Damen ernst an, schüttelte dabei den Kopf. „Metzger. Bestenfalls, wenn ich mir das hier ansehe.“ seufzte sie, deutete auf die klar sichtbaren Narben, die die Außenseite von Samiras Knöchel zeichneten.

„Die haben mehr kaputt gemacht als heil. Ob wir DAS wieder repariert bekommen, kann ich nicht versprechen.“

„Was kostet es?“ fragte Aera, die Zettel mit den überhöhten Rechnungen in Händen.

Die Ärztin legte eine Hand auf die eigene Stirn. „Lass mich eine Kopie davon machen. Ich lege die Aufnahmen, die ich gemacht habe, dazu. Die Rechnung schicken wir denen. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Solche Betrüger verdienen, dass man gegen sie vorgeht.“

Die dritte Operation binnen kürzester Zeit folgte – zum Glück von Samira ohne Berechnung. Und doch wurde ihr im Anschluss offenbart, dass die Schäden, die durch die ursprüngliche Verletzung nicht hinreichend behandelt worden waren, das zu Spätfolgen führen könnte und die Schäden der beiden anderen OPs ihrerseits Schaden angerichtet hatten, der vielleicht noch mit der Zeit verheilen könnte, vielleicht aber auch bleiben und zukünftig Probleme bereiten könnte. Genaueres würde man erst in einigen Monaten oder Jahren sagen können. Zusammen mit der Anweisung, den Fuß einen Monat lang möglichst nicht zu belasten sollte Samira nach besagtem Monat zur Kontrolle kommen.

Jener Monat kam – und bei der Kontrolle bestätigte sich, was die Ärztin vermutet hatte: Die Schäden, die durch die beiden Eingriffe entstanden waren, würden vorerst verbleiben. Sie untersagte Samira bis auf weiteres alle besonders belastenden Aktivitäten, da diese nur zu weiteren Verletzungen führen könnten.

Und von einem Moment auf den anderen war es vorbei mit ihrem Traum, 2020 in Japan anzutreten. Außerdem, das musste die Ärztin leider ebenfalls eröffnen, bestand die andere Klinik weiterhin auf die Erfüllung ihres Kreditvertrages von 72.485 Euro bei einem Zinssatz von 11%. Sie brauchte Arbeit – irgendeine Arbeit. Doch sie hatte keine Ahnung, wo sie zu suchen anfangen sollte.

Es war mehr Glück im Unglück, das sie auf dem Weg aus der Klinik auf jemanden traf, der gerade eingeliefert wurde und von einer Ausbildung zum Mechatroniker sprach, die er gerade hingeworfen hatte, weil es einfach nicht das gewesen war, das er sich vorgestellt hatte. Zu anstrengend, zu schwer die einzelnen Dinge, die man schleppen musste…

Samira merkte sich die Adresse und den Firmennamen, fragte dann die Humanoide am Empfang nach dem Weg und machte sich sogleich auf den Weg dorthin.

Der Betrieb, von dem der Besucher in der Klinik gesprochen hatte, war eine kleine Autowerkstatt in einem schäbigen Teil der Stadt, geführt von einem Italiener, der Samira gerade einmal bis zur Hüfte reichte. Das machte es ihr leicht, über ihre Scheu gegenüber Menschen hinweg zu sehen und ihn um die Position als Auszubildende zu bitten. Der Chef war von ihrem Interesse überrascht, rieb sich aber zufrieden die Hände und nahm das Angebot sogleich an. Auf die Frage, wo sie denn wohne und wohin er die Unterlagen schicken sollte sowie die Antwort, dass sie derzeit keine Bleibe mehr habe, bot er ihr an, einen Teil ihrer Ausbildungsvergütung dahingehend zu wandeln, dass sie im Souterrain unter dem Büro einziehen und die dortige Einliegerwohnung beziehen könne.

Im Glauben, endlich einmal Glück zu haben, stimmte Samira zu, erzählte ihre Geschichte sogleich Aera, die der Tigerdame Glückwünsche ausrichtete aber gleichzeitig um Entschuldigung bat, weil ihre Stelle erforderte, dass sie wegziehen müsse. Sie versprach Samira aber, sobald sich die Gelegenheit bot, einmal zu Besuch zu kommen.

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Abschnitt 9 – …und so entgleist es wieder

Auch wenn Samira sich selbst nicht als sonderlich stark einschätzte, erkannte der Coach, der sie unter seine Fittiche nahm, schnell das Potential in der Tigerdame. Und statt sie auf eine Diät, die bei ihrem schon recht schlanken Körperbau unnötig war zu setzen, meldete er sie für die ersten Wettkämpfe an.

Unsicher – insbesondere im Umfeld von so vielen Menschen – stimmte Samira nur zögernd zu. Ihr Coach dagegen war derart von ihren Fähigkeiten überzeugt, dass er sogar in Vorkasse ging, Samira die Anmeldegebühr spendierte und ihr Trikot und Sportsachen spendierte. Und mit seiner Einschätzung der Tigerdame sollte er goldrichtig liegen, als Samira bei dem Regionalwettkampf im Gewichtheben ihre Gegner mit Leichtigkeit auf ihre Plätze verwies, den ersten Platz nebst Preisgeld einheimste.

Ihr erstes, gewonnenes Geld investierte sie sogleich in einen eigenen mp3-Player und kaufte sich endlich richtige Schuhe in ihrer Größe. Schließlich war sie es leid, die alten Schlappen, die ihr vor zwei Jahren mitgegeben worden waren und die im Winter regelmäßig dazu führten, dass ihr fast die Zehen abfroren, zu tragen. Für diese beiden Dinge ging ihr Preisgeld von 1.000 Euro zwar fast vollkommen drauf, aber da sie keinen Bezug zu Geld hatte, schmerzte sie das nicht im Geringsten.

Das Training für ihren Traum, ihren Wunsch, bei den nächsten olympischen Spielen mitzumachen, nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Bald schon litt ihr Verhältnis mit dem Verein, der sie ursprünglich hierher nach Deutschland geholt hatte. Termine für Fotoshootings überschnitten sich mit Wettkämpfen in allen Ecken des Bundeslandes, dann sogar deutschlandweit, ließen Samira mit der Entscheidung zurück, entweder das eine oder das andere sausen zu lassen. Februar 2017 schließlich reichte es dem Verein – und man sprach sich deutlich dafür aus, dass sie ihr Engagement für den Verein beweisen sollte, indem sie bei einem Benefiz-Spiel des Footballvereins mitspielte. Auf den Einwand ihres Coaches, sie habe keinerlei Erfahrung darin, wurde nur darauf hingewiesen, dass sie groß, stark und trotz ihres schlanken Körperbaus robust gebaut war, um mit dem passenden Outfit schon zu wissen, was zu machen sei. Auch wurde versprochen, ihr nicht den Ball zuzuwerfen – es war viel eher eine Veranstaltung, in der sie Präsenz und Teamgeist zeigen sollte.

Samira war dennoch gegen den Vorschlag. Eine Team-Sportart, so eng mit Menschen zusammen zu spielen, machte ihr Angst. Aber sowohl ihr Coach, wie auch die Vereinsmitglieder redeten mit Engelszunge auf sie ein, bis sie schließlich zustimmte.

Am Matchtag hatte man schließlich einen Helm und ein Trikot gefunden, die beide auch Samira passten – wenngleich der Helm ihre Ohren einzwängte, wodurch sie nahezu taub wurde. Das störte sie überraschend wenig, würde sich aber noch rächen. Das Spiel selbst und ihre Rolle war einfach: Dem des eigenen Teams, der den Ball hatte, den Weg frei halten. Nicht zuschlagen oder festhalten, einfach nur mit Körpereinsatz wegdrängen.

Gegner auf Abstand halten – das beherrschte Samira sehr gut und machte ihren Job auch hervorragend, verhalf dem eigenen Verein so zu zwei Touchdowns. Doch in den letzten Minuten des Matchs war sie es, die durch einen unglücklichen Zufall den Ball in die Hände bekam. Hilfesuchend blickte sie sich um, sah viele ihrer Vereinskameraden schreien, hörte aber nichts, während ein gutes Dutzend Spieler auf sie zu gerannt kam. In Panik rannte sie in irgendeine Richtung, von der sie dachte, dass es die Richtige wäre und fühlte nur, wie sie von der rechten Seite von etwas Schwerem getroffen wurde, dann zu Boden ging. Keinen Augenblick später explodierte ihre Welt in Schmerz, hielt sie sich mit beiden Händen ihr linkes Knie, das in einem äußerst ungesunden Winkel nach vorn gebogen stand.

Die Diagnose im Krankenhaus war ebenso schnell wie ernüchternd: Kreuzbandriss und verletzter Meniskus. Auf die Frage des Coachs, ob es eine Möglichkeit gäbe, das zu operieren und ihr so eine schnellere Rehabilitation zu ermöglichen, wurden beide an eine chirurgische Spezialklinik verwiesen, da derartige Operationen an Nicht-Menschen grundsätzlich Sache von Privatkliniken waren, die für ihre Leistungen auch entsprechende Bezahlungen verlangten. Mit Blick auf die Verdienste, die Samira durch ihre letzten Wettkämpfe erzielt hatte, stimmte er dem zu und veranlasste die Verlegung.

Trotz Operation, die mit nicht weniger als 25.000 Euro ein tiefes Loch in die Kasse ihres Coaches riss und ihre Ersparnisse vollends aufbrauchte, wurde Samira für die kommenden drei Monate jegliche sportliche Aktivität untersagt. Die Verletzung und der Verdienstausfall, da die Teilnahmen bei drei hoch dotierten Wettkämpfen verletzungsbedingt ins Wasser fielen, forderte ihr Coach ohne ihr Wissen bei dem Verein, der sie ja zu dem Spiel genötigt hatte, ein. Dort reagierte man schmallippig auf die Forderung, stimmte aber am Ende unter der Bedingung zu, dass ihr Beschäftigungsverhältnis und alle anderen Verbindlichkeiten damit aufgelöst würden.

Als Samira so nach drei Monaten wieder ans Training gehen wollte, stellte sie fest, dass ihr Verein sie nicht länger zu sehen wünschte, ihr Apartment nicht mehr bezahlt wurde und ihr außer ihrem mp3-Player und ihren Kleidern sowie Schuhen nichts geblieben war. Damit wiederum konfrontierte sie ihren Coach, wütend und enttäuscht, dass er so über ihren Kopf hinweg entschieden hatte.

Als er die Worte „dir dummen Katze muss man doch unter die Arme greifen“ über die Lippen brachte, endete das Gespräch und das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Coach mit einem Faustschlag sowie einer gebrochenen Nase auf seiner Seite. Ihr blieb so nur, die nächsten Wettkämpfe erfolgreich zu bestreiten und wieder etwas Geld einzunehmen, damit sie damit hoffentlich ein neues Apartment bezahlen konnte.

Der nächste Wettkampf war zum Glück nicht weit entfernt. Ohne eine Möglichkeit, in einer Halle zu trainieren, blieb ihr nur, dies in der Natur und so an der frischen Luft zu tun. Leider aber war Sommer – und die Parks und alle Flächen, wo man hätte trainieren können, waren tagsüber randvoll mit Menschen. Ihr blieb so nur, in den frühesten Morgenstunden in den Parks vor sich hin zu trainieren.

Um ihre durch die lange Bettruhe untrainierten Beine wieder fit zu bekommen beschloss sie, kurz vor Sonnenaufgang durch den Park joggen zu gehen. Zu ihrer Freude waren die Waldwege frei und leer, hatte sie diese so nur für sich. Um sich vollends von der Umwelt zu lösen, steckte sie ihre Kopfhörer in die Ohren, startete ihren mp3-Player und lief los.

Sie joggte zum ersten Mal mit ihrem mp3-Player an der frischen Luft. Hier rächte sich, dass sie das billigste Modell genommen hatte, denn alle paar Meter produzierte das Gerät Aussetzer, die sie aus dem Takt brachten. Entnervt zog Samira den mp3-Player mitten im Lauf der aus Tasche, tippte darauf herum, während sie weiter dem Weg folgte. Ärgerlich drückte sie die Skip-Taste, übersprang Song für Song in der Hoffnung, dass sie einen Titel erwischen würde, bei dem sie keine Aussetzer, keine Störungen hören würde, während sie nicht bemerkte, wie der Weg einen leichten Schwenk nach links machte, sie der rechten Böschung immer näher kam. Erst, als sie schnaubend zum letzten Song weiter gedrückt hatte fiel ihr der Fehler auf, den sie gemacht hatte. Doch dann war es schon zu spät. Sie trat mit ihrem rechten Fuß auf die Kante der Böschung, von der aus es einige Zentimeter nahezu senkrecht runter in den Wald ging, knickte um und klatschte im vollen Lauf vorwärts in die Böschung, wo sie dank der doch respektablen Geschwindigkeit, die sie gelaufen war, einige Meter weit rutschte, ehe sie in einem Wust aus Blättern und Erde zum liegen kam. Flüche verließen ihre Lippen, während sie sich aufrappelte, ihr Trikot und ihre Knie vom Schmutz frei klopfte und wieder aus dem Gestrüpp herauskletterte. Kurz seufzte sie, dass nichts Schlimmeres passiert war, als sie sich bereit machte, weiter zu joggen. Als sie aber den ersten Joggingschritt mit ihrem rechten Fuß auftrat, fühlte sie deutlich, dass etwas nicht stimmte. Aber sie ignorierte es, lief weiter – sie musste sich für den nächsten Tag und damit den Wettkampf vorbereiten.

Wieder zu Hause angekommen – sie hatte noch bis Ende des Monats, um entweder das Apartment zu bezahlen oder sich eine neue Bleibe zu suchen – duschte sie sich, um den letzten Dreck aus ihrem Fell zu bekommen und bemerkte dabei, dass ihr rechter Knöchel dicker geworden war. Doch noch immer ignorierte sie es, tat sie es als unwichtig ab.

Am nächsten Tag aber war ihr rechter Knöchel dick geschwollen, schmerzte er bei jeder Bewegung und hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt aufzutreten. Aber was blieb ihr anderes übrig? Sie musste heute an dem Wettkampf teilnehmen und ihn gewinnen. Ansonsten war sie erledigt. Also schluckte sie einige Schmerzmittel, band sich ihre Schuhe extra fest und machte sich auf den Weg zum Wettkampf.

Ihre Gegner hier waren keine Herausforderung. Keiner schaffte es, mehr als 150 Kilo zu heben. Mit Leichtigkeit konnte Samira ihre 180 oder 200 Kilo reißen und damit den ersten Platz und damit auch das Preisgeld für sich einstreichen. Um wirklich sicher zu gehen, entschied sie sich für die 200 Kilo, ehe sie antrat und aufbaute.

Sie setzte an, zog, ob das Gewicht auf Höhe ihrer Hüfte, stieß es dann mit aller Kraft nach oben. Dann, mit einem Mal, kippte die Welt zur Seite, wurde es schwarz vor ihren Augen.

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Abschnitt 8 – Wird es nun besser?

Mit einem Bündel aus Unterlagen und Geld, aber unfähig, irgendwas davon zu lesen, war es mehr Glück als Verstand, auf die richtigen Leute zu treffen, die Samira in einen Zug in Richtung Deutschland setzten. Denn während der gesamten Zeit, die sie zuerst in Indien unter der Fuchtel ihres Pflegevaters, dann in Russland bei den unbarmherzigen Trainern und schließlich im Gefängnis verbracht hatte, wurde ihr von niemandem das Lesen oder Schreiben beigebracht. Selbst Zahlen und alles, was sie in dem Bündel erhalten hatte, waren fremd für sie. Und als sie in den Zug stieg, ein Zugabteil zugeteilt bekam und auf dem gepolsterten Sitz Platz nahm, die Tür zum Flur hin nur aus Glas war und jeglichen Riegel, der sie von außen geschlossen hielt vermissen ließ, während draußen die Landschaft an ihr vorbei raste, war sie zum ersten Mal in ihrem gesamten, nun im 14. Jahr auf dieser Welt andauernden und insgesamt 17. Lebensjahr, wenn man ihr biologisches Alter berücksichtigte, frei und unabhängig.

Doch trotz dieser Freiheit, die jedes Leben verdient hat, fühlte sie Furcht. Stimmen und Gelächter drangen durch die dünnen Wände der Abteile an ihre Ohren. Fremde Sprachen, die sie nicht verstand, nicht verstehen wollte und Bilder aus dem Gefängnis, von den qualvollen Erlebnissen der zahllosen Trainingseinheiten. Bilder rauschten vor ihrem inneren Auge, ließen sie aus Angst zusammenzucken. Ja, sie war frei – und sie hatte panische Angst vor dieser neuen Freiheit, in der sie keinen Halt, keine Orientierung besaß. Und so kugelte sie sich auf ihrem Sitz dicht zusammen, presste ihre Beine dicht an ihre Brust, vergrub ihr Gesicht tief in ihrem Schoß und weinte vor Angst bittere Tränen.

