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Kategorie: Rewind – Wie das Leben so spielt

Wie alles in die richtigen Bahnen kam

Etliche Stunden später graute schließlich der Morgen, schienen die ersten Sonnenstrahlen durch den Höhleneingang ins Innere. Wie jeden Morgen war Luane bei den ersten Sonnenstrahlen bereits hellwach, blieb aber dennoch regungslos liegen, stellte sich schlafend, während TimeShift – von ihr kurz Timey gerufen – noch weiter schlief. Er war ein relativer Langschläfer, der erst einige Stunden nach Sonnenaufgang aufstand, um dann auf Nahrungssuche zu gehen. An diesem Morgen aber überraschte er sie, indem er ihr mit seinem rechten Flügel über die Nüstern strich und ihr ein leises Niesen entlockte.

„Na, gut geschlafen?“ fragte er mit freundlicher Stimme.

Luane drehte den Kopf um, starrte ihn überrascht an. „Du bist schon wach?“

„Natürlich. Seit du dich in der Nacht immer an mich drankuschelst wache ich immer mit dem Sonnenaufgang auf. Dein Atem wird da nämlich auffällig.“

Sie schnaubte. „Wird er nicht. Und überhaupt – wenn es hier nicht so kalt wäre, müsste ich mich in der Nacht auch nicht an dir aufwärmen.“

„Die Nacht ist vorbei. Du könntest aufstehen, wenn du willst. Kein Grund mehr, dich hier anzukuscheln.“

Sie starrte ihm direkt in die Augen. Dann drehte sie den Kopf zurück, legte ihn wieder auf den Boden und zog seinen linken Flügel noch etwas fester um sich. „Nein. Ich bleibe noch ein wenig. Du schläfst sonst auch noch zwei, drei Stunden nach Sonnenaufgang. Davon will ich zumindest noch eine.“

Er kicherte. Siebzehn Jahre war sie die Unantastbare gewesen, hatte sie jegliche Berührung strikt abgelehnt und sich nicht einmal helfen lassen, wenn sie gestürzt war und sichtlich Schmerzen hatte.

„Du bist deutlich anhänglicher, seit du aus der Klink raus bist. Als wärst du eine ganze andere Lugia.“

„Pah – das liegt einzig und allein hier dran.“ schnaubte sie und schob seinen Flügel über die Rundung im unteren Bereich ihres Bauchs. „Alles deine Schuld.“

„Wenn ich mich richtig erinnere, hattest du darauf bestanden, dass wir zwei zu Gefährten werden und wir uns, um es zu besiegeln, vereinigen. Und du warst es auch, die mich festgehalten hat.“

Wieder schnaubte sie. Natürlich hatte er Recht damit. Sie war es gewesen, die ihn dazu gedrängt hatte, die mit dem rituellen Paarungsflug angefangen hatte, ihn zu dem Versprechen genötigt und ihn schließlich auch zum Akt gebracht hatte. Aber woher hätte sie denn wissen sollen, dass ihr eigener Körper sie betrügen und ihn hinterher stundenlang festhalten würde, sie deswegen nach elf Monaten Tragezeit ein Junges zur Welt bringen würde?

Eine seiner Pfoten strich sanft und vorsichtig über ihr linkes Bein. Als die Zehen über ihren linken Knöchel strichen, zuckte sie am ganzen Körper zusammen.

„Tut es sehr weh?“ fragte er leise.

„Mh mhm…“ murmelte sie leise.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du dich schonen und ausruhen sollst. Gerade im Winter ist es draußen glatt und…“

„Ich will halt auch selbst raus und mir etwas zu essen holen. Nur weil ich hier Extragewicht mit mir rumschleppe, bin ich nicht behindert.“

„…du kannst leicht ausrutschen. Denk dran, dass du mit deinem Knöchel nicht die volle Stabilität hast.“ vervollständigte er seinen Satz.

„Ich weiß. Aber wenn ich raus will, um mir ein paar Weintrauben zu holen, dann mache ich das, wann und wie ich es will.“

„Und knickst dabei wieder um…“

„Ich bin schon hunderte Male mit dieser dämlichen Pfote umgeknickt verdammt. Warum interessiert dich das jetzt so unglaublich?“

„Hat es schon immer. Und das weißt du.“

Sie wollte etwas erwidern, ihn scharf anschnauzen. Aber er hatte Recht – seit er sie damals auf der Insel gefunden hatte, war er ihr gegenüber zwar zurückhaltend, aber stets hilfsbereit gegenüber gewesen. Er hatte ihr sogar den ersten Stützverband überhaupt organisiert, mit dem sie lange Jahre relativ problemlos herumlaufen konnte. Und sie war es gewesen, die immer wieder verheimlicht hatte, wie es ihr wirklich ging. Das wiederum hatte sie erst vor sechs Monaten offenbart – als sie keine andere Chance mehr hatte, als es zuzugeben.

5. Mai. Diesen Tag würde sie niemals in ihrem Leben vergessen. Den ganzen Tag über schmerzte ihr linker Knöchel bereits unbeschreiblich – schlimmer, als er es die ganzen Tage und Wochen zuvor getan hatte. Sie war die Schmerzen zwar mittlerweile gewohnt, die sie nun seit mehr als drei Jahren dauerhaft begleiteten und gegen die sie Unmengen von Efeu vertilgte, sich damit schon fast vergiftet hatte, nur um den schmerzstillenden Effekt in den Blättern ausreichend stark zu spüren. Doch an diesem Tag war der Schmerz ganz besonders heftig gewesen.

