
Samira hatte ein Leben, das viele andere gebrochen hätte. Tatsächlich war sie mehr als einmal vor ihrem persönlichen „Breaking Point“ – oder sogar schon darüber hinaus. In ihrer Hintergrundgeschichte konnte man sehr gut erfahren, wie das Leben sie durchgekaut und wieder ausgespuckt hat. Und doch – sie hat die Kehrtwende geschafft.
Allerdings: Nicht allein.
Wer am Boden liegt, kommt nur selten wieder alleine auf die Beine. Das war bei ihr nicht anders. Und dafür musste sie nicht einmal die Probleme mit ihrem verletzten und dadurch kaputten, rechten Sprunggelenk als Grund heranziehen. Sie musste diese Hilfe auch nicht explizit suchen – was sie aus eigener Motivation sicher auch niemals getan hätte. Sie verbrachte stattdessen ihren Alltag in der Autowerkstatt, auf dem Posten des ewigen Lehrlings, der nie zur Berufsschule geht, nie Lesen und Schreiben lernt, dadurch auch nicht weiterkommt. Ihre Panik vor den Menschen, die sie für soziale Interaktionen komplett unempfänglich machte, tat da ihr Übriges.
Und doch war es am Ende genau so eine Interaktion, die ihr Leben auf links krempeln sollte. Ein Kunde in der Werkstatt, der von ihrem Chef explizit zu ihr geschickt wurde, erkannte nämlich die ehemalige Beinahe-Amateurmeisterin im Gewichtheben wieder, die nun nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Und es war genau dieser Fan, der sie nicht aufgab, immer neue Gründe fand, in die Werkstatt zu kommen, sie mit Aufträgen zu bedenken und sie doch ganz langsam in Gespräche zu verwickeln.
Als sie dann nach Monaten endlich einwilligte, ihn bei einer kleinen Wanderung durch die Natur zu begleiten, warf ihr das Schicksal zum zweiten Mal eine Wurzel in den Weg und stürzte sie schwer, zog sie sich erneut eine Verletzung an ihrem eh schon schwer lädierten, rechten Sprunggelenk zu. Doch anstatt es wie die vielen anderen, kleineren Wehwehchen alleine zu ertragen, kümmerte er sich rührend und leidenschaftlich um sie. Zwar verlor sie so ihren Job in der Werkstatt, doch jener Fan, der in den Monaten zu einer Art Freund geworden war, übernahm ihre Schulden und sogar die Kosten für ihre erneute Behandlung. Eine Behandlung, die die Schäden durch die vorherigen Operationen weitestgehend in den Griff bekam.
Um die Schulden bei dem Freund abzuarbeiten, erlernte sie einen völlig neuen Beruf. Mit Kamera in der Hand und geschultem Blick einer Sportlerin wurde sie zu einer Sportfotografin, deren Aufnahmen unter einem Pseudonym schnell in den Presseverlagen für Ansehen sorgten. Parallel ermutigte ihr nun relativ guter Freund sie dazu, endlich Lesen und Schreiben zu lernen, trainierte mit ihr häufig bis tief in die Nacht Vokabeln, den Umgang mit Stift und Papier und brachte Buch um Buch zu ihr. Das sie, mit einem Körper voller Narben, einem eher molligen Körperbau und einer ihn weit überragenden, physischen Präsenz alles andere als anziehend für einen normalen Menschen wirken musste, schien ihn nicht zu stören. Und ihre eigene, panische Angst vor Menschen, die insbesondere bei Männern stark ausgeprägt war, schien mit jedem Tag, der verging, ein wenig mehr in den Hintergrund zu treten.
Dann, im Alter von 33 Jahren – 7 Jahre, nachdem sich die beiden zum ersten Mal getroffen hatten – geschah das, was ihr Leben vollends verändern und die Bindung zwischen den beiden für alle Zeiten zementieren sollte: Sie, eine Humanoide, die sich niemals wieder in die Nähe von Menschen begeben wollte und sich jahrelang immer tiefer in sich selbst zurückgezogen hatte, gab sich ihrem nun wirklich guten, menschlichen Freund in einem leidenschaftlichen Moment hin. Und obwohl sie sicher gewesen war, aufgrund ihrer Genetik, vergangener Ereignisse oder warum auch immer sonst unfruchtbar gewesen sein sollte, als Humanoide zu einem Menschen per se inkompatibel hätte sein müssen, entwuchs aus diesem leidenschaftlichen Moment nach 8 Monaten ein junges Humanoidenmädchen.
Die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter – einem Kind, das nicht hätte existieren dürfen, da die Gesetze eine derartige Verbindung verbaten, war der letzte Stoß in die Richtung, damit sich Samira zu dem entwickeln sollte, was man auf diesem Foto sieht.
Sich selbst hatte sie schon vor fast einem Jahrzehnt aufgegeben, hatte sich hängen gelassen und die Welt nur noch zu ertragen versucht. Aus diesem Loch war sie zwar herausgezogen worden, doch wirklich an sich selbst geglaubt hatte sie noch immer nicht. Jetzt aber, mit der Geburt ihrer Tochter, hatte sich das geändert. Nur zu gut wusste sie aus eigener Erfahrung, wie es für eine Humanoide in dieser Welt ist, wenn man niemanden hat. Um ihrer Tochter DAS zu ersparen, würde sie kämpfen.
Nur Wochen nach der Entbindung begab sie sich so erneut zum Arzt und unterzog sich der fünften und bisher letzten Operation an ihrem rechten Sprunggelenk, das ihr seit der vierten Operation zwar merklich besser geworden war, jedoch bis zu diesem Tag hochgradig instabil blieb, was ihr zahlreiche Bänderdehnungen sowie eine grobe Abhängigkeit von Orthesen beschert hatte. Verglichen mit ihrer Vergangenheit war das eine Kleinigkeit – aber um zu erreichen, was sie erreichen wollte, reichte ihr das nicht: Sie wollte wieder vollends fit werden. Stark. Entschlossen. Für ihre Tochter.
Mit der fünften Operation, die mit weitem Abstand die teuerste von allen war, verschwanden dann auch die Narben unter einer gut gemachten Fellplastik, begann sie eine Diät und ein strenges, heftiges Fitnessprogramm, um wieder in Form zu kommen, so dass sie, im Alter von 35 Jahren, jung, stark, schlank und vollends entschlossen in die Zukunft blicken kann.
Als Mutter. Als Ehefrau. Als Kämpferin, die ganz am Boden war und dem Schicksal, bei dem sich andere schon lange das Leben genommen hätten, gezeigt hat: „Ich gebe nicht auf! DU brichst mich nicht!“