Bei den Grenzkontrollen wirkte sie hilflos, drückte sich vor den uniformierten Herren, die doch nur ihren Ausweis sehen wollten, hilfesuchend und ängstlich in die Nische zwischen Sitz und Fenster, wäre am liebsten heraus gesprungen und um ihr Leben gerannt. Dabei war es nur ihr Pass, den die Beamten sehen wollten – und der befand sich, zusammen mit jener Erklärung, die ihr die Reisefreiheit nach Deutschland bescheinigte, eben genau jener russische Reisepass, der von den Behörden mit einem Archivfoto von ihr im Eilverfahren angefertigt und in ihr Gepäck gepackt worden war, damit sie das „Problem“ möglichst schnell los werden konnten.

Bei ihrer Ankunft in Frankfurt erwartete sie nicht etwa eine Menschenansammlung, sondern eine andere Humanoide – eine Leopardin, um genau zu sein – mit einem Foto von Samira in Händen, um diese abzuholen. Zu Samiras Glück sprach Aera, wie sich die Leopardin vorstellte, neben Deutsch und Englisch auch ein akzentfreies Hindi und führte die fast zwei Kopf größere, dafür aber jüngere Tigerdame zu ihrem richtigen Zug, der sie nach Koblenz bringen sollte. Binnen kürzester Zeit erklärte Aera ihr, dass es ein Sportverein gewesen war, der zu Spenden aufgerufen hatte, weil sie sie als Trainingspartner und Maskottchen für ihren Club wollten. Aera merkte aber auch, welche Furcht Samira vor Menschen entwickelt hatte, mit welcher Scheu sie sich trotz ihrer überlegenen Größe und Stärke versteckte und die kleinere Leopardendame liebend gern vor sich her gehen ließ, die Blicke stets in alle Richtungen wandern lassend.

Aera eröffnete Samira aber auch, dass sie lediglich gebeten worden war, sie zum Verein zu begleiten – offenbar hatte man schon geahnt, dass sie menschlichen Willkommenskomitees nicht wirklich offen und freundlich gegenüber reagieren würde. Welchen Ausmaßes die Angst – nein, Panik traf es eher – von Samira aber war, überraschte selbst die ältere und erfahrenere Aera sichtlich. Als Versuch, der ängstlichen Artgenossin zu helfen, hielt sie ihr ihren mp3-Player hin. Noch ehe Samira verstand, was das Ding war und was die Geste zu bedeuten hatte, stopfte Aera mit den Worten „Musik hilft mir immer, mich zu entspannen. Versuch es doch mal“ die Kopfhörer in Samiras Ohren und drückte auf die Play-Taste.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Samira sanfte, ruhige Klänge, harmonisch und wunderbar. Die grässlichen Stimmen, die Geräusche, die so viele dunkle Erinnerungen in ihrem Gedächtnis weckten, wurden durch harmonische Klänge ersetzt. Binnen Sekunden entspannten sich ihre Muskeln, beruhigte sich ihr Puls und sie fand Ruhe.

In Koblenz angekommen führte Aera die junge Samira zum Sportverein. Unverkennbar war der Kopf eines Tigers auf ein Transparent gemalt – das einzige, das Samira auch ohne die Buchstaben entziffern zu können erkannte und verstand. Als sie sich von Aera verabschiedete und den mp3-Player zurückgeben wollte, winkte diese nur ab. „Du kannst ihn mir zurückgeben, wenn du deinen eigenen mit deiner eigenen Lieblingsmusik hast. Behalt ihn bis dahin einfach.“

Die Wochen und Monate, die folgten, sah sich Samira zum ersten Mal mit Lehrern konfrontiert, die ihr die Sprache beizubringen versuchten. Im Verein nahm sie ihrerseits ihr Training wieder auf, wählte als Trainingszeiten aber jene, in denen niemand anders die Geräte und die Halle benutzte. Dennoch, so wurde es ihr klar kommuniziert, würde sie eine gewisse Arbeit verrichten müssen, um ihren Unterhalt hier zu verdienen. Fototermine gehörten ebenso dazu wie Auftritte und gemeinsame Trainings. Gerade letztere verlangten viel von ihr ab. Nicht körperlich, sondern in ihrem Kopf – ständig musste sie sich zwingen, nicht weglaufen zu wollen. Doch insbesondere jene Fotoshootings, bei denen man dicht gedrängt stand, ließen ihren Puls in die Höhe schießen.

2016 kam – und damit die olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Samira, die in den vergangenen Jahren Fortschritte in der deutschen Sprache gemacht hatte und nun zumindest etwas davon verstand, wenn ihr Gegenüber langsam genug sprach, saß mit großen Augen vor dem Fernseher, bewunderte die Disziplinen. Insbesondere beim Gewichtheben sah sie besonders aufmerksam zu. Für einen Augenblick dachte sie zurück an 2011, fühlte sich an das Training für die Spiele in London erinnert.

Trainingsmäßig ging es ihr nun nicht einmal ansatzweise so gut, war sie nicht mehr so in Form wie damals. Doch im Gegensatz zu damals hatte sie nun ein eigenes, kleines Apartment und einen kleinen Verdienst als Maskottchen, der allerdings gerade genug abwarf, damit sie sich etwas zu essen kaufen konnte. Doch hier und jetzt beschloss sie, ihr Training wieder zu steigern – denn 2020 wollte sie versuchen, bei den olympischen Spielen in Japan anzutreten.

Sie erzählte Aera von ihrem Plan, die versprach, sie mit jemandem bekannt zu machen, der ihr als Coach zur Seite stehen würde. Doch schon ohne besagten Coach legte Samira los, ihr Training selbst in die Hand zu nehmen.

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Abschnitt 7 – Es wird hässlich

Vielleicht hatte Samira gehofft, dass es ein Einzelfall bleiben würde, doch die übrigen Insassen hatten beschlossen, dass sie, die sie ihrem Heimatland doch so geschadet hatte und ja eh kein Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben hatte, nun etwas für sie tun sollte. Und da sie nunmal eine Frau – wenn auch eine sehr behaarte, sehr starke und seltsam aussehende – war, war es klar, was das war.

Ganz gleich, wo sie hin ging, ob sie etwas aß oder zur Arbeit musste, immerzu war sie umringt von mindestens vier oder fünf Männern, die ihr viel zu nahe kamen, sie berührte, über ihre Oberschenkel, ihre Schultern, durch ihr Haar oder ihren Bauch strichen. Wie Fliegen, die um das Hinterteil eines Pferdes schwirrten, konnte sie immer zumindest einige von ihnen wegschlagen, doch es kamen ständig neue hinzu, die zunehmend aufdringlicher wurde. Ihre Versuche, eine Wache oder irgendjemanden zu finden, der die übrigen Insassen davon abhielt, blieben indes fruchtlos. Keiner der Wärter interessierte sich für sie oder die Angelegenheiten der Insassen, so lange keiner auf die Idee kam, etwas kaputt zu machen oder zu flüchten.

Die Belästigungen gingen immer weiter, zogen sich über ein komplettes Jahr hin, ehe jener Typ, dem sie zuallererst die Nase gebrochen hatte, sich erneut ein Herz gefasst und beschlossen hatte, sich an ihr, die nun für seine schiefe Nase verantwortlich war, zu rächen. Auf dem Weg zurück in die Zellen fing er sie zusammen mit drei Zellengenossen ab. Einer von ihnen stellte sich ihr in den Weg, während ein zweiter ihr von hinten in die Kniekehle trat. Lediglich auf einem Knie hockend war die für den Plan des Kerls mit der schiefen Nase notwendige Höhe der sonst viel zu großen Tigerdame kein Problem mehr und er gab seinem dritten und letzten Kameraden mit einem Nicken das Zeichen. Mit einem Ruck griff dieser das Halsband, das Samira noch immer trug, hinten am Nacken und legte sein gesamtes Gewicht hinein, um daran zu ziehen. Schlagartig drückte das metallene Halsband ihr die Luft und die Blutzufuhr ab, versuchte sie noch, dagegen anzukämpfen, wurde ihr aber schon schwarz vor Augen, als der mit der schiefen Nase vor ihr stand, sie angrinste und ein „Kennst du mich noch“ zum besten gab, ehe er mit einem großen Stein in seiner Hand auf ihren Kopf eindrosch und sie so wirklich ins Reich der Träume schickte.

Samira war nicht lange ohnmächtig gewesen – dafür war der Schlag von dem Kerl nicht hart genug gewesen. Doch es hatte gereicht, damit die vier Männer sie zurück in die Werkstatt des Arbeitslagers hatten schleifen, ihre Hände und Beine mit den Ketten, die eigentlich für die hier zu bauenden Fahrrädern fesseln und ihr das Hemd sowie die Hose vom Leib reißen konnten. Sie strampelte und wandte sich hin und her, versuchte krampfhaft, irgendwie Herrin der Lage zu werden, doch die drei Männer hielte sie an den Schultern fest, während der mit der schiefen Nase ihre Unterhose runterzog und mit der flachen Hand auf ihren nun unbekleideten Po klatschte.

„Du wirst jetzt für deinen Verrat zahlen, Bastard.“ spottete er grinsend, ehe er seine eigene Hose öffnete.

Erst drei Stunden später, als die Wachen bei der Kontrolle die leere Zelle von Samira entdeckt hatten, fand man sie – noch immer gefesselt, ihre Kleidung zerrissen neben ihr liegend, weinend – allein in der Werkstatt. Was genau zugestoßen war, konnten die Wachen nur vermuten. Im Gefängnis hingegen sprach sich die Prahlerei der vier, die einer Bestie die Unschuld genommen hatten, wie ein Lauffeuer herum. Angst hatte von diesem Tage an keiner mehr vor der zwar großen, aber offenbar doch recht leicht zähmbaren Tigerfrau, die ihrerseits immer mehr Abstand suchte und ihre Zelle kaum noch verließ. Wenn sie das jedoch tat, kam oft der Kerl mit der schiefen Nase auf sie zu, legte entweder eine Hand auf ihren Po oder eine ihrer Brüste, drückte leicht zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das reichte meist, damit sie ängstlich das Weite suchte und sich für Stunden oder Tage nicht mehr sehen ließ.

Erst Mitte 2014 – unter dem politischen Druck, der durch die Krim-Krise auf Russland und die Machenschaften im Land von den eigenen Landsleuten aufgebaut wurde, änderte sich etwas für die mittlerweile 17jährige Samira: Eine neue Wache, die lange Jahre in der Ostukraine gelebt und gearbeitet hatte, aufgrund der Krise aber zu diesem Gefängnis verlegt worden war, nahm sich ihrer Situation auf eine ganz eigene Art und Weise an: Kurz nachdem ihm aufgefallen war, wie einige andere Häftlinge mit ihr umsprangen und sie sich immer weiter isolierte, machte er Aufnahmen von den Geschehnissen und stellte diese unter einem anonymen Account online. Einige der Bilder, die er dabei veröffentlichte, zeigten deutlich, wie übergriffig die übrigen Insassen waren – und wie wenig sich die Wachen dafür zu interessieren schienen.

Was folgte, war ein öffentlicher Aufschrei. Die Umstände der Verurteilung der Tigerdame wurden plötzlich näher hinterfragt, Dinge wie das Fehlen eines Pflichtverteidigers, die Tatsache, dass sie sich nicht einmal selbst äußern durfte, dass sie als Eigentum betrachtet worden war, eskalierten, wurden mit den früheren Aussagen der Regierung, die sich einmal für die Rechte der Humanoiden stark gemacht hatte und den vielen Anmeldungen ebendieser bei Wettkämpfen in Verbindung gebracht.

Binnen weniger Tage waren ranghohe Offiziere im Gefängnis und hatten jede einzelne Wache, die am vermutlichen Tag der Aufnahmen Dienst gehabt hatte, in Einzelgesprächen in die Mangel genommen. Ein Schuldeingeständnis war das Letzte, was sie öffentlich bekunden wollten. Das hätte für die nächsten Turniere und den eh schon viel zu großen, politischen Druck weiter eskalieren lassen. Und da der neue Wächter nicht der Dümmste gewesen war, wusste er, die Spuren auf mehrere Wachen gleichermaßen deuten zu lassen, so dass sämtliche Untersuchungen ins Leere führten, während der öffentliche Druck auf die Regierung immer weiter wuchs.

Und während man verzweifelt nach Wegen suchte, zu glätten und zu reparieren, was nicht zu glätten oder zu reparieren war, schleuste er ein Angebot von einem kleinen Sportverein aus Deutschland in eine der Befragungen ein. Deren Angebot klang geradezu verlockend: Sie boten an, die Fahrtkosten und die Visakosten zu übernehmen und ihr eine zweite Chance in einem Trainingslager für Kraft- und Ausdauersport zu verschaffen. Bezahlt werden sollte alles von Spenden, die online bei einer Petitionsseite gesammelt worden waren. Alles, was Russland machen musste, war lediglich die Anklagepunkte fallen zu lassen, sie zu begnadigen und ihr eine Erlaubnis zur Ausreise zu erteilen.

So schön das alles auch klang, es wäre mit einem Gesichtsverlust der Regierung einher gegangen. Doch mangels Alternativen kam man nur mit einer kleinen Abwandlung des Vorschlags.

Eines Nachts – sowohl Samira als auch alle übrigen schliefen bereits – stürmten drei Wachen in ihre Zelle, stülpten ihr einen Sack über den Kopf und fesselten sie. Samira, die die Bilder dessen, was ihr in diesem Gefängnis schon alles zugestoßen war, erstarrte vor Angst und begann bereits wieder zu weinen, während sie von den drei Männern quer durch den Zellentrakt geschleift und mit Schwung in einen Transporter geworfen wurde, der kurz darauf mit quietschenden Reifen das Gefängnis in Richtung Westen verließ.

Erst kurz vor der Grenze zur Westukraine blieb der Transporter stehen, warf man sie wie einen Sack Mehl einfach auf die Straße, schmiss noch einen Beutel mit den relevanten Papieren auf sie drauf, ehe der Wagen erneut mit quietschenden Reifen davon raste.

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Abschnitt 6 – Bauernopfer

Aus der Behandlung der ausgerenkten Schulter wurde ein ausführlicher Gesundheitscheck inklusive Blutuntersuchung und Dopingtest. Letzterer endete bereits binnen kürzester Zeit eindeutig: Positiv auf zahlreiche verbotene Substanzen.

Die Konsequenzen der Ergebnisse waren radikal. Binnen Stunden war die Trainingsarena mitsamt aller Nebengebäude inklusive Samiras Unterkunft gesperrt, waren Juri und seine Mitarbeiter festgenommen und auch Samira wurde in Gewahrsam genommen, durfte die Klinik, in der sie näher untersucht wurde, nicht mehr verlassen. Das IOC erhob sogar Anklage gegen Russland wegen gewerbsmäßigen Dopings, drohte, ganz Russland von den kommenden, olympischen Spielen auszuschließen.

Eben jener Umstand war es, der die Haltung Russlands Humanoiden gegenüber änderte. Waren sie anfangs noch Feuer und Flamme dafür, diese für die olympischen Spiele zuzulassen, kippte die Stimmung, wurden diese als durchtrieben, grundsätzlich kriminell und gefährlich charakterisiert. Samira, die tatsächlich nur Spielball von Juri und dessen solventen Herren, die nichts anderes als eine Top-Platzierung Russlands bei den olympischen Spielen im Visier gehabt hatten, wurde von jenen Menschen, mit denen sie noch vor Wochen für so viele Monate und Jahre zusammengelebt hatte, als die tatsächliche Verbrecherin, die einzig wirklich Schuldige hinter der ganzen Angelegenheit entlarvt. Schnell wurden Unterlagen vorgelegt, die die Abstammung einer gewissen S. Mahji von Drogenbossen in Indien und deren Plänen, Mütterchen Russland bei den olympischen Spielen zu sabotieren und bloß zu stellen, belegen sollten. Oberflächlich betrachtet war das alles überzeugend, erst bei näherer Betrachtung wäre der Schwindel aufgeflogen. Doch so genau schaute niemand auf die Unterlagen. Viel zu gern wollten die Menschen glauben, was sie innerlich schon lange gewusst hatten: Humanoide waren eben doch keine mit den Menschen vergleichbaren Wesen, sondern gefährlich und kriminell.