Sie war lediglich auf ihrem rechten Bein, ihrem Schwanz und beiden Flügeln stützend aus der Höhle hinaus gehumpelt – ihr linkes Bein konnte sie seit gut einem Jahr trotz des Verbandes, den sie sich so fest um ihr geschwollenes Gelenk gezurrt hatte, dass die einzelnen Wicklungen schon ins Fleisch schnitten, nicht mehr belasten, ohne dass es seitlich wegknickte und dabei noch schlimmere Schmerzen verursachte – und machte sich gerade auf den Weg, um sich etwas zu Essen zu besorgen. Da es tagsüber war und sie nicht vorhatte, eine große Strecke zu fliegen – nur zu einer nahen Fischfarm – flog sie, nachdem sie mit einem wohltrainierten Manöver und auf nur einem Bein abgehoben hatte, dicht über den Fluss und schließlich über das nahe Waldgebiet. Sie wählte ihren Flug absichtlich derart niedrig, dass sie mit ihrem Bauch fast die Baumwipfel streifte, denn so würde man sie im schlechtesten Fall nur derart kurz sehen, dass man sie nicht erkennen würde, wäre sie schon weiter geflogen, ehe ihr Schatten jemandem auffiel.

Auf dem Weg zur Fischfarm überflog sie jedoch auch eine Region, in der reichlich Fichten wuchsen. Fichten, die durch die anhaltende Dürre der letzten Jahre alles andere als gesund waren, von denen viele nun gefällt werden mussten. Auch an diesem Tag waren die Förster und Holzfäller wieder mit ihren Maschinen unterwegs, fällten sie Baum um Baum, zersägten sie diese und bereiteten sie für den Abtransport vor. Wolken aus Sägespänen erfüllten die Luft dicht oberhalb der Baumwipfel – und Luane flog geradewegs durch diese Wolken hindurch.

Sie reagierte schnell, schloss Mund und Nüstern, presste ihre Augen zu, um von den Splittern verschont zu bleiben. Dabei hatte sie ein wichtiges sowie auch gefährliches Detail vergessen: Ihr linkes Auge.

Die Augenverletzung, die sie sich vor siebzehn Jahren zugezogen hatte, war ohne jede Behandlung nur mäßig gut verheilt. Ihr Augenlid beispielsweise, das durch den Aufprall mit dem Eisbrocken in zwei Hälften geschnitten worden war, wuchs asymmetrisch wieder zusammen, hinterließ so eine Verdickung und winzige Öffnung, in der sich Dreck und Fremdkörper fangen konnten. Genau in dieser Verdickung hingen nun, da sie durch die Wolke aus Sägespänen geflogen war, einige dieser Holzspäne fest, rutschten, dem Augenlid folgend, nach oben mit, als sie ihre Augen wieder öffnete und verhakten sich beim darauffolgenden, reflexartigen Blinzeln direkt unter dem Augenlid.

Ein schmerzhaftes Brennen schnitt in Luanes linkes Auge, auf dem sie schlagartig blind wurde. Sie riss schreiend den Kopf nach oben, blinzelte immer wieder und verschlimmerte damit nur noch ihre Lage, widerstand dem Drang, ihr Auge zu reiben. Im nächsten Moment spürte sie, wie sie mit ihrem linken Flügel einen Baum touchierte, zog sie schnell fast senkrecht nach oben und kam so in der Luft zum Stehen. Halb blind machte sie kehrt, zurück zum Versteck, wo sie hoffentlich Hilfe für ihr Auge und ihre teilweise Blindheit bekommen würde, raste auf den Höhleneingang zu und setzte zur Landung an. Sie aus Reflex streckte sie die Beine aus, war schon fast am Boden, als sie sich erinnerte, dass das, was sie da gerade tat, eine überaus dumme Idee war. Aber da war es schon zu spät.

Beide Pfoten berührten den Boden, doch die linke knickte sofort unter ihr weg, begleitet von einem markerschütternden Knirschen und Krachen in ihrem Knöchel, der Bewegungen vollführte, die alles andere als gesund aussahen. Dieses Mal war es nicht nur ein einfaches Zur-Seite-Umknicken, es war, als würde ihre Pfote im Gelenk abbrechen und zur Seite umfallen, als gehörte ihre Pfote nicht mehr zu ihrem Körper. Die Schmerzen waren unbeschreiblich und sie kämpfte brüllend gegen die nahende Bewusstlosigkeit an. Allerdings vergeblich, wie sie nur Augenblicke später merkte.

Als sie wieder zu sich kam, stand Timey neben ihr, hielt dieser mit einem Flügel ihren Kopf und blickte er auf ihr Bein – besser gesagt: Auf denjenigen, der dort gerade stand. Ein Mensch in einem weißen Kittel kniete neben ihrer Pfote und drückte dort eine seltsame Apparatur drauf. Zu ihrer Beruhigung spürte sie außer der Berührung dieses Geräts keine Schmerzen. Überhaupt war ihr ungewöhnlich warm, ihr Kopf wie in Watte gepackt. Sie merkte auch gar nicht, wie sie wieder etwas durch ihr linkes Auge sehen konnte, wie ihr Blick aber ungewöhnlich trüb und stark eingeschränkt war. Es schien ihr im Moment auch seltsam egal.

„Seit über dreißig Jahren bin ich nun Chirurg, aber ein derartiges Ausmaß habe ich noch nicht gesehen.“ hörte sie die Stimme des Menschen wie durch Watte gedämpft. Dann hörte sie nur noch Dinge wie „MRT“ und „Operation“, ehe wieder alles um sie verschwamm.

Das nächste Mal, als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem unangenehm kühlen Raum und äußerst unbequem auf der Seite. Ihr linkes Bein war auf eine metallene Pritsche geschnallt und in einen Ring hinein geschoben, um den sie – ihrer Größe wegen – mehr oder minder elegant herum gelegt worden war. Metallenes Surren und ein komisches Kribbeln durchfuhren ihren Körper. Dann kamen der Mann im Kittel sowie vier weitere Menschen in den großen, bis auf sie und den Ring überaus leeren Raum hinein. Auch Timey folgte ihnen, half ihnen, sie langsam auf eine übergroße Liege zu legen. Sie fühlte, wie eine der Damen etwas Spitzes in ihr linkes Bein stach, ehe es von dort aus wieder langsam warm wurde.

„Keine Angst. Das ist nur gegen die Schmerzen.“ sagte die Menschendame.

„Welche…Schmerzen?“ murmelte sie, bereits wieder leicht benebelt.

