Auch wenn Samira sich selbst nicht als sonderlich stark einschätzte, erkannte der Coach, der sie unter seine Fittiche nahm, schnell das Potential in der Tigerdame. Und statt sie auf eine Diät, die bei ihrem schon recht schlanken Körperbau unnötig war zu setzen, meldete er sie für die ersten Wettkämpfe an.
Unsicher – insbesondere im Umfeld von so vielen Menschen – stimmte Samira nur zögernd zu. Ihr Coach dagegen war derart von ihren Fähigkeiten überzeugt, dass er sogar in Vorkasse ging, Samira die Anmeldegebühr spendierte und ihr Trikot und Sportsachen spendierte. Und mit seiner Einschätzung der Tigerdame sollte er goldrichtig liegen, als Samira bei dem Regionalwettkampf im Gewichtheben ihre Gegner mit Leichtigkeit auf ihre Plätze verwies, den ersten Platz nebst Preisgeld einheimste.
Ihr erstes, gewonnenes Geld investierte sie sogleich in einen eigenen mp3-Player und kaufte sich endlich richtige Schuhe in ihrer Größe. Schließlich war sie es leid, die alten Schlappen, die ihr vor zwei Jahren mitgegeben worden waren und die im Winter regelmäßig dazu führten, dass ihr fast die Zehen abfroren, zu tragen. Für diese beiden Dinge ging ihr Preisgeld von 1.000 Euro zwar fast vollkommen drauf, aber da sie keinen Bezug zu Geld hatte, schmerzte sie das nicht im Geringsten.
Das Training für ihren Traum, ihren Wunsch, bei den nächsten olympischen Spielen mitzumachen, nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Bald schon litt ihr Verhältnis mit dem Verein, der sie ursprünglich hierher nach Deutschland geholt hatte. Termine für Fotoshootings überschnitten sich mit Wettkämpfen in allen Ecken des Bundeslandes, dann sogar deutschlandweit, ließen Samira mit der Entscheidung zurück, entweder das eine oder das andere sausen zu lassen. Februar 2017 schließlich reichte es dem Verein – und man sprach sich deutlich dafür aus, dass sie ihr Engagement für den Verein beweisen sollte, indem sie bei einem Benefiz-Spiel des Footballvereins mitspielte. Auf den Einwand ihres Coaches, sie habe keinerlei Erfahrung darin, wurde nur darauf hingewiesen, dass sie groß, stark und trotz ihres schlanken Körperbaus robust gebaut war, um mit dem passenden Outfit schon zu wissen, was zu machen sei. Auch wurde versprochen, ihr nicht den Ball zuzuwerfen – es war viel eher eine Veranstaltung, in der sie Präsenz und Teamgeist zeigen sollte.
Samira war dennoch gegen den Vorschlag. Eine Team-Sportart, so eng mit Menschen zusammen zu spielen, machte ihr Angst. Aber sowohl ihr Coach, wie auch die Vereinsmitglieder redeten mit Engelszunge auf sie ein, bis sie schließlich zustimmte.
Am Matchtag hatte man schließlich einen Helm und ein Trikot gefunden, die beide auch Samira passten – wenngleich der Helm ihre Ohren einzwängte, wodurch sie nahezu taub wurde. Das störte sie überraschend wenig, würde sich aber noch rächen. Das Spiel selbst und ihre Rolle war einfach: Dem des eigenen Teams, der den Ball hatte, den Weg frei halten. Nicht zuschlagen oder festhalten, einfach nur mit Körpereinsatz wegdrängen.
Gegner auf Abstand halten – das beherrschte Samira sehr gut und machte ihren Job auch hervorragend, verhalf dem eigenen Verein so zu zwei Touchdowns. Doch in den letzten Minuten des Matchs war sie es, die durch einen unglücklichen Zufall den Ball in die Hände bekam. Hilfesuchend blickte sie sich um, sah viele ihrer Vereinskameraden schreien, hörte aber nichts, während ein gutes Dutzend Spieler auf sie zu gerannt kam. In Panik rannte sie in irgendeine Richtung, von der sie dachte, dass es die Richtige wäre und fühlte nur, wie sie von der rechten Seite von etwas Schwerem getroffen wurde, dann zu Boden ging. Keinen Augenblick später explodierte ihre Welt in Schmerz, hielt sie sich mit beiden Händen ihr linkes Knie, das in einem äußerst ungesunden Winkel nach vorn gebogen stand.
Die Diagnose im Krankenhaus war ebenso schnell wie ernüchternd: Kreuzbandriss und verletzter Meniskus. Auf die Frage des Coachs, ob es eine Möglichkeit gäbe, das zu operieren und ihr so eine schnellere Rehabilitation zu ermöglichen, wurden beide an eine chirurgische Spezialklinik verwiesen, da derartige Operationen an Nicht-Menschen grundsätzlich Sache von Privatkliniken waren, die für ihre Leistungen auch entsprechende Bezahlungen verlangten. Mit Blick auf die Verdienste, die Samira durch ihre letzten Wettkämpfe erzielt hatte, stimmte er dem zu und veranlasste die Verlegung.
Trotz Operation, die mit nicht weniger als 25.000 Euro ein tiefes Loch in die Kasse ihres Coaches riss und ihre Ersparnisse vollends aufbrauchte, wurde Samira für die kommenden drei Monate jegliche sportliche Aktivität untersagt. Die Verletzung und der Verdienstausfall, da die Teilnahmen bei drei hoch dotierten Wettkämpfen verletzungsbedingt ins Wasser fielen, forderte ihr Coach ohne ihr Wissen bei dem Verein, der sie ja zu dem Spiel genötigt hatte, ein. Dort reagierte man schmallippig auf die Forderung, stimmte aber am Ende unter der Bedingung zu, dass ihr Beschäftigungsverhältnis und alle anderen Verbindlichkeiten damit aufgelöst würden.
Als Samira so nach drei Monaten wieder ans Training gehen wollte, stellte sie fest, dass ihr Verein sie nicht länger zu sehen wünschte, ihr Apartment nicht mehr bezahlt wurde und ihr außer ihrem mp3-Player und ihren Kleidern sowie Schuhen nichts geblieben war. Damit wiederum konfrontierte sie ihren Coach, wütend und enttäuscht, dass er so über ihren Kopf hinweg entschieden hatte.
Als er die Worte „dir dummen Katze muss man doch unter die Arme greifen“ über die Lippen brachte, endete das Gespräch und das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Coach mit einem Faustschlag sowie einer gebrochenen Nase auf seiner Seite. Ihr blieb so nur, die nächsten Wettkämpfe erfolgreich zu bestreiten und wieder etwas Geld einzunehmen, damit sie damit hoffentlich ein neues Apartment bezahlen konnte.
Der nächste Wettkampf war zum Glück nicht weit entfernt. Ohne eine Möglichkeit, in einer Halle zu trainieren, blieb ihr nur, dies in der Natur und so an der frischen Luft zu tun. Leider aber war Sommer – und die Parks und alle Flächen, wo man hätte trainieren können, waren tagsüber randvoll mit Menschen. Ihr blieb so nur, in den frühesten Morgenstunden in den Parks vor sich hin zu trainieren.
Um ihre durch die lange Bettruhe untrainierten Beine wieder fit zu bekommen beschloss sie, kurz vor Sonnenaufgang durch den Park joggen zu gehen. Zu ihrer Freude waren die Waldwege frei und leer, hatte sie diese so nur für sich. Um sich vollends von der Umwelt zu lösen, steckte sie ihre Kopfhörer in die Ohren, startete ihren mp3-Player und lief los.
Sie joggte zum ersten Mal mit ihrem mp3-Player an der frischen Luft. Hier rächte sich, dass sie das billigste Modell genommen hatte, denn alle paar Meter produzierte das Gerät Aussetzer, die sie aus dem Takt brachten. Entnervt zog Samira den mp3-Player mitten im Lauf der aus Tasche, tippte darauf herum, während sie weiter dem Weg folgte. Ärgerlich drückte sie die Skip-Taste, übersprang Song für Song in der Hoffnung, dass sie einen Titel erwischen würde, bei dem sie keine Aussetzer, keine Störungen hören würde, während sie nicht bemerkte, wie der Weg einen leichten Schwenk nach links machte, sie der rechten Böschung immer näher kam. Erst, als sie schnaubend zum letzten Song weiter gedrückt hatte fiel ihr der Fehler auf, den sie gemacht hatte. Doch dann war es schon zu spät. Sie trat mit ihrem rechten Fuß auf die Kante der Böschung, von der aus es einige Zentimeter nahezu senkrecht runter in den Wald ging, knickte um und klatschte im vollen Lauf vorwärts in die Böschung, wo sie dank der doch respektablen Geschwindigkeit, die sie gelaufen war, einige Meter weit rutschte, ehe sie in einem Wust aus Blättern und Erde zum liegen kam. Flüche verließen ihre Lippen, während sie sich aufrappelte, ihr Trikot und ihre Knie vom Schmutz frei klopfte und wieder aus dem Gestrüpp herauskletterte. Kurz seufzte sie, dass nichts Schlimmeres passiert war, als sie sich bereit machte, weiter zu joggen. Als sie aber den ersten Joggingschritt mit ihrem rechten Fuß auftrat, fühlte sie deutlich, dass etwas nicht stimmte. Aber sie ignorierte es, lief weiter – sie musste sich für den nächsten Tag und damit den Wettkampf vorbereiten.
Wieder zu Hause angekommen – sie hatte noch bis Ende des Monats, um entweder das Apartment zu bezahlen oder sich eine neue Bleibe zu suchen – duschte sie sich, um den letzten Dreck aus ihrem Fell zu bekommen und bemerkte dabei, dass ihr rechter Knöchel dicker geworden war. Doch noch immer ignorierte sie es, tat sie es als unwichtig ab.
Am nächsten Tag aber war ihr rechter Knöchel dick geschwollen, schmerzte er bei jeder Bewegung und hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt aufzutreten. Aber was blieb ihr anderes übrig? Sie musste heute an dem Wettkampf teilnehmen und ihn gewinnen. Ansonsten war sie erledigt. Also schluckte sie einige Schmerzmittel, band sich ihre Schuhe extra fest und machte sich auf den Weg zum Wettkampf.
Ihre Gegner hier waren keine Herausforderung. Keiner schaffte es, mehr als 150 Kilo zu heben. Mit Leichtigkeit konnte Samira ihre 180 oder 200 Kilo reißen und damit den ersten Platz und damit auch das Preisgeld für sich einstreichen. Um wirklich sicher zu gehen, entschied sie sich für die 200 Kilo, ehe sie antrat und aufbaute.
Sie setzte an, zog, ob das Gewicht auf Höhe ihrer Hüfte, stieß es dann mit aller Kraft nach oben. Dann, mit einem Mal, kippte die Welt zur Seite, wurde es schwarz vor ihren Augen.
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