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IX. Verdeckte Pläne

Drei Stunden lang bleibt Samira für die anderen verschwunden. Dann taucht sie schließlich, durch eines der Tore kommend, mit einem Paket in Händen wieder auf, den Wärmetauscher für den Buick in Händen haltend. Wie immer, wenn sie hier in der Werkstatt arbeitet, lässt sie sich nichts anmerken, wendet den anderen ihre Seite oder ihren Rücken zu und versucht, sich auf ihre eigene Station zu konzentrieren, doch in den wenigen Momenten, die man ihr Gesicht erkennen kann, sieht man die feinen Streifen unter ihren Augen und entlang ihrer Nase, die wie feuchtes Fell aussehen.

Mit einem beachtlichen Tempo und sehr lautstark hebt sie die einzelnen Teile im Motorraum des alten Wagens an die richtigen Stellen, schließt alle Leitungen wieder an, hievt die Front ohne Zuhilfenahme von Hebehilfen wieder an die ursprüngliche Stelle, ehe sie das Kühlsystem wieder befüllt und anschließend den Motor startet, ihn einige Minuten laufen lässt. Noch während das gesamte Fahrzeug warmläuft, verschwindet sie schnellen Schrittes im Lager, kehrt kurz darauf mit einer neuen Windschutzscheibe zurück. Ein großer Sticker auf der Front, der vor dem hohen Gewicht warnt und eindringlich „2 Personen erforderlich“ mahnt, ignoriert sie, trägt die Scheibe zwar vorsichtig, aber sichtlich flott durch die Halle. Ebenso schnell hat sie die alte, geborstene Scheibe aus ihrer Halterung geschnitten, zur Seite geworfen und platziert sie schließlich die neue Windschutzscheibe in ihrem neuen Rahmen.

Ein kurzer Blick – ja, das Kühlsystem arbeitet, der Motor bleibt trotz zwei Minuten dauerhaft hoher Drehzahl im grünen Bereich, die Lüfter laufen und unter dem Wagen bilden sich keine Pfützen. Das Kühlsystem ist also wieder dicht und funktioniert – und Samira verschwindet wieder schnellen Schrittes im Lager, kehrt nur eine Minute später mit einer Tube Silikon zurück, verklebt damit die Windschutzscheibe. Keine fünf Minuten später ist auch das getan, löst sie die metallenen Haltearme ihrer Hebebühne vom Unterboden des Wagens und schiebt ihn aus der Halle heraus. Dann blickt sie hinüber zum Büro ihres Chefs.

Ihre Hände zittern leicht, ehe sie mit der linken Hand eine Faust ballt und schluckt. Dann geht sie, diesmal mit ungewöhnlich langsamen Schritt, in Richtung Büro, drückt die Türklinke herunter und schiebt die Tür langsam auf, ein weiteres Donnerwetter erwartend.

Pietro sitzt an seinem Schreibtisch über einigen Rechnungen, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet sind. Offenbar nimmt er sie gar nicht wahr – und wenn doch, lässt er es sich nicht anmerken.

„Der…Buick ist fertig.“ sagt Samira mit leiser, zögerlicher Stimme. „Ich….ich habe ihn nochmal überprüft…er ist im Hof.“ fügt sie hinzu, als auch nach einigen Momenten, in denen sie sich eigentlich sicher ist, dass er sie gehört hat, keine Reaktion erfolgt.

„Gut gemacht.“ sagt ihr Chef schließlich, ohne dabei von seinen Unterlagen aufzusehen. „Nimm dir für den Rest des Tages frei.“

Samira starrt ihn fragend an. „Ich…verstehe nicht? Soll ich…?“

Pietro verdreht die Augen. „Rede ich so undeutlich. Ich hab gesagt du sollst Feierabend machen und dir den Rest des Tages frei nehmen. Und jetzt verschwinde.“

Deutlich spürt sie, wie es in ihm brodelt. Und so unsicher sie ob dieser seltsamen Formulierung, die er ihr gegenüber zum ersten Mal überhaupt benutzt hat, auch ist – ihr Instinkt brüllt ihr geradezu in den Kopf, jetzt schleunigst das Weite zu suchen, ehe er ihr zum zweiten Mal innerhalb eines Tages mitten ins Gesicht brüllt.

Sie nickt langsam, geht rückwärts durch die nur halb geöffnete Tür nach draußen und schließt diese wieder ebenso langsam, wie sie sie geöffnet hatte. Dann tut sie, wie ihr aufgetragen: Sie tritt durch eines der Tore, geht zur Rückseite der Halle, die Treppen nach unten, in den Keller und dort dann in ihre kleine, bescheidene Behausung, wo sie auf ihr Bett sinkt, sich die Handschuhe abstreift, diese gegen die Wand gegenüber wirft und sich mit den Händen übers Gesicht fährt. Erst jetzt merkt sie, dass ihre Hände zittern. Nein – ihr ganzer Körper zittert. Und dann, ohne dass sie es erklären kann, kommen ihr erneut die Tränen.

„…und als ich gehört habe, dass sie in über drei Jahren nicht einmal Lesen und Schreiben gelernt hat, geschweige denn sonst irgendwas anderes als in der Werkstatt zu arbeiten, habe ich direkt an dich gedacht.“ schloss Olivier seine lange Erklärung, in der er am Telefon nun über eine halbe Stunde erklärt hatte, warum er die Hilfe eines alten Freundes braucht.