Nur drei Wochen nach der Qualifikation wurde Samira, ohne dass sie eine Ahnung hatte, wie ihr geschah, von der Polizei aus der Klinik abgeholt und vor Gericht gezerrt. Während der gesamten Zeit war sie von den regelmäßigen Injektionen, von denen ihr Körper mittlerweile abhängig geworden war, verschont geblieben. Entsprechend gerädert, mit wenig Konzentration, starken Stimmungsschwankungen und einem Körper, der sich komplett krank und erschöpft anfühlte, saß sie wie ein Häufchen Elend auf einem viel zu kleinen, harten Stuhl, während um sie herum lautstark auf Russisch herum gebrüllt wurde und immer wieder Zeigefinger auf sie deuteten. Sie verstand kein Wort. Und selbst wenn sie die vielen fremden Wörter verstanden hätte, ihr Kopf machte einfach nicht mit.

Erst als am Ende das Urteil gesprochen wurde – in absoluter Stille und von einem Mann, der sich sichtlich die Zeit nahm, diesen Augenblick zu genießen – verstand sie, was vorgegangen war und was sie erwartete:

„Schuldig des Hochverrats – verurteilt zu zwanzig Jahren Haft. Abführen!“

Eigentlich wollte sie sich wehren, als vier Polizisten sie in Ketten legten, in einen Transporter warfen und quer durch das Land fuhren. Doch ihr Körper war so taub, in ihrem Kopf rauschte es. Sie verstand nicht, was mit ihr geschehen war, was sie denn falsch gemacht hatte. Nach zahllosen Stunden schließlich endete ihre vorerst letzte Reise vor den rostigen Toren eines gammeligen Arbeitslagers unter freiem Himmel. Wieder strich die kalte, schneidende Luft durch ihr viel zu dünnes Fell. Doch diesmal nahm keiner Rücksicht auf ihr Unwohlsein, wurde sie nach vorn gestoßen und klatschte, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen, vornüber in den kalten Matsch, mit dem sich ihre Kleidung und ihr Fell vollsog.

Sie hatte immerhin Glück, für die ersten drei Monate in Isolationshaft genommen zu werden. Im Dezember 2011, kurz vor ihrem biologischen, fünfzehnten Geburtstag, waren die letzten Spuren jener Substanzen, die ihr über Monate in großen Mengen gespritzt worden waren, gänzlich aus dem Körper gewichen. Und mit den ganzen Drogen, die verschwanden, gingen auch die künstlichen, männlichen Hormone, die zu dem starken Muskelwachstum, aber auch der Unterdrückung ihrer natürlichen Entwicklung geführt hatten. Ihr Körper hatte daraufhin auf seine eigene Art reagiert: Mit einer Überproduktion jener Hormone, die jetzt, mitten in der Pubertät, das Kommando übernehmen sollten. Doch mit dem Fehlen des Gegengewichts wurde diese Überproduktion nicht weniger, geriet ihr gesamter Körper außer Balance.

Die folgenden Wochen, die sie in besagter Isolation verbrachte, wurde sie von Krämpfen geschüttelt, krümmte sie sich vor Unterleibschmerzen und fühlte sie ein Brennen in ihrer Brust. Auch ihr Haupthaar begann mit einem Mal viel schneller und dichter zu wachsen, ihr Brust- und Bauchfell wurde dichter und ihr Geruchssinn erheblich feiner. Am auffälligsten waren aber ihre Brüste, die binnen kürzester Zeit zu wachsen begannen, bei der Größe, die für Humanoide normal und üblich war, aber nicht stoppten. Erst als sich nach drei Monaten das Ungleichgewicht ihres Hormonhaushalts wieder eingependelt hatte, vergingen die nahezu täglichen Unterielbskrämpfe und stoppte auch das Wachstum ihrer Brüste. Auch ihr übriges Wachstum kam zum Erliegen – zum Glück, denn sie maß bereits, wenn sie sich aufrecht hinstellte, gute 2,26, was es schon recht schwer machte, überhaupt irgendwelche Kleidung für sie zu finden. Gerade ihre Oberweite sorgte nun aber noch für zusätzliche Probleme: Sie drückte sich recht deutlich sichtbar in allen Oberteilen, die ihr vom Gefängnis gegeben wurden, nach vorn war sehr gut sichtbar.

Im Gefängnis, das tatsächlich ein Arbeitslager mit nur wenigen Einzelzellen war, fiel Samira so sofort auf. Die übrigen Gefangenen hatten sie von Anfang an eher skeptisch beäugt, sie als Humanoiden nicht so recht einzuordnen gewusst. Jetzt, als die Monate wieder wärmer wurden, sie aus ihrer Isolation entlassen wurde und deutlich weiblichere Charakterzüge aufwies, als noch bei ihrer Inhaftierung, Das sie ein wandelnder Muskelberg war, war zwar bekannt, doch die Entscheidung, sie deswegen in ein Lager zu sperren, in dem sonst nur männliche Gefangene steckten, führte zu bedenklichen Spannungen im Lager.

Ja, sie war eine Humanoide und damit ein Bastard. Ja, sie war ein gefährlicher Bastard, der dank überragender Körperkraft sicherlich jedem, der ihr quer kam, problemlos den Kopf wie eine überreife Melone hätte zerplatzen lassen können. Doch mit den Wochen und Monaten, die ins Land gingen, in denen man gezwungenermaßen dicht an dicht die schmutzigsten Arbeiten machen musste und zahllosen Gelegenheiten, der Tigerdame näher zu kommen, als sie, die sie stets auf einen gewissen Abstand achtete, schwand die Scheu der Männer vor dem einzigen, weiblichen Wesen im Lager immer weiter.

Irgendwann passierte es dann, dass einer der Häftlinge ihr durchs Haar strich, ein anderer auf ihren Po fasste und ein dritter sich ihr so in den Weg stellte, dass sie sich brummend an ihm vorbei zwängen musste, dabei mit ihrem Oberkörper und Brüsten an seine Schulter kam. Doch statt es dabei zu belassen, hob dieser Insasse seine Hand, legte sie auf ihre Brust und drückte zu…

…das war der Moment, in dem es Samira zu viel wurde. Sie holte ihrerseits mit ihrem Ellenbogen aus, donnerte ihm diesen ins Gesicht und brach ihm so mit einem Schlag die Nase, ehe sie sich mit schnellen Schritten in Richtung Zellentrakt entfernte.

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Abschnitt 5 – Training ohne Rücksicht auf Verluste

Die folgenden Wochen und Monate waren die besten, die Samira in ihrem Leben je erleben durfte. Zum ersten Mal in ihrem Leben bekam sie ein Bett und passende Kleidung zur Verfügung gestellt, war das Essen reichhaltig und gestand man ihr sogar ein eigenes Zimmer inklusive Privatsphäre zu. Im Gegenzug musste sie ihr Haar, das bislang ungekürzt bis zu ihrem Gesäß gewachsen war, opfern, wurde es ihr kurz rasiert, musste sie von morgens bis abends trainieren. Das Training war so hart, dass jeder Muskel ihres Körpers schmerzte. So schaffte sie es schließlich im Sommer von 2008, die 220 Kilogramm, die sie am Anfang gerade so bis zur Hüfte hatte heben können, fast problemlos über ihren Kopf zu heben. Doch der fette Russe – von den anderen wurde er immer Juri gerufen – war mit ihrem Fortschritt offensichtlich nicht so zufrieden, wie er eigentlich sein wollte. Statt sie aber, wie sie es schon kannte, auszupeitschen, ihr Essen zu verweigern oder sie wegzusperren, fand er andere, alternative Wege.

Als Samira eines Morgens zum Training gehen wollte, wurde sie von zwei Männern abgefangen, die sie in einen anderen Raum führten. Dort wurde sie auf einem Tisch festgeschnallt, Geräte angeschlossen, die seltsam piepten, surrten Rasierer, um kleine, runde Flecken in ihr Fell zu schneiden, auf die dann Elektroden aufgeklebt wurden. Feine Stromimpulse zuckten durch ihren Körper, während weitere Monitore zu pfeifen begannen, Drucker brummten. Und als wäre das alles nicht schon genug gewesen, um Samira Albträume zu bescheren, folgten dann Stiche von Nadeln, die ihr in die Arme gestoßen wurden.

Stunden vergingen, ehe Samira aus dem Raum entlassen wurde. Was genau geschehen war, konnte sie sich nicht erklären, aber statt zum Training geschickt zu werden, brachte man sie auf ihr Zimmer. Und das Bringen war in der Tat dringend notwendig, wie sie spürte. Die Welt schien sich vor ihren Augen zu drehen, während die Arme, in denen die Nadeln gesteckt hatten, brannten, als hätte sie jemand in kochendes Wasser gesteckt und dort vergessen. Ihr Herz hämmerte, als wolle es aus ihrer Brust springen und davonrennen. Der Schwindel, den sie spürte, ließ auch nicht nach, als sie auf ihrem Bett lag und sich mit allen Vieren festhielt, weil sie fest davon überzeugt war, dass sie ansonsten zu den Seiten herunterfallen würde. Gleichzeitig fühlte sie, wie ihr Fell am ganzen Körper feucht vor Schweiß wurde, obwohl sie sich aller Kleidung entledigt hatte und nur mit ihrem gestutzten Fell und nahezu ohne Haupthaar oben auf ihrem Bett ohne Bettdecke lag und ob der viel zu niedrigen Raumtemperatur eigentlich hätte frieren müssen.

Dieses unbeschreiblich unangenehme Gefühl hielt den ganzen Tag an, ließ erst am Folgetag langsam nach, als sie erneut zum Training ging und dabei feststellte, dass die schmerzhafte Taubheit ihrer Muskeln abends nicht in dem Maße einsetzte, wie sie es gewohnt war. Also erhöhte sie die Intensität ihres Trainings über die nächsten Tage Schritt für Schritt.

Die Besuche in diesem seltsamen Raum und die Stiche mit den Nadeln folgten dennoch wöchentlich. Jeden Mittwoch wurde sie in den Raum geführt, wurden ihr Arme und Beine festgeschnallt, wurden ihr Elektroden auf den Körper geklebt und zahllose Injektionen verabreicht. Und jeden einzelnen Mittwoch wurde sie danach zurück auf ihr Zimmer gebracht, fühlte sie den Schwinde, brannte ihr Körper und war sie für den Rest des Tages unfähig, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Wochen und Monate gingen so ins Land, ehe Juri ihr eröffnete, was vorging. Er zeigte ein Bild von London und fünf Ringen darauf: Die olympischen Spiele 2012 – und Samira sollte genau dort für Russland im Gewichtheben antreten. Noch etwas mehr als zwei Jahre blieben bis dahin, weniger als ein Jahr für die Qualifikation.

Russland hatte sich beim IOC dafür stark gemacht, dass auch Humanoide, die mittlerweile ja schließlich von der Staatengemeinschaft menschenähnliche Rechte anerkannt bekommen hatten, ebenfalls an den olympischen Spielen teilnehmen durften. Der Protest, dass diese genetisch speziell für gewisse Disziplinen erschaffen wurden, verstummte unter dem Hinweis, dass Menschen dafür viele Jahrzehnte von Training und Erfahrung hatten, mehr Ressourcen zur Verfügung und zudem viel solventere Sponsoren hatten, recht schnell. Daher wurde beschlossen, es intern zu prüfen und zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden.

Mit dem Ziel im Blick ging das Training von Samira weiter. Immer größer wurden die Gewichte, immer härter das Training. Die Schmerzen, die mittlerweile nicht mehr in ihren Muskeln, sondern ihren Gelenken, in ihrer Brust und ihrem Rücken aufkamen, wurden mit Schmerzmitteln betäubt, während die wöchentlichen Besuche in diesem Medizinzimmer mit den Geräten und Spritzen um einen zweiten Tag in der Woche ergänzt wurden. Die ganze Chemie, von der ihr Körper geflutet wurde, hatte ihr zudem noch einen zusätzlichen Wachstumsschub gegeben. Ihre Körpergröße überschritt mittlerweile die 2-Meter-Marke, die Muskeln in ihren Armen, ihrer Brust und ihrem Bauch traten unter dem Fell hervor. Bedenklich war jedoch, dass ihre Brüste, obwohl sie mit mittlerweile 13 Jahren EIGENTLICH schon in der Pubertät stecken und somit zumindest etwas Oberweite besitzen sollte, nahezu flach bzw. nicht vorhanden waren. Dieser Umstand fiel auch Juri auf, der ihr einen Sport-BH mit eingenähten Silikonkissen auf ihr Zimmer legen ließ und ihr vorschrieb, diesen nun wann immer sie konnte unter ihrem Trikot zu tragen. Auch wurden ihre Haare von diesem Tage an nicht mehr so kurz wie bislang geschoren, sondern bis zur Schulter wachsen gelassen, was bedenklich lange dauerte.

2011 und die russlandweite Qualifikationsrunde im Gewichtheben kam. Neben Samira trat lediglich jener humanoide Wolf als Nicht-Mensch im Wettkampf an. Der Rekord einer russischen Gewichtheberin, die ebenso wie Samira nahezu keine Oberweite besaß und optisch eher einem Mann als einer Frau glich, lag bei doch recht beeindruckenden 320 Kilo. Genau jenes Gewicht hob Samira, als sie an der Reihe war, ihrerseits mit überraschender Leichtigkeit an und über ihren Kopf, was die Zuschauer und Punktrichter beeindruckte. Nicht so ihre Kontrahentin, die das Gewicht daraufhin auf 330 Kilo steigerte, nach oben stemmte und nur einen abfälligen Blick für die Humanoide übrig hatte.

Juri sprach mit den Punktrichtern, ließ das Gewicht von Samira statt auf 330 direkt auf 350 Kilogramm erhöhen, ohne seinem Schützling etwas davon zu sagen. Die machte sich an die Hantel, hob diese unter sichtlich größerer Kraftanstrengung an, stemmte sie mit aller Kraft hoch und blickte dann zufrieden zu ihrer Gegnerin.

Weltrekord. Samira war bereits jetzt schon die Siegerin des russischen Wettbewerbs und würde damit im kommenden Jahr für Russland bei den olympischen Spielen antreten. Aber auch dieser Wert schien dem Trainer nicht genug zu sein. Als wolle er seine Konkurrenz gänzlich blamieren, sagte er den Richtern, sie sollten die Hanteln auf 400 Kilo erhöhen.

Nach kurzem Protest wurde seine Forderung schließlich erhöht, trat Samira an eine Hantel, die sie im Training bislang nicht angehoben hatte, griff zu und wuchtete ein Gewicht, das bislang nur in der Männerwelt gehoben wurde, über ihren Kopf. Als sie das Gewicht wieder sinken ließ, spürte sie aber einen spitzen Schmerz in ihrer linken Schulter. Dann, als das Gewicht vor ihr auf den Boden krachte und dort bleibenden Eindruck hinterließ, hin ihr linker Arm nur noch schlaff herab.

Binnen weniger Augenblicke waren die Betreuer und ein Arzt bei ihr, tasteten die Schulter ab und stellten fest, dass diese offensichtlich ausgerenkt war. Allerdings fiel den Ärzten bei der Behandlung die wirklich platte Brust von Samira auf, was sie dazu veranlasste, sie zur näheren Untersuchung vorerst mitzunehmen. Juri protestierte zwar lautstark, doch gegen die Entscheidung der Offiziellen, die vom IOC nach Russland entsandt worden waren, konnte er nichts ausrichten.

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Abschnitt 4 – Jetzt wird’s kriminell…

Erst nach einigen Tagen erwachte Samira aus der Dunkelheit, die durch das verabreichte Betäubungsmittel ausgelöst wurde und sah nichts anderes als Gitter. Ein für ihre Größe zu kleiner – vor Allem viel zu niedriger – Käfig hielt sie gefangen, während vor ihr Männer eine für sie unverständliche Sprache laut vor sich hin bellten. Ihr erster Instinkt war eindeutig – und mit überraschend wenig Anstrengung bog sie die Gitter ihres Gefängnisses so weit zur Seite, dass sie sich fast hindurchzwängen konnte. Doch die Männer vor dem Käfig hatten offenbar schon damit gerechnet, zogen etwas von ihren Gürteln und richteten es auf sie. Lediglich einen einzigen Schritt schaffte sie auf die Männer zu, ehe feine Nadeln ihren Körper trafen, der gleich darauf unkontrolliert zu zucken begann. Dann brach sie kraftlos zusammen, behielt aber ihre Augen offen, sah und spürte, wie die Männer sie in einen anderen Raum schleppten.

Die folgenden Wochen und Monate verbrachte Samira in einer dunklen, viel zu kalten Zelle oder einem Raum mit schmerzhaft blendenden Lichtes, in dem ihr ein Mann in gebrochenem Hindi und mit brummigem Dialekt einige englische Worte eintrichterte. Als er meinte, sie hätte genug verstanden – was besagte Monate dauerte – formulierte er einen sehr einfachen Satz:

„Du gehörst uns. Du bist stark. Du wirst deine Kraft für uns benutzen. Im Wettkampf. Sonst kein Essen. Verstanden?“

Ihr blieb nur, zu nicken. Das Essen, das man ihr bislang hingeworfen hatte, war zwar sowohl zu wenig als auch richtiggehend widerlich, doch wenn sie selbst das verlöre, würde sie ihre gesamte Stärke ebenfalls schnell verlieren.

Nur Tage später stand sie erneut inmitten einer Kampfarena. Diesmal jedoch trug sie kein Gewand aus Flicken mehr, sondern rote, enganliegende, kurze Sportbekleidung und ein metallenes Halsband. Auch die Kampfarena war eine andere – statt einer offenen, verfallenen Halle stand sie in einem großen, viereckigen Ring, der ringsum von deckenhohen Gittern wie ein überdimensionaler Käfig wirkte, während die Luft voller Rauch und sonstigem Gestank, der entfernt an eine Fleischfabrik erinnerte, ihre feine Nase und damit ihre Sinne benebelte. Zu ihrer Überraschung war ihr Gegner, gegen den sie antrat, kein Menschenjunge mehr und auch kein Mann, sondern ein anderer Humanoid. Die lange Mähne, das ockerfarbene Fellkleid und die relativ kleinen, dafür aber böse zusammengezogenen Augen machten es eindeutig: Der hier war aus dem Genom eines Löwen erschaffen worden. Und die zahllosen Prellungen und sichtbaren Narben waren Beleg dafür, dass er offensichtlich schon ein erfahrener Kämpfer war.

Der Augenblick, den Samira beim Anblick des ersten Nicht-Menschen in ihrem Leben überhaupt kurz verwundert zögern ließ, reichte schon, damit ihr Gegner auf sie zustürmen und ihr mit einem kräftigen Haken fast das Licht auspusten konnte. Krachend donnerte sie gegen das Gitter hinter sich und ließ ihren Kopf gerade noch rechtzeitig zur Seite sacken, damit der zweite Haken von dem Löwen sein Ziel verfehlte. Dann ballte sie ihrerseits die Fäuste und ließ ihren rechten Haken von der Seite gegen seinen Bauch donnern. Diesen Schlag aber schien der routinierte Kämpfer schon erwartet zu haben, denn statt dem Bauch traf sie nur den linken Arm, der den Schlag abzublocken versuchte. Zu seinem Entsetzen steckte hinter ihrem Schlag aber mehr Kraft, als er erwartet hatte, wurde der Arm mit in seine Seite gerammt und erzielte der Schlag so zumindest einen kleinen Effekt. Der erfahrene Kämpfer merkte so schnell: Die Stärke von ihr könnte ein Problem werden. Er musste es also schnell beenden und durfte ihr keine Chance geben, ihre Stärke gegen ihn einzusetzen.

Während Samira sich gerade bereit machte, ihrerseits anzugreifen, rammte ihr Gegenüber ihr seinen linken Ellenbogen mit aller Kraft in den Bauch. Schlagartig schoss die Luft aus ihren Lungen, wurde ihr für einen Augenblick schwarz vor Augen. Dieser Augenblick genügte, damit ihr Gegner erneut seinen rechten Haken einsetzen und sie diesmal genau an der Schläfe treffen konnte. Dieser Schlag sollte dann tatsächlich auch das letzte sein, was Samira in diesem Kampf noch spüren sollte. Danach folgte nur noch Dunkelheit.

Als sich der Trubel gelegt hatte, kam sie wieder zu sich. Doch statt Sorgen, die vielleicht angebracht gewesen wären, folgten Ohrfeigen ob ihres schändlichen Versagens im Ring. Und man beschloss: Sie würde trainiert werden. Ob sie es nun wollte, oder nicht.

Gewichte wurden ihr an Arme und Beine geschnallt, ein Hindernisparkour, den sie so schnell wie möglich mit diesen Gewichten bewältigen sollte, aufgebaut. Schneller, immer schneller und mit immer mehr Gewicht sollte sie laufen. Statt Anfeuerungsrufen knallten Peitschen hinter ihr, trafen ihren Rücken, schnitten die Schläge tiefe Wunden in Fell und Fleisch. Doch wirklich schnell wurde sie nie.

Auch im Kampftraining mit Boxsäcken, mit Sparringpartnern und der immer präsenten Stoppuhr zeigte sich, dass ihre Geschwindigkeit und ihre Reflexe im besten Fall im Mittelmaß lagen. Die Wucht, die hinter jedem Treffer lag, reichte aber aus, um Risse in selbst die widerstandsfähigsten Materialien zu reißen. Ihre Sparringpartner bevorzugten es daher, wann immer es ging auszuweichen und sich bloß nicht treffen zu lassen.

Nach Monaten des Trainings – ihr zehnter „Geburtstag“ war mittlerweile nicht mehr fern, trat mitten im Training ein anderer, überaus beleibter Mann vor sie, hob ihren rechten Arm und betastete diesen vom Handgelenk bis hinauf zur Schulter. Sein breites Grinsen entblößte zwei goldene Zähne, ehe er sich umwandte und erneut etwas in dieser seltsamen Sprache, die – so viel hatte Samira in der Zwischenzeit aufgeschnappt – offenbar russisch war. Sie hatte es sogar geschafft, einige der Worte zu lernen und zu verstehen. So verstand sie, dass es wohl um Geld ging – nur die Höhe der Summe konnte sie nicht verstehen.

Es wurde viel gelacht, dann klickte etwas an ihrem Halsband. Dann wurde sie recht ruppig aus dem Trainingsraum heraus an einen Wagen gebracht. Die hinteren Türen, wurden geöffnet, gaben den Blick auf einen vergitterten Laderaum frei und ihr bedeutet, dort hinein zu klettern. Sie wehrte sich kurz, fühlte dann aber schon, wie die Griffe um ihre Schultern und Arme fester wurden. Also ergab sie sich ihrem Schicksal, kletterte ins Innere, wurde die letzten Zentimeter hineingestoßen, ehe sich die Türen donnernd hinter ihr schlossen. Vollkommene Dunkelheit umgab sie, nahm ihr jede Möglichkeit, sich zu orientieren. Sie fühlte nur, dass die sehr unruhige Fahrt nach einigen Stunden einer eher ruhigen, gleichmäßigen und flotten wich, die Straßenverhältnisse offensichtlich erheblich besser wurden als dort, wo sie bislang untergekommen war.

Wie viel Zeit genau vergangen war, als die Türen sich das nächste Mal öffneten, konnte Samira nicht sagen. Nur, dass es mittlerweile Nacht geworden war. Und wie weit sie gefahren waren, konnte sie auch nicht sagen. Allerdings sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee und fühlte sie die beißende, brutale Kälte, die ihr durch ihre dünnen Trainingsklamotten, die sie als einziges Kleidungsstück bekommen hatte, wie der eisige Wind ihren Körper binnen Minuten zum Erstarren bringen würde, müsste sie hier, wie damals in der Nähe von Delhi, ohne Schutz draußen zu überleben versuchen. Die dünnen Stoffschlappen, die sie als Schuhersatz trug, saugten sich auf dem nassen, kalten Untergrund binnen Sekunden voll und taten trugen den Teil zum Frösteln bei. So brauchte es keinerlei Motivation mehr, damit sie den Männern in den spärlich beleuchteten Betonklotz folgte.

Im inneren sah es radikal anders aus, als sie gewohnt war. Es war hell, die Räume groß und die Decken deutlich höher als bisher. Bilder und Poster mit seltsamen Zeichen darauf hingen an den Wänden, der Boden war weicher, federte bei jedem Schritt ein wenig. Und neben ihr und ihren Begleitern waren noch mehr als zwei Dutzend andere Menschen und sogar zwei Humanoide in diesem übergroßen Raum versammelt. Außer einem von diesen Humanoiden – offenbar irgendeine Art Wolf – würdigte sie jedoch keiner aus nur eines Blickes.

Dann wurde sie mit einem Ruck aus ihren Gedanken und dem Umherschweifen herausgerissen. Der füllige Mann stand wieder vor ihr, deutete vor sich nach unten auf eine Hantelstange.

„Hochheben.“ sagte er auf Russisch mit einer Tonlage, die keinerlei Diskussion oder Zögern erwarten ließ.

Samira sah ihn verwundert an, beugte sich herunter, griff die Hantelstange und wollte diese, wie aufgetragen, hochheben. Doch sie stockte – das Ding fühlte sich an, als wäre es am Boden festgeschraubt. Ihr Blick fiel wieder auf den Mann. Der aber sah nur streng zurück und machte eine Handbewegung, deutete an, sie solle das Ding hochheben.