„Die, die du genau deswegen nicht spürst. Sei froh.“

Dann begannen zwei der mit Kittel etwas an ihrem linken Bein und ihrer linken Pfote zu machen. Zwei metallene Gestelle wurden links und rechts neben ihre Pfote gestellt, mit Bandagen umwickelt und mit weiteren Bandagen um ihre Pfote herum befestigt. Sie verstand im ersten Moment nicht, was los war. Dann wurde sie über einen breiten Flur in einen anderen Raum gerollt. Die Decken waren hier zwar rund drei Meter hoch, Timey musste sich dennoch sichtlich ducken, um nicht mit dem Kopf überall gegen zu stoßen. Auch die Türen waren sowohl für sie auf dem ungewöhnlich großen, breiten Bett und ihn eine Herausforderung. Aber mit vereinten Kräften passten beide für dieses Gebäude definitiv nicht geeigneten Wesen auch in das Zimmer hinein. Hier gingen schließlich die Menschen – nur der Mann im Kittel und Timey blieben zurück.

Der Mann blickte ernst zu ihr, hing dann einige schwarze Dinger an eine weiße, hell aufleuchtende Wand und deutete mit dem Finger darauf.

„Du weißt, warum du hier bist, oder?“ fragte der Mensch mit fester Stimme.

Luane blickte gläsern auf den Mann, schüttelte dann leicht den Kopf. Er nutzte daraufhin die Gelegenheit und legte eine Hand auf die Zehen ihrer linken Pfote, drückte diese leicht nach innen.

Sie schrie. Von einem Moment zum nächsten schien ihr linker Knöchel vor Schmerzen zu explodieren. Er hatte ihre Pfote vielleicht einen oder zwei Zentimeter bewegt, aber das reichte, damit sie glaubte, er würde ihr die Pfote abreißen.

Auf ihre Reaktion hin ließ er schnell ihre Pfote wieder los. Genau so schnell, wie der Schmerz gekommen war, verschwand er wieder unter dem Deckmantel der Schmerzmittel.

„Deswegen.“ Er deutete auf eines der schwarzen Blätter.

„Dein Freund hier meinte, du hättest einen ziemlich schlimmen Bänderriss oder ‚sowas in der Art‘. Naja – den hattest du wohl auch. Mehrfach, wie es scheint.“

Sein Finger wanderte über einige Regionen auf dem Bild. „Das, was du hier nicht siehst, wäre eigentlich der Bandapparat, den du haben solltest. Ich habe auch Bilder von deinem rechten Sprunggelenk zum Vergleich gesehen. Immerhin haben wir hier nicht so viele…ähm….von deiner Art in Behandlung. Jedenfalls – hier in der Region sollten eigentlich die Bänder sein. Wie man sieht, erkennt man nur noch zwei, drei vernarbte Ansätze, wo einmal Bänder WAREN. Du hast dir deinen Bandapparat vollends zerstört. Und wenn ich das Alter schätzen dürfte – schon knapp drei oder vier Jahre lang. Das du damit überhaupt noch auftreten konntest…“

„Konnte sie nicht.“ unterbrach Timey, der mit sorgenvollem Blick in Richtung Luane sah.

„…naja, jetzt weißt du zumindest warum. Aber wesentlich schlimmer ist das hier.“

Der Mensch deutete auf ein zweites Bild.

„Das hier ist der Talus. Oder besser: Diese drei Teile hier, die eigentlich EIN Knochen sein sollten. Die zahlreichen Risse, die man auf dem MRT-Bild sehen kann, sagen mir, dass du ihn dir wohl schon vor ziemlich langer Zeit gebrochen haben musst und seither mit einem mindestens gerissenen Talus herumgelaufen bist. Und heute Vormittag ist er entlang dieses Risses dann in drei Teile gebrochen, weil er…“ er deutet auf das dritte Bild, das allerdings auf Papier ausgedruckt wurde „…offensichtlich durch eine fortschreitende Nekrose so weit geschwächt war, dass es nicht mehr viel gebraucht hat. Hast du das verstanden?“

Luane nickte langsam. „Wie lange muss ich dieses Ding hier tragen, bis ich wieder laufen kann?“

„Ganz so einfach wird es wohl nicht sein fürchte ich.“ seufzte der Mann. „Die Nekrose ist fortschreitend – aufgrund des Umfangs der Verletzung. Selbst wenn wir dein Bein geschient lassen, wird der Knochen immer weiter absterben und morsch werden. Um eine operative Behandlung kommen wir nicht herum. Und wenn ich mir die Schwere der Verletzung ansehe…“

Der Blick des Arztes, der er offenbar war, verfinsterte sich, wanderte erst zu ihr, dann zu Timey, dann wieder zu ihr und schließlich auf das mittlere Bild an der leuchtenden Wand.

„…ist die beste Option in diesem Falle die Amputation des betroffenen Bereichs.“

Das Wort „Amputation“ riss sie in der Tat vollends aus den Wolken, die ihr das Schmerzmittel ums Hirn eingepflanzt hatte.

„WAS? Niemals! Ich werde mir keinesfalls mein Bein abschneiden la…AAAAAAARRGH!“ brüllte Luane, die sich aufrichten wollte und ihr Bein dabei ein wenig bewegte, auf diese Weise erneut die unbeschreiblichen Schmerzen spürte.

„Die nächstbessere Alternative wäre, das Gelenk operativ zu versteifen. Die Erfolgsaussichten sind zwar nicht ganz so gut, aber es wäre auch eine Möglichkeit.“

Luane sagte nichts mehr. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie schaute hilfesuchend zu Timey, der sich seinerseits zum Arzt wandte.

„Können wir beide kurz unter vier Augen reden bitte?“ Dann wandte er seinen Blick zu Luane. „Ich komme sofort wieder. Nur ein kurzer Augenblick.

Sie weinte, sah nur den beiden hinterher und verging in Trauer – und Wut über das, was mit ihrem Bein passierte. Was, wenn sie auf die zahlreichen Hinweise und Bitten von ihm, es einmal richtig auszukurieren, sich untersuchen oder gar behandeln zu lassen, gehört hätte? Jahrelang hatte er sie immer wieder darauf angesprochen, sie es aber als unnötig und Unsinn abgetan, sich gegen alles gewehrt und jegliche Hilfe verweigert.

Unendlich lang wirkende Zeit später ging erneut die Tür auf, kam Timey allein zurück, strich ihr mit einer Hand über den Kopf, wischte dann mit einem Flügelfinger vorsichtig ihre Tränen weg.

„Ich habe eben mit ihm gesprochen. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, die er gern versuchen will. Aber das ist die Schmerzhafteste. Und es wird lange dauern. Er schätzt, du wirst rund drei Monate hier in der Klinik bleiben müssen.“

Sie nickte langsam. „Er…schneidet mir mein Bein…nicht ab?“

Timey lächelte so freundlich, wie er nur in der Lage dazu war. „Ich habe ihm erklärt, mit welcher Leidenschaft du bei Wettrennen mitfliegst und wie wichtig dir das ist, dass du beide Beine dafür funktionsfähig brauchst. Und er hat mir versprochen, alles zu versuchen, was er kann, damit du bald wieder Rennen fliegen kannst.“

Erneut liefen ihr die Tränen herunter. Er hatte sie für ihre Leidenschaft in Anbetracht ihrer Verletzung immer kritisiert, angemahnt, sie solle doch pausieren und gesund werden. Wohl weil er wusste, dass sie sich bei ausnahmslos jedem Rennen wieder und wieder verletzte, ihr Bein nach jedem Rennen schlimmer aussah, als vorher. Diese Worte rührten sie.

„Also – wirst du ihn das alles machen lassen, ja?“

„Unter einer Bedingung.“

Timey seufzte. „Hör mal, ich habe doch wirklich alles getan, was ich hätte tun können. Mehr können die Ärzte…“

„Nicht die. Aber du.“ unterbrach sie ihn und griff nach seiner Flügelhand.

„Wenn ich zustimme, dann will ich, dass du, wenn das hier alles vorbei ist, mein Gefährte wirst.“

„Wir sind doch schon Freunde dachte ich?“

„Nicht Freunde – Gefährte. Ein Partner fürs Leben. Jemand, den ein Weibchen nur einmal in ihrem Leben wählt.“

Es schien, als dämmerte Timey, worauf sie hinaus wollte. Unsicher blickte er sie an. „Bist du dir wirklich absolut sicher damit?“

„So sicher, wie ich nur sein kann. Versprich es.“

Er seufzte, nickte dann langsam. „Dir zuliebe, ja, ich verspreche es.“

Das der Weg zurück schmerzhaft werden würde, war keine Untertreibung. Viermal wurde Luane an ihrem Sprunggelenk operiert, wurden die gebrochenen Stücke des Talus zuerst mittels Spezialkleber, dann mit Schrauben und Platten wieder zusammengefügt, wurde das Gelenk selbst so gut es ging neu geformt, Reste des völlig zerstörten Knorpelgewebes entnommen, nachgezüchtet und mittels Transplantaten restauriert, neue Bänder aus ebenfalls gezüchteten Zellen angebracht, gerissene Blutgefäße geflickt und neu angeschlossen und schließlich, nach einem Monat, die Platten und Schrauben wieder entfernt, gegen resorbierbare Komponenten getauscht. Dann folgte die Krankengymnastik und Bewegungstherapie, in der die Mobilität des Sprunggelenks langsam wieder hergestellt wurde. Zum Bedauern der Ärzte war die gesamte Arbeit allerdings nur teilweise erfolgreich gewesen, verblieben die Bänder nicht so stabil und stark, wie man es geplant und vorgesehen hatte. Auch das Knorpelgewebe wuchs nur zum Teil wieder an. So musste sie mindestens einmal im Monat eine Injektion in das Gelenk bekommen, damit das Knorpelgewebe sich langsam wieder zurückbilden könnte. Mit viel Glück bliebe ihr so die drohende Arthritis im Gelenk zumindest teilweise erspart. Die volle Stabilität jedoch würde sie niemals wieder mit ihrem Sprunggelenk erlangen. Auch deswegen erhielt sie eine spezielle Bandage, die die Stabilität zumindest auf rund 70% und damit ein akzeptables Maß erhöhen würde.

Sie zog den Flügel wieder etwas fester um sich und seufzte.

„Ich habe ihn mir gestern nur leicht verknackst und nicht umgeknickt. In zwei, drei Tagen ist alles wieder in Ordnung. Und ich werde bis dahin nicht mehr mit ihm rumlaufen. Versprochen.“

„Gut.“ sagte Timey und strich mit seiner Wange über ihre.

„Aber jetzt lass mich noch ein wenig schlafen, ja?“

„Und ich dachte du wärst hier die Frühaufsteherin von uns beiden.“

„Warte…“ begann Luane und hob den Kopf. „Willst du sagen du hast das gewusst? Die ganze Zeit?“

„Kein Kommentar.“

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Winternacht hat den Anfang gebracht

Eiskalter Wind blies durch den dichten, grünen Bewuchs, der den Eingang zur Höhle fast perfekt verschloss. Nur fast, da die Hängepflanzen lediglich von oben herab wucherten, den Boden höchstens leicht berührten, dort aber nicht befestigt waren, der Wind die so bei hinreichender Stärke zur Seite streichen konnte. Schließlich war es ein Eingang, der von demjenigen, der die Höhle vor fast zwanzig Jahren in Beschlag genommen hatte, täglich genutzt wurde.

Seine Mitbewohnerin, die nun im achtzehnten Jahr ebenfalls diese Höhle behauste, fröstelte die kalte Brise jedoch zusehends, erwachte und sah sich um. Nur ein schwacher, fahler Lichtschein verirrte sich durch die umher schwingenden Hängepflanzen ins Innere. Mondlicht, begleitet von einigen Schneeflocken, die sich ins Innere verirrten, auf ihrem Weg zum Boden aber wegen der höheren Temperatur im Inneren der Höhle bereits zu Tropfen schmolzen und so herabsanken, auf den mit Moos bewachsenen Boden klatschten, ohne jedoch ein Geräusch dabei zu machen.

In all den Jahren, die sie nun schon hier, ihrer neuen Wahlheimat, verbracht hatte, hasste sie den Winter noch immer. Ihr ganzer Körper bibberte leicht ob der kalten Temperaturen, die sie im Winter fast nie die relative Wärme der Höhle verlassen ließ, ließ sie jedes Mal ein wenig wehmütig an ihre Heimat zurückdenken, aus der sie einstmals hierher ausgewandert war. Damals war es für sie eine Idee, eine Flucht vor den Konsequenzen ihrer Sturheit, diktiert von ihrem Schamgefühl und Stolz. Erst in den letzten fünf Jahren hatte sie schließlich mit der Idee abgeschlossen, wirklich hier zu bleiben – bei jenem Artgenossen, der ihr vor besagten achtzehn Jahren einfach so das Leben gerettet hatte und mit dem sie nun diese Höhle hier teilte.

Noch etwas in Gedanken versunken rappelte sie sich von ihrem Nachtlager auf, blickte in seine Richtung, wie er, ihr zugewandt, auf der anderen Seite der kleinen, heißen Quelle inmitten der Höhle lag, den Eingang stets mit einem Auge beschützend, um sie vor etwaigem Übel zu bewahren. Ihm machte der kalte Luftzug nichts aus – er war rundlicher als sie, hatte dichteres Gefieder, war an die Kälte scheinbar gut angepasst. Sie dagegen hatte ein ausgesprochen dünnes, feines Federkleid und war athletisch-dünn, wenngleich eine deutlich sichtbare, kugelartige Rundung zwischen ihren Beinen ihren Bauch ungewöhnlich atypisch wölbte. Das wiederum war der Preis, den sie für ihre Beharrlichkeit gezahlt hatte, ihn, der ihr in fast zwei Jahrzehnten nur als Freund oder auch nur Bekannter hatte beistehen wollen und ihr niemals Avancen gegenüber gemacht hatte, als Gefährten zu erwählen und, um es nach der Tradition ihres Schwarms zu halten, sich mit ihm zu vereinen: Sie war trächtig, würde in einigen Monaten Nachwuchs zur Welt bringen, ob sie nun wollte, oder auch nicht.

Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging sie auf ihn zu, ohne ihn zu wecken. Ein Versuch, der leichter klang, als er wirklich war, denn mit jedem Schritt und jeder Bewegung, die sie tat, ging ein deutlich hörbares Knacken von ihrem linken Sprunggelenk aus, stets begleitet von nadelstichartigen Schmerzen, die durch ihr gesamtes Bein nach oben schossen. Sie biß auf die Zähne, ignorierte die Schmerzen und ließ sich schließlich langsam, dicht neben ihrem dunklen Gefährten wieder auf dem Höhlenboden nieder, kuschelte sich mit dem Rücken gegen seinen Bauch, zog einen seiner Flügel über ihren eigenen Bauch und wärmte sich so, ehe sie ihr linkes Bein von sich streckte, den Blick auf das schmerzende Gelenk richtend.

Auf den ersten Blick wäre niemandem aufgefallen, dass sich dort, um ihr linkes Sprunggelenk und den oberen Bereich ihrer Pfote ein hochfein gemusterter Stützverband befand – so genau war die Farbe des Materials, aus dem er gefertigt worden war, an ihre Haut- und Gefiederfarbe angepasst worden. Lediglich an den Rändern, den Übergängen, konnte man erahnen, wie das feine Gefiedermuster in ein kohlefaserähnliches Muster überging. Auch dass das Gelenk sichtlich dicker war, als ihr rechtes Sprunggelenk, sah man nur, wenn beide direkt nebeneinander lagen oder standen (etwas, was sie genau deswegen häufig vermied). Schließlich verdeckte dieser Stützverband auch praktischerweise die große OP-Narbe von dem Eingriff, mit dem die Schäden an ihrem Gelenk so weit beseitigt werden sollten, wie es denn nun eben ging. Zu ihrem Bedauern jedoch waren die Schäden in ihrem Sprunggelenk in über siebzehn Jahren kumulativ derart angewachsen, dass die Ärzte nur noch eine Schadensbegrenzung betreiben konnten. Laut den Diagnosen waren die Schäden sogar so immens, dass von Amputation oder alternativ Versteifung gesprochen wurde. Gegen beide dieser Vorschläge hatte sie sich vehement gewehrt und die dritte Alternative gewählt – den Versuch einer Wiederherstellung der ursprünglichen Funktion. Diese jedoch gelang nur zum Teil – die Schäden waren schlicht viel zu groß. Ganz gleich, was man auch versuchte – ihr Gelenk würde niemals wieder seine vollständige Stabilität zurückerhalten oder gar gänzlich schmerzfrei werden können. Ein wenig hatte sie es in den letzten Jahren bereits geahnt, sich unter anderem genau deswegen vor der Diagnose der Ärzte und Behandlungen innerlich gefürchtet und gewehrt. Jetzt war es ihre Erinnerung an alles, was sie im Leben falsch gemacht hatte. Eine Strafe, gewissermaßen, für alles, was sie im Leben falsch gemacht hatte. Für ihre Überheblichkeit…

Vor gut achtzehn Jahren hatte sie genau so, wie hier und heute gelegen, war ebenfalls von einem kalten Luftzug aufgewacht. Nur das es auf einer Insel im Golf von Mexiko gewesen war – ihrem kleinen, persönlichen Geheimversteck, wenn ihr ihr Vater oder die anderen wieder mal auf die Nerven gingen mit Kritik an ihrem Verhalten und der Tatsache, dass sie in ihrem Alter noch immer ohne Partner war. Diesmal jedoch war es ein besonders heftiger Rüffel gewesen, hatte sie doch einem anderen Männchen – Algos hieß er. Oder so ähnlich – auf seinen Versuch, ihr über die Wange zu streichen, doch einen der Flügelfinger gebrochen und ihm hinterher mit einem beherzten Tritt noch etliche blaue Flecken beschert. Und so war sie dem Donnerwetter, das zweifelsohne drohte, hierher entflohen, hatte sich den Magen mit reichlich frischen Früchten von den Bäumen und Sträuchern vollgeschlagen, sich einen der Bäume zurecht gebogen und es sich im Schatten gemütlich gemacht, döste vor sich hin und ließ die lästige Welt einfach Welt sein. Solange sie vor Einbruch der Nacht wieder daheim war, würde sie niemand suchen und so auch niemand ihr kleines Versteck ausfindig machen. Bis nach Hause wiederum war es, bei komfortabler Fluggeschwindigkeit, höchstens eine halbe bis eine Stunde. Eigentlich kein Problem…wäre da nicht dieser eiskalte Wind gewesen, der sie recht ruppig aus dem Schlaf riss.

