Man sagt, dass mit 35 Jahren die „Lebensmitte“ erreicht ist. Ab diesem Zeitpunkt steht eigentlich schon der Pfad, den man im Leben nehmen wird, weitestgehend fest. Alles, was danach kommt, ist nur noch eine Weiterentwicklung. Große Neuigkeiten und Veränderungen sind meistens nicht mehr zu erwarten. Insbesondere nicht in einem eher stabilen, relativ konservativen Land wie Deutschland.
Thomas dachte das von sich selbst auch. Sicher, sein Job im Rathaus war wichtig für die Gemeinde, aber leider auch eher eintönig. Er erwischte sich selbst dabei, die Formulierungen der Gesetzes- und Ratsvorschläge ein wenig zu optimieren. Anfangs korrigierte er nur Tippfehler, dann aber auch die Zahlenwerte in die etwas korrektere Richtung, so dass die Budgets nicht überzogen wurden und diejenigen, die die Anträge einreichten, teilweise selbst davon überrascht wurden, die unabsichtlichen Fehler plötzlich korrigiert zu sehen. Groß kontrolliert oder nachgefragt, wer denn die Änderungen eingebracht hatte, wurde Thomas dabei nicht. Und selbst wenn – es waren stets nur marginale Änderungen. Natürlich hätte er auf diesem Weg auch leicht Änderungen einarbeiten können, die ihm persönlich zugute gekommen wären, die anderen geschadet oder seine eigene, politische Agenda, der er aber nur im Stillen nachging, gedient hätten. Allerdings – die Sorte Mensch war er nicht. Er war ein Idealist, der morgens und abends lieber mit dem Hund spazieren ging, der durch die nahen Wälder wanderte und fand, dass er einen guten Job tat. Natürlich hätte er noch mehr tun können – aber die Mittel dazu hatte er nicht. Das Unrecht und die vielen, schlimmen Taten, die auf der Welt geschahen, schmerzten ihm in der Seele, doch außer auf seinen Spaziergängen durch die Wälder ließ er diese Qualen niemanden anmerken.
Der Wald dagegen war seine Echokammer, war der Ort, an dem er seine Sorgen aus sich hinaus brüllen, seine Wünsche in die Luft schreien und seine Stimme, die laut wie Donnerwetter war, erklingen lassen konnte. Er wusste, dass er diese Macht in sich trug, er mit lauten Worten, wenn er sie nur entschieden aussprach, anderen seinen Willen hätte aufdrücken können. Genau das hatte er in den ersten Jahren seines Lebens getan. Da war er laut gewesen, zügellos, hatte versucht, seine eigene Schwäche dadurch zu kompensieren, indem er Schwächere noch kleiner brüllte. Irgendwann aber wurde ihm klar, dass er selbst dadurch keinen Zentimeter größer wurde, das Problem nicht verschwand – es wurde um ihn herum nur einsamer. Also hatte er diesen Teil von sich tief in sich vergraben und ließ es nun hier, wo er niemandem schaden konnte, aus sich hinaus brechen, damit er im Alltag nicht platzte.
Ganz gleich, welches Wetter – er fürchtete sich nicht vor dem Wald. In gewisser Weise fühlte er sich im Wald sogar während eines Sturms sicherer, als zu Hause in seinen eigenen vier Wänden. Umso überraschter war er, als er während eines Gewitters nur Zentimeter von sich selbst entfernt einen Blitzeinschlag in einem der Bäume erlebte. Doch statt den Baumstamm in voller Länge zu spalten und dann in den Boden zu fahren, fuhr der Blitz von einem der Äste über Thomas in ihn selbst hinein, durchschoss seinen Körper…und versank auf für ihn unerklärliche Weise in ihm. Weitere Blitze zuckten vom Himmel, doch diesmal verfehlten sie die umliegenden Bäume, donnerten in den Mann, der die Arme von sich streckte und die Blitze einsog, als seien sie Lichtstrahlen, die in ein schwarzes Loch glitten.
Jeder Mensch wäre von nur einem dieser Blitzeinschläge problemlos verkohlt und getötet worden. Thomas jedoch wurde an diesem Abend und in diesem Sturm von insgesamt 39 Blitzen getroffen. Doch die Blitze töteten ihn nicht. Und mit jedem Blitzschlag, der ihn traf, verstand er ein Stück mehr, warum das so war: Es war die Entscheidung des Waldes, ihn nicht zu töten. Jahrelang hatte der Wald die Klagen, die Wutausbrüche des Mannes gehört und ertragen. Und auch wenn er sich hin und wieder eines durchaus farbigen Vokabulars bediente, war sein Zorn doch stets ein gerechter Zorn gewesen. So hatte er Unrecht, das im widerfahren war, aus sich heraus gebrüllt, aber nie nach Vergeltung getrachtet oder denen, die ihm Unrecht getan hatten, Verwünschungen hinterher gebrüllt. Im Gegenteil hatte er sich selbst die Schuld daran gegeben, hatte mit aller Kraft Argumente in den Wald gebrüllt, womit er seine Gegenüber hätte umstimmen können, wenn sie ihm denn nur zuhören würden. Und er hatte die Ungerechtigkeiten der Welt angeklagt, die immer neuen Unwägbarkeiten angeprangert und das Leid, für das er, um es zu mindern, viel zu klein und schwach war, verdammt.
All diese Worte waren nicht einfach verklungen. Sie hatten Eindruck im Wald hinterlassen, war von den Bäumen und Sträuchern aufgesogen worden. Und als er vom ersten Blitz getroffen wurde, der Blitz mit aller Kraft in den Boden fahren und so energetischen Schluss bauen wollte, hatte sich der Waldboden geweigert, dies zuzulassen, stattdessen mit einer anderen Energie geantwortet, die die Elektrizität umