Freitag, kurz nach 9 Uhr. Es klopft draußen an der Tür zum Büro. Pietro ist rein zufällig denn absichtlich bereits da, wenn auch erst seit ein paar Minuten, blickt fragend zum Eingang. Die Kunden, die er gewohnt ist, stören sich nicht daran, anzuklopfen. Also reagiert er auch nicht.
Es dauert gut eine Minute, dann klopft es erneut. Diesmal blickt er verwundert zur Tür, schüttelt den Kopf und ruft ein „Ja?“ entgegen.
Die Tür schwingt langsam auf und eine Humanoide tritt herein, blickt ihn mit überschwänglich freundlichen Augen und einem breiten Lächeln an.
„Einen wundervollen guten Morgen. Ich habe doch die Ehre mit Herrn Santoro hoffe ich?“ hallt eine unglaublich freundliche, sanfte Stimme in genau der Lautstärke, die jemand mit einem Kater, der morgens noch keinen Kaffee hatte, angenehm empfinden würde.
Pietro mustert die Humanoide. Nicht sonderlich groß, ein silbernes, extrem langes Fell mit weißen Rändern und vielen, vielen schwarzen Tupfen, silbernem Haar, das kunstvoll zu einem Zopf geflochten ist, einer dunkellilanen Bluse, einer leicht helleren Jacke darüber, cremefarbener Rock, der bis zu ihren Knien reicht und sehr menschlich aussehende, silberne Absatzschuhe – mit der Ausnahme, dass die Absätze an diesen offensichtlich fehlen. Er braucht keine Sekunde um festzustellen: Wer auch immer diese Humanoide war, sie musste Geld haben. Und die Tatsache, dass er nirgends einen Code-Reifen erspähen konnte, verriet ihm, dass sie auch niemandem gehörte, es wirklich ihr EIGENES Geld sein musste, von dem sie sich dieses Outfit gekauft hatte.
„Ähm…ja. Was möchten sie? Wollen sie ihren Wagen…?“
Die Humanoide kichert leise und macht dabei einen kleinen Schritt in seine Richtung, ehe sie den Kopf senkt und eine Verneigung andeutet. „Yuki Takadanobaba, von der International School Germany, ich bin erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin gekommen, um meine Schülerin abzuholen. Sie ist bereits reisefertig nehme ich an?“
Schülerin? International School Germany? Die? Pietro starrt sie sichtlich baff und fragend an. Aber anstatt ihn auf diese Planlosigkeit anzusprechen oder ihn gar vorzuführen, blickt Yuki ihn noch immer freundlich lächelnd an und nickt.
„Darf ich fragen, wo sie sich derzeit befindet? Dann kläre ich alles Weitere direkt mit ihr und behellige sie nicht bei ihrer Arbeit.“
Pietro deutet, mehr automatisch, als wirklich bewusst, mit der linken Hand in Richtung Tür zur Werkstatthallte. „Hintere Bühne, glaube ich.“
Erneut deutet Yuki eine Verbeugung an. „Haben sie vielen herzlichen Dank, Santoro-Sama.“ Dann tritt sie zur angedeuteten Tür, schiebt diese auf und betritt die Werkstatt. Die Blicke der Gesellen ignoriert sie vollends, lenkt ihre Schritte stattdessen auf die Hebebühne am Ende der Werkstatt, die tatsächlich zur Hälfte hochgefahren ist, während eine Gestalt sich darunter gerade an der Unterseite des Fahrzeugs zu schaffen macht.
Yuki stellt sich direkt neben die Bühne, klopft dann einmal vorsichtig an das Metall und wartet auf die folgende Reaktion. Das diese so schlagartig und schreckhaft verlaufen würde, hat sie nicht vermutet, denn mit einem Mal huscht die Gestalt etliche Schritte von ihr weg, unter dem Fahrzeug hervor und taucht, nun in voller Größe, hinter dem Wagen stehend auf. Aber Yuki lächelt noch immer, blickt der Gestalt entgegen, die sie abschätzend anstarrt.
„Samira-san nehme ich an?“ sagt sie mit freundlicher, ruhiger Stimme. „Ich bin Yuki Takadanobaba. Stock-sensei schickt mich, damit wir beide gemeinsam zur Schule fahren. Ich nehme an du hast bereits gepackt?“
Samira starrt mit einer Mischung aus Horror und Überraschung auf die Humanoide vor sich. Als sie eben genau diesen Umstand bemerkt, dass es eben eine Humanoide und KEIN Mensch ist, beruhigt sich die Panik in ihrem Körper langsam wieder, tritt sie einige Schritte hinter dem Auto hervor, mustert Yuki nun mit ein wenig Neugier.
Sie braucht nur einen Blick, um festzustellen, dass an dieser Humanoiden genau gar nichts ist, wovor sie sich zu fürchten braucht. Die feine Kleidung verbirgt zwar ihren Körperbau, doch was man sieht, wirkt nicht, als wäre sie eine Kämpferin. Und sie ist einen guten, halben Meter kleiner als Samira, wirkt irgendwie…fluffig, weich, sanft, die Augen groß und freundlich strahlend.
„Schule? Was…ich verstehe nicht…wovon redest du?“
Yuki legt den Kopf schief. „Ah, verstehe. Dein Chef und die anderen wollten dich damit überraschen. Überhaupt kein Problem. Komm, ich helfe dir beim Packen. Wenn wir das zu zweit machen, sind wir ganz schnell fertig und machen uns schon auf den Weg.
„Aber…meine Arbeit? Ich muss doch…“ deutet Samira auf das hochgebockte Auto, doch Yuki greift bereits nach ihrer linken Hand, zieht Samira daran nach vorn.
„Ach, nicht so schlimm. Die Jungs da hinten sind groß und stark. Die machen das doch sicher gern für dich fertig. Hab ich recht, Jungs?!“ ruft Yuki, nun mit einer bewusst etwas lauteren Stimme weiter in die Halle hinein. Samira starrt erst auf Yuki, dann auf Dawid, dann auf noch zwei andere Gesellen, die bis zu diesem Augenblick ihrerseits in die Richtung der beiden gestarrt haben und, als sie angesprochen werden, ruckartig kehrt machen und sich ihrer eigenen Arbeit widmen.
„Siehst du. Die schaffen das schon. Dein Chef weiß Bescheid, also müssen wir nur eben schnell alles zusammenpacken und dann machen wir uns schon auf den Weg. Na komm, zeig mir, wo du deine Sachen hast.“
Samira blinzelt einige Male, aber wirklich wehren kann sie sich nicht. Also geht sie, nach einigen Metern des Ziehens, schließlich voran, führt Yuki aus der Halle heraus, zur Rückseite und der Treppe herab in den Keller, führt sie in ihre Behausung.
„Oje oje, sehr…rustikal…“ fasst Yuki zusammen, was Samira ihr vor ihren Augen präsentiert. „Ich hatte Sorge, dass du die Zimmer in der Schule als zu spartanisch empfinden könntest. Aber darüber muss ich mir wohl keine Sorgen mehr machen, was? Na komm, wo hast du denn deine Kleider? Schließlich kannst du doch nicht in deinen Arbeitssachen zur Schule.“
Samira deutet auf die kleine Holzkiste, deren Deckel gegen die Wand dahinter lehnt. Über den Deckel gehängt sieht sie eine Jeans, die von Flicken und Flecken übersät ist und sich leicht feucht anfasst. Daneben, ebenfalls noch recht klamm, hängt ein T-Shirt. In der Kiste selbst liegt, relativ gut zusammengelegt, noch eine weitere Hose – allerdings mit kurzen Beinen und einem Riss in einem der beiden Hosenbeine. Daneben noch zwei zusammengelegte T-Shirts, zwei Teile Unterwäsche und ganz am Rand eine rostige Dose ohne Deckel, in dem ein weißes Pulver relativ heftige Klumpen gebildet hat und das sich, nachdem Yuki einmal die Nase darüber gehalten hat, als Waschpulver herausstellt. Neben der Kiste stehen zwei rote Turnschuhe, im rechten davon steckt oben noch etwas Bläuliches, das wie eine Art Stützverband aussieht. Wie auch die Hose sind die Schuhe noch fühlbar klamm.
„Mehr hast du nicht?“ fragt Yuki, während sie die Hose und T-Shirts aus der Kiste hebt, die Unterwäsche zusammenlegt und auf den T-Shirts platziert. Die klamme Hose nebst noch feuchtem T-Shirt legt sie separat zusammen, blickt sich im Raum auf der Suche nach einem Stuhl um, ehe sie nach kurzer, vergeblicher Suche den Deckel der Kiste schließt und beides dann darauf platziert.
„Es ist genug…“ murmelt Samira, während sie sich ihre Arbeitskleidung abstreift, zusammenlegt und auf dem Bett neben sich platziert. Yuki betritt indes das „Bad“, wobei sie schnell feststellt, dass diese Toiletten-Dusch-Waschbecken-Kombination diesen Namen nicht einmal im Ansatz verdient. Sie selbst hat bereits sichtlich Probleme sich in dieser kleinen Nische richtig herum zu drehen. Wie Samira, die wesentlich größer und massiger ist, das schafft, will sie sich nicht vorstellen müssen.
Mit einem leisen, kaum zu hörenden Seufzen greift sie die Zahnbürste, die überraschenderweise in sehr gutem Zustand ist, Zahnpasta, die beiden Fläschchen roten Nagellack und das Handtuch, das fast vollkommen nass ist, ehe sie Letzteres wieder zurück aufs Waschbecken zum trocknen legt und sich so, mit allem, was die Tigerdame offenbar für ihre Morgentoilette nutzt, wieder zu ihr umzudrehen. Sie erschrickt geradezu, als sie sieht, wie Samira sich kurzerhand die nasse Hose nebst T-Shirt überzieht.
„Aber…das kannst du doch nicht anziehen. Du wirst dich draußen noch erkälten!“
Samira schüttelt den Kopf. „Wird schon gehen.“ sagt sie, greift nach ihren Schuhen, zieht den blauen Stützstrumpf aus dem Schuh heraus und über ihren rechten Fuß, ehe sie in die Schuhe steigt.
„Und du bist auch noch verletzt. Ist es schlimm?“
Sie schüttelt den Kopf. „Ist alt. Nicht schlimm.“
Diesmal legt Yuki aber den Kopf schief, blickt Samira genau an, als diese sich die Schuhe fertig bindet und langsam aufsteht. Dann nickt sie langsam, aber nur für sich selbst, als sie feststellt, was jenen, die eben nicht mit so feinen Sinnen gesegnet worden sind, wie sie sie hat, entgangen wäre: Samira hat gerade ziemlich klar gelogen. Zwar nicht gänzlich, aber zumindest deutlich genug, damit es spürbar ist.
Yuki blickt sich indes um, sucht nach einer Tasche, einem Koffer oder etwas Ähnlichem, als Samira bereits hinter die Eingangstür greift, ihre Jacke, einen Schal und eine Plastiktüte zum Vorschein bringt, ihre verbleibende, kurze Hose, die T-Shirts, Unterwäsche, ihre Zahnbürste und ihren Nagellack gemeinsam darin verstaut. Schließlich greift sie noch nach ihrem Handy und ihren Kopfhörern, stopft sich beides in die Hosentasche, zieht das Ladegerät aus der einzigen, echten Steckdose hier unten und verstaut auch dieses in der Tüte.
„Gehen wir…“ sagt Samira noch, auf die Tür deutend. Yuki nickt, blickt sie für einen ganz kurzen Augenblick mitleidig an, tritt dann durch die Tür nach draußen und geht in Richtung Ausgang und zu den Treppen. Draußen angekommen wartet sie schließlich darauf, dass Samira ihr folgt und die Treppe hinaufsteigt. Diesmal konzentriert sie sich ein wenig deutlicher auf die Tigerdame, die mit einer Hand ihre Tüte, in der anderen Hand den Handlauf haltend, die Treppe empor steigt. Und dann, als Samira fast auf einer Höhe mit ihr ist, sieht sie die Bestätigung für die Lüge von eben: Für einen ganz kurzen Augenblick sieht sie einen Schmerzensblitz durch Samiras rechtes Bein schießen und wie die Tigerdame innerlich die Zähne zusammenbeißt. Äußerlich sieht man ihr davon nichts an, verbirgt sie das sehr gut.
Yuki reicht Samira eine Hand, die diese auch ohne Furcht ergreift. „Komm, der Wagen steht vorn. Aber bevor wir zur Schule fahren, suchen wir dir erstmal ein paar frische Sachen. Meine neue Schülerin soll sich schließlich nicht den Tod holen.“
„Deine…wie bitte?“
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