Nur Augenblicke später, ehe sie von dem Wind eh erwachte, klatschte eine Mango dicht neben ihrem Kopf auf den Boden. Ihr Blick fiel in Richtung Horizont, wo sie die Sonne suchte, um die aktuelle Uhrzeit abschätzen zu können. Doch statt der Sonne sah sie nur, wie sich eine riesige, breite, kohlrabenschwarze Masse an Wolken immer weiter in ihre Richtung schob. Ein tropischer Sturm, der sich über dem Meer zusammengebraut hatte und nun in Richtung Küste zog – genau aus der Richtung, in die sie fliegen musste. Wenn sie sich nicht beeilte, würde er ihr den Weg abschneiden.

Mit einem Mal war sie auf den Beinen und machte sich auf zum Strand – hier im Wald war der Bewuchs zu dicht, als dass sie mit ihrer übergroßen Spannweite gefahrlos hätte abheben können. Also stürmte sie los, übersah dabei aber die dutzenden, angebissenen Früchte, die sie am Vormittag achtlos um sich herum verstreut hatte, und trat natürlich genau auf eine nun sehr matschige Mango, rutschte aus und kam dabei ins Straucheln, als ihre linke Pfote unter ihr zur Seite wegrutschte. Ein dumpfer Schmerz zog durch ihr linkes Sprunggelenk, ehe sie mit einem schnellen Griff nach einem Baum wieder ihre Balance zurückerlangte, ihre linke Pfote hochhob und einige Male nach links und rechts bewegte. Sie verzog ihr Gesicht.

Seit der Pubertät und damit nun knapp neun Jahren machte ihr ihre linke Pfote ständig diese Probleme. Es war eine Lästigkeit, über die sie nie ein Wort verloren hatte, die zum Glück nur jeweils einen oder zwei Tage wirklich anhielt, ihr dann aber sichtlich Problem bereitete, wenn sie ihr Bein wirklich vollständig brauchte. Eben genau so wie jetzt, wo sie schnell abheben musste, aber auch wusste, dass das Beste wäre, wenn sie zumindest eine oder zwei Stunden ausruhen würde, damit das Ziehen in ihrem Knöchel wieder wegginge. Doch die Zeit hatte sie schlicht nicht. Also biß sie auf die Zähne, lief mit einem leichten Humpeln auf den Strand, ging dort ein wenig in die Hocke, während sie ihre Flügel ausbreitete, um dann schließlich mit einem heftigen Satz gen Himmel in die Lüfte zu steigen.

Sie flog so schnell sie konnte auf die Sturmfront zu. Leider aber musste sie feststellen, dass diese Sturmfront selbst wesentlich schneller auf sie zu gekommen war, als sie befürchtet hatte. So hielt sie nach gut einer Viertelstunde Flug inne, schwebte und wog ihre Möglichkeiten ab. Sicher, sie hätte die Sturmfront auch umfliegen können, um dann von der Rückseite nach Hause zu fliegen. Das wiederum wäre etwas gewesen, was Stunden gedauert hätte – denn diese Sturmzelle schien gewaltig. Die andere Alternative – und bei der riet ihr ihre innere Stimme, sich dafür zu entscheiden – wäre gewesen, sich in ihrem Versteck in eine sturmsichere Ecke zurückzuziehen, zu warten, bis alles vorüber war und dann, bei nächster Gelegenheit, nach Hause zu fliegen. Überdeutlich hörte sie auch die mahnenden Worte ihres Vaters im Kopf, von solchen Stürmen tunlichst fern zu bleiben, da sie selbst für die besten Flieger gefährlich waren.

Luane rollte mit den Augen ob der Stimme in ihrem Kopf, die genau wie ihr Vater klang. Der Trotz übermannte sie schließlich, ließ sie mit kräftigen Schlägen ihrer Flügel nach vorn und auf den Sturm zu rasen.

„Die ‚besten Flieger‘ kommen mit so einem Stürmchen nicht klar? Na, die haben MICH noch nicht gesehen!“ brüllte sie in den Himmel hinaus, ehe sie kopfüber in die gigantische Sturmzelle eintauchte.

Keine zwei Sekunden später bereute sie ihre Entscheidung. Heftige Windböen rissen an ihren Flügeln, Regen, dessen Intensität so heftig war, dass es sich anfühlte, als würde sie tauchen, spülte über sie hinweg, während abertausende kleine Eiskristalle wie Nadelstiche auf ihren Körper einschlugen. Alles zusammen raubte ihr sowohl Sicht wie auch Atem, verlor sie im Wirbel der sich wild umher bewegenden Wolken fast die Orientierung, schleuderte der Sturm sie zuerst etliche hundert Meter nach oben, ehe sie direkt wieder ungebremst nach unten stürzte. Mit aller Kraft rang sie nach Kontrolle, war aber dennoch mehr Spielball der Elemente, ganz gleich, wie heftig sie dagegen ankämpfte.

„Muss…höher…fliegen…“ dachte sie. Ja, höher – denn da oben würde sie über den Sturm hinwegfliegen können, wären zumindest die Turbulenzen nicht so heftig sein. Also kämpfte sie sich mit aller Kraft nach oben, gegen die Scherwinde, gegen die Luftwirbel, gegen den heftigen Regen und die schmerzhaften Nadelstiche der hämmernden Hagelkörner. Rauf, das war eine Richtung, die sie auch ohne Orientierung finden konnte.

Sie stieg immer höher und höher – und tatsächlich wurden die Winde schwächer, dafür aber noch unberechenbarer. Auch die kleinen Nadelstiche sowie der Regen ließen nach. Dafür wurden aber die Hagelkörner größer und härter, donnerten sie nun wie Kieselsteine gegen ihren Körper, platzten vereinzelt Federn ab, wo sie in einem ungünstigen Winkel gegen ihren Körper knallten, hinterließen sie Prellungen oder kleine Wunden. Dennoch lenkte sie ihre Flügelschläge weiter in Richtung Himmel, weiter nach oben, dem Leuchten der Sonne, die sie dort oben schon zu erkennen meinte, entgegen. Erst Augenblicke vor dem Aufprall realisierte sie, dass das, worauf sie zuflog, nicht die Sonne war – auch wenn es ähnlich hell strahlte.

Ein riesiger Eisbrocken, zusammengefroren aus tausenden und abertausenden einzelnen Hagelstücken, raste ihr entgegen, glitzerte und leuchtete grell. Sie riss ihren Körper zur Seite, um dem Brocken noch im letzten Moment ausweichen zu können, doch ihr Körper reagierte nicht so, wie sie es von ihm erwartete. Die Feuchtigkeit, der andauernde Hagel und die eisigen Winde hier oben hatten ihren Körper nahezu vollständig mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die sie träger, steifer und schwerer machte. Mit aller Kraft stemmte sie sich dagegen, um den Brocken nicht mit dem Kopf zuerst zu treffen, fühlte sie das Eis auf ihrem Körper zerbrechen, doch um die Kollision zu verhindern, kam das alles zu spät.

Eine der vielen, rasiermesserscharfen Spitzen aus Eis bohrte sich in ihre linke Wange, schnitt von dort aus tief und mit einem Ruck über ihr linkes Auge, riss ihr Augenlid entzwei, noch ehe sie ihren Kopf vollständig aus der Flugbahn hatte bewegen können. Ihr restlicher Körper aber wich dem Brocken fast perfekt aus, so dass dieser beinahe an ihr vorbeiflog…und dann doch ihren linken Flügel genau im Ellenbogengelenk traf. Die Wucht des Aufpralls ging wie ein heftiger Schlag durch ihren gesamten Flügel, Federn und Blut spritzten, als der Eisbrocken an ihrem Flügel in zwei Hälften zerbarst, den Flügel nach hinten warf. Es knackte in ihrer linken Schulter, als ihr Flügel mit aller Wucht nach hinten geschleudert wurde und dann erschlaffte. Der plötzliche, heftige Schmerz ließ es schwarz vor ihren Augen werden und ihr Bewusstsein schwand für einige Sekunden.

Als sie fast eine halbe Minute später wieder zu sich kam, fühlte sie, wie sie unkontrolliert trudelnd nach unten stürzte. Zurück in die regnerischen Stürme, die sie erneut wie einen Spielball umher wirbelten, dann aber tiefer und noch tiefer. Schließlich brach sie durch den unteren Rand der Wolkendecke und stürzte, begleitet von Blitzen, die die Schwärze immer wieder erhellten, dem schäumenden Meer entgegen.

Ihr linkes Auge war gefüllt mit Blut, legte über alles, was sie sah, einen nahezu undurchdringlichen, roten Schleier. Doch selbst durch diesen erblickte sie die messerscharfen Felsen, die zwischen dem schäumenden Meer hinauf ragten. An dieser Stelle – das wusste sie aus eigener Erfahrung – war das Meer nicht sonderlich tief, die Riffs und Felsen wären, wenn sie mit diesem Tempo eintauchte, ihr sicherer Tod. Wenn sie überleben wollte, musste sie einen anderen Ort suchen – so sie dazu noch in der Lage war.

Mit aller Kraft versuchte sie, ihren linken Flügel wieder auszubreiten und ihren Absturz zu verlangsamen. Zu ihrem Erschrecken gehorchte er ihr nicht so, wie sie wollte.

„Ich…glaube…er ist gebrochen…“ dachte sie, als sie ihren Flügel zitternd und vorsichtig auszubreiten versuchte, was dieser mit einem infernalischen Schmerz quittierte. Und doch gelang es ihr, das Trudeln zu beenden, ihren Absturz zu verlangsamen und sich zumindest halbwegs in der Luft zu halten. Aber das Zittern in ihrem linken Flügel war überdeutlich: Sie würde nur noch höchstens gleiten können. Und wie lange, war auch nicht sicher. Ihr blieb so nur, möglichst schnell einen sicheren Platz für eine Landung zu erspähen.

Es war wohl ihrem Glück zu verdanken, dass sie in relativer Nähe eine kleine Insel erspähte, die die Form einer etwas unförmigen Erdnuss hatte, deren eine, rundliche Hälfte aber gänzlich aus flachen Felsen zu bestehen schien, auf denen sie notfalls sogar eine Bruchlandung riskieren konnte. Die Ränder waren zwar ebenfalls scharfkantig, aber das Plateau würde ausreichen…dachte sie.

Je tiefer sie sank, umso heftiger wurden die Scherwinde, die von den ganzen Felsen, dem tosenden Meer und der unförmigen Insel nahezu unvorhersehbar umher bliesen. Sie machte sich keine Illusionen: Das hier würde eine unsanfte Landung werden. Also streckte sie ihre Beine so weit aus, wie sie nur eben konnte, bremste mit ihren Flügeln gerade so viel, wie ihr linker Flügel zu ertragen in der Lage schien und setzte so sehr schnell mit den Zehenspitzen auf. Sie atmete tief durch, wollte ihre Flügel schnell zusammenfalten, als eine weitere Böe von rechts sich unter ihrem rechten Flügel fing und diesen nach oben riß.

Sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an, wieder in die Luft gehoben zu werden, ließ ihren linken Flügel bewusst unaerodynamisch sinken. So jedoch wurde sie ausgehebelt, glitt sie auf dem nassen Felsen nur auf ihrer linken Pfote stehen schnell nach links, rang sie mit dem Gleichgewicht, als sie plötzlich mit ihrer äußeren Zehe in ein Loch hinein rutschte und hängen blieb. Doch der Wind ließ nicht ab, schob sie weiter nach links weg, während sich ihre Pfote unter ihr langsam zur Seite Bog, ehe es mehrmals laut in ihrem Knöchel knackte, ihre Ferse auf dem Boden aufschlug und sie schließlich mit voller Wucht auf ihre linke Seite knallte, ihren Kopf gegen einen anderen Felsen donnerte und so schließlich gänzlich das Bewusstsein verlor.

Erst die Morgensonne, die nach einer stürmischen Nacht erneut für Wärme sorgte, weckte sie aus ihrer Bewusstlosigkeit. Heftige Kopfschmerzen ließen sie nur langsam wieder zu Bewusstsein kommen, während ihr linkes Auge von getrocknetem Blut gänzlich verklebt war, sich nicht öffnen lassen wollte. Auch ihr linker Flügel gehorchte ihr nicht, bis sie spürte, dass die enormen Schmerzen, die sie fühlte, offenbar von ihrer linken Schulter stammten. Vorsichtig tastete sie ihre linke Schulter ab. Sie spürte, wie diese offenbar ausgekugelt war, griff kurzerhand nach ihrem Oberarm und zog mit einem Ruck. Ein kurzes Knirschen, ein spitzer Schmerz und das Gefühl in ihrem linken Flügel kehrte zurück. Er schmerzte zwar noch immer und sie war sich sicher, dass es zwei oder drei Tage dauern würde, ehe sie ihn wieder halbwegs belasten können würde, aber glücklicherweise war nichts gebrochen. Dann blickte sie nach oben.

Der Himmel war wolkenlos. Dafür brannte die Sonne unnachgiebig auf sie hinab. So sehr sie Wärme auch mochte, war das direkte Sonnenlicht über längere Zeit schmerzhaft für ihr dünnes Gefieder und ihre Haut. Zum Glück verband ein steinerner Pfad die beiden Inselhälften miteinander, wuchs auf der anderen Hälfte ein relativ dichter Wald. Bäume und Sträucher wiederum bedeuteten Wasser, bedeuteten Früchte und Schatten. Von allem konnte sie gerade reichlich gebrauchen. Also rappelte sie sich vorsichtig wieder auf, um in dem Wald Schutz zu suchen.

Sie hatte gerade den ersten Schritt mir ihrer linken Pfote gemacht, als es ein hässliches Knacken in ihrem linken Knöchel gab. Noch während der Schmerz durch ihr Bein empor schoss, kippte ihre Pfote zur Seite weg, rollte ihre Pfote über ihre äußere Zehe zur Seite, bog sich ihr Knöchel nach außen und klatschte sie ungebremst vorwärts auf den harten Felsboden. Ein Schmerz, so heftig, als würde ihr jemand in ihr linkes Bein beißen und es gleichzeitig halb abreißen, brannte grässlich und heftig. Mit aller Kraft unterdrückte sie einen Schmerzensschrei, sog sie minutenlang Luft durch die Nüstern ein, versuchte sie die Schmerzen durch Atmung irgendwie in den Griff zu bekommen. Doch auch wenn sie langsam schwächer wurden, verschwanden sie nicht vollends.

Als die Schmerzen weit genug abgeklungen hatten, rieb sie vorsichtig etwas vom Schorf von ihrem linken Auge herunter – gerade genug, damit sie damit etwas erkennen konnte. Dann rollte sie sich auf die rechte Seite, bog ihren Hals und blickte auf ihr linkes Bein herab, um zu sehen, was los war.

Ihr linker Knöchel war auf fast die dreifache Dicke dessen, wie er eigentlich aussehen sollte, angeschwollen. Eine dicke Rundung wölbte sich dort, wo das Gelenk saß, nach außen. Außerdem sah sie, wie sich ein großer Bluterguss zu bilden begann.

„Na prima“ seufzte sie. „Der macht mir wirklich nur Probleme…“

Die Sonne aber brannte weiter unerbittlich von oben. Egal, sie musste ihm etwas Ruhe gönnen, ehe sie ihn wieder belastete. Ganz so, wie immer.

Doch auch als sie am Abend erneut versuchte, aufzustehen und ihre linke Pfote zu belasten, knickte diese einfach unter ihr weg, waren die Schmerzen unverändert schlimm. Wieder und wieder versuchte sie es im Abstand von etlichen Stunden. Und bei jedem Versuch knickte ihre Pfote einfach unter ihr weg, sobald sie sie zu belasten versuchte. So verging der komplette Tag, kam die Nacht, ging auch diese und brach der nächste Tag an. Aber während ihr linker Flügel langsam immer beweglicher und schmerzfreier wurde, so blieb ihre linke Pfote gleich instabil, verweigerte sie ihr den Dienst. Am Ende des zweiten Tages fühlte sie, wie ihr Rücken von der anhaltenden Sonne und Hitze schmerzte, sich ein Sonnenbrand ausbreitete. Außerdem hatte sie einen unglaublichen Durst und Hunger, gierte sie nach Wasser oder Nahrung.

Der dritte Tag bot auch keine Besserung. Schlimmer noch: Ihr schwand mehr und mehr die Kraft für neue Versuche. Der Durst indes ließ ihre Kopfschmerzen erneut aufflammen. Als die dritte Nacht kam, wusste sie, dass sie keinen vierten Tag ohne Wasser überleben würde.

Und an genau jenem vierten Tag, nur Stunden, ehe sie wirklich das Zeitliche gesegnet hätte, sah sie den Schatten von eben jenem, an den sie sich jetzt gerade kuschelte, über sich herabsinken, fühlte sie, wie sie auf einen Rücken gehievt, in den Schatten geschleppt und an der Wasserquelle abgelegt wurde.

Er hatte sie gerettet. Nur würde es lange dauern, ehe sie ihm angemessen dafür danken sollte.

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