„Das ist ja alles schön und gut. Aber ich fürchte so, wie du es beschreibst, wird es nicht leicht werden, sie das alles nachholen zu lassen. Schon gar nicht in einer Klasse mit anderen. Dafür ist sie noch viel zu weit vom nötigen Niveau entfernt.“ gibt die Stimme im Telefon zu bedenken. „Es käme also lediglich Einzelunterricht infrage. Aber der wird deutlich teurer.“

„Lass mal das Geld nicht deine Sorge sein. Pietro übernimmt den Großteil der Kosten. Und was auch immer es mehr kostet, bekommen wir schon geregelt.“

„Pietro? Machst du immer noch Geschäfte mit diesem Betrüger? Ich habe dir doch schon vor Jahren gesagt, dass der Kerl nicht ganz sauber ist.“

„Ja, Till, das hast du schon mehrmals gesagt. Aber ohne ihn hätte ich die Kleine nicht so schnell in Lohn und Brot bekommen.“

Durch das Telefon dröhnt ein Seufzen. „Ich verstehe immer noch nicht, warum dir so viel an ihrer Art liegt. Sicher, viele sind nützlich. Aber manchmal glaube ich, dass du übertreibst.“

„Ich erzähle es dir mal bei einem Bier wenn du willst. Aber bis dahin – hast du nun eine Lösung oder nicht?“

Für einen Augenblick ist Stille im Telefon. Dann unterbricht Till die Stille mit einem Murmeln.

„Hrm…ich habe noch genau eine Lehrerin frei, die dir vielleicht helfen könnte. Aber sie ist auch eine Humanoide – und sie hat bisher immer nur Kinder unterrichtet. Außerdem ist sie ziemlich jung.“

„Eine Humanoide, die als Lehrerin für Kinder arbeitet? Wer macht hier denn sowas?“ fragt Olivier erstaunt.

„Niemand. Aber in Japan haben sie es an einer Sprachschule einmal ausprobiert. Die Kinder waren scheinbar so glücklich mit ihrer kuscheligen Lehrerin, dass sie deutlich schneller Fortschritte gemacht haben. Wenn ich das richtig gehört habe, hat die Schule noch fünf weitere von ihrer Art bestellt. Die sind da drüben diesbezüglich deutlich offener als hier.“

„Kann ich verstehen…“ murmelt Olivier, im Hinterkopf die zahllosen Mangas, die seit Jahren immer mehr Einzug in die deutsche Popkultur feiern, durchgehend. Selbst das Kino und die Streamingdienste sind voll mit Tierwesen, die neben Menschen gleichberechtigt agieren.

„Hat sie zufälligerweise einen Führerschein?“

„Wieso? Und ähh…ich müsste fragen. Kann sein. Aber, warum denn?“

„Erklär ich ihr dann am Besten selbst. Wenn sie Zeit hat wäre sie wahrscheinlich die ideale Lehrerin für mein Sorgenkind. Kannst du mir ihre Nummer geben? Dann würde ich alles weitere direkt mit ihr besprechen.“

„Natürlich. Ich schick dir gleich ihre Kontaktdaten.“

Zwei Stunden und einen kleinen Nervenzusammenbruch später hat Samira sich umgezogen, ihre Kopfhörer tief in ihre Ohren gesteckt und sich auf den Weg in Richtung Wald gemacht. Der Wind pustet zwar schon recht heftig, die Wolken am Himmel verheißen baldigen Regen, aber sie will die Zeit nutzen, in der Abgeschiedenheit der Natur etwas auf andere Gedanken zu kommen. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass es wie aus Kübeln zu schütten beginnt, als die den ersten Schritt in den Wald setzt und der Regen nicht mehr zu versiegen scheint. Sie aber ignoriert den Regen so lange, wie Strom in ihrem Handy ist und die Musik auf ihren Ohren sie vom Trommeln der Regentropfen auf ihrem Kopf ablenkt.

Als sie dann am Abend nach Hause kommt, ist sie nass bis auf die Knochen, ihre Kleidung durchweicht, reibt sie sich lediglich mit ihrem letzten, sauberen Handtuch trocken und zieht sich dann direkt in ihr Bett zurück, um darin Wärme zu finden. Die Tatsache, dass es durch das kaputte Kellerfenster leicht in ihre Wohnung reinregnet und ob des aufgefrischten Windes unangenehm zieht, verdrängt sie indes mit aller Kraft.

Mittwoch und Donnerstag kommen und gehen, ohne dass ihr Chef sie direkt anspricht. Auch die anderen in der Werkstatt halten aus Gründen, die sie nicht versteht, aber dennoch freudig begrüßt, Abstand zu ihr. So arbeitet sie lediglich an ihrer Bühne, tauscht hier Bremsen aus, sucht dort einen Fehler in der Elektrik, kämpft mit einer festgebackenen Kupplung, wechselt das Getriebe bei einem alten VW-Bus, räumt und putzt vor und nach ihrer eigentlichen Arbeit hinter den Gesellen her, während die Lehrlinge sich auf etwas namens „Ausflug“ für den Rest der Woche verabschieden. Zu ihrem Glück jedoch lassen die Gesellen sie ebenfalls in Ruhe – auch wenn sie zumindest von Dawid bewusst Abstand hält, ihn stets mit einem halben Auge beobachtet.

Published inDas Leben von Samira

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