Also legte Samira auch ihre linke Hand um die Stange, ging etwas in die Hocke und zog mit aller Kraft an der Stange. Diese zitterte unter dem Krafteinsatz, den die Tigerdame aufbrachte, um das ausgesprochene Kommando zu befolgen. Langsam, ganz langsam, hob sich die Stange an, zog Samira sie bis auf Höhe ihrer Hüfte, während sie unter der enormen Kraftanstrengung auf ihre Zähne biss, ihre Arme und Beine zitterten.

Die Begleiter ihres Gegenübers tuschelten, blickten erstaunt zu ihr, dann zu dem fetten Kerl vor ihr. Dieser jedoch grinste, deutete auf die großen, schwarzen Gewichtscheiben an beiden Enden der Stange, die Samira da angehoben hatte: 220 Kilogramm.

„Guter Anfang.“ sagte er grinsend.

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Abschnitt 3 – Rabenvater? Nein – schlimmer

Ohne Dach über dem Kopf, die eigene Sprache nur rudimentär beherrschend und dazu noch viel zu jung sind schon drei Faktoren, die das Leben von jemandem in einem kleinen Dorf nicht unbedingt verlängern. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass derjenige zu einer Gesellschaftsschicht gehört, die von einigen wenigen geachtet, von vielen höchstens geduldet und dem Rest verachtet wird, dann ist jenes Los, das Samira gezogen hatte, eigentlich schon mit dem sicheren Tod oder dem baldigen Eintritt ebendessen gleichzusetzen. Zu ihrem temporären Glück jedoch hatte ein dubios aussehender Mann die Vorfälle in jenem Waisenhaus mitbekommen – und auch, in welcher Art dieses Tigermädchen Jungs, die viel größer und älter als sie waren, nach Strich und Faden vermöbelt hatte. Und genau dieser Mann ging nach einigen Stunden auf sie zu – nach genug Zeit, damit jenes Kind, das nur im Labortank aufgewachsen war und bis gerade die Wärme von vier Wänden erlebt hatte, in der kühlen Dezembernacht unter freiem Himmel bei unter 10 Grad Außentemperatur vor sich hin gefroren hatte und nicht wusste, wo es denn hin sollte.

Dieser Mann, der sich dem jungen Humanoidenmädchen niemals mit Namen vorstellte, nahm sie unter seine Fittiche und brachte sie in ein noch viel heruntergekommeneres Viertel als jenes, in dem das Waisenhaus eh schon gestanden hatte. Nach einer Nacht in einem eigenen Bett (eher einer Matratze auf dem dreckigen Boden) ohne andere Kinder, die Dinge nach ihr warfen, eröffnete der Mann ihr, was er von ihr als „Gegenleistung“ erwartete: Ihre Kraft beweisen – in Kämpfen gegen andere, ebenfalls kindliche Kämpfer, als Wettkampf im Kampfring.

Samira verstand zuerst nicht, was genau er meinte. Und ihre Augen und ihr Ausdruck waren noch fragender, als sie unter lautem Getöse und Gebrülle in einem Hinterhof in die Mitte eines rudimentär ausgeprägten Ringes gestoßen wurde und einem etwa zwölfjährigen Jungen in kurzen Sportsachen gegenüber stand, während sie ihrerseits nur ihre Lumpen trug und keine Ahnung hatte, was denn los war. Als der Junge aber auf sie zu stürmte, die Fäuste ballte und mit der rechten zu einem heftigen Schlag ausholte, war es ihr klar, ihre Reflexe wach und ihr eigener, rechter Arm bereit, sich gegen den Angreifer zu wehren. Ruckartig hob sie ihre linke Hand, fing den Schlag ab und hielt die bis gerade noch nach vorn geraste Faust des Jungen problemlos fest, während sie ihrerseits ihre eigene Faust in seine Richtung rauschen ließ. Anders als im Waisenhaus fehlte hier aber jener Zorn und damit die Stärke, die sie aufgebracht hatte. Trotzdem reichte der Schlag, der den Jungen unvorbereitet und mitten zwischen die Augen traf, um ihn nach hinten über kippen und bewusstlos zusammensacken zu lassen.

Der erste Kampf war gewonnen. Doch ihr neuer „Vater“ war nicht zufrieden. Offenbar hatte er sich von der Leistung des jungen Tigermädchens wesentlich mehr erhofft – und auch den Anwesenden mehr versprochen gehabt. Entsprechend angesäuert schnaubte er sie zusammen und schmiedete daraufhin einen Plan: Er würde sie bei Freunden in einer alten Halle trainieren lassen, damit sie ihre Kraft noch weiter erhöhen konnte.

2003 kam und ging so schnell, wie es gekommen war – und mit den Wochen und Monaten, die ins Land gingen, wurde Samira von ihrem „Vater“ immer öfter und länger in die Halle zum Training geschickt, entwickelte sie mit der Zeit sogar eine gewisse Freude daran, mit den Gewichten zu arbeiten und an den komischen Gerüsten und Seilen ihre Übungen zu veranstalten. Im Gegenzug für ein sicheres Dach und Essen kämpfte sie alle paar Wochen – zuerst wieder in den Hinterhofkämpfen, dann folgten bald darauf stinkige, verrauchte Hallen, in denen sie auf noch ältere, größere und stärkere Gegner traf. Größer allerdings nur noch begrenzt, denn mittlerweile war sie zu beachtlichen 1,70 herangewachsen. Eine Größe, die keinen Rückschluss auf ihre lediglich acht Jahre biologischen Alters schließen ließ. Dafür waren ihre Kontrahenten nun zäher, stärker und sogar eine echte Herausforderung – zumal viele von ihnen schneller und beweglicher als sie waren. Aber niemand besaß auch nur im Ansatz ihre Zähigkeit oder gar die physische Stärke, die sie mit Bravour und geradezu tödlicher Präzision einzusetzen wusste. Selten verließen ihre Gegner den Ring ohne gebrochene Knochen oder zumindest eine Gehirnerschütterung. Manche gaben ihr schon den Spitznamen „Tigerhammer“, weil ihre Faust jeden so gnadenlos in den Boden hämmerte.

Es war einer dieser Kämpfe in jener verrauchten, stinkenden Industriehalle, als drei Männer auf ihren „Vater“ zugingen, der seinerseits mit den Wetten auf Samira einen nicht unwesentlichen Reichtum (für seine Verhältnisse, versteht sich) erworben hatte und nun im Begriff war, Teile seines frischen Gewinns in Form von Schnaps, Bier und billigen Frauen zu verjubeln.

Samira sah zwar, wie die Männer mit ihrem „Vater“ sprachen, konnte aber auf die Entfernung und dank des Krachs in der Halle nichts hören. Und selbst, wenn sie das Gespräch mitgehört hätte, sie hätte eh nichts von dem, was die vier besprachen, verstanden. Sie beherrschte nämlich die Sprache der drei Männer nicht. Was sie aber durchaus sehen konnte war, wie die drei ihren „Vater“ in die Ecke drängten und bedrohten.

Genau das war der Moment, in dem sie durch die Menschenmenge der Halle hindurch zu ihm drang, aus dem vollen Lauf dem ersten der drei einen Schlag von hinten gegen die Wirbelsäule verpasste, den zweiten mit ihrer linken Schulter traf und dem dritten schließlich ihre Faust gegen das Kinn donnerte. Zu ihrem Glück und ihrer Überraschung reichte dieser schnelle, einfache Angriff, um die drei so weit auszuknocken, damit sie mit ihrem „Vater“ im Schlepptau nach Hause und damit in Sicherheit fliehen konnte.

Sicherheit – eher eine trügerische Sicherheit, wie ihr in der Nacht klar werden sollte. Denn noch während sie im Tiefschlaf lag, drang eine ganze Bande in die gleiche, schäbige Kaschemme, in der sie nun seit drei Jahren hauste, ein. Erst der Stich an ihrem Hals ließ sie kurz zu sich kommen, ehe schnell alles wieder vor ihren Augen verschwamm. Das letzte, was sie noch klar erkennen konnte, war ein blitzender Gegenstand, aus dem eine züngelnde Flamme hervor schoss, begleitet von einem Donnern und dem stumpfen Aufprallen ihres  „Vaters“ auf den Boden. Dann wurde es sehr lange sehr dunkel für Samira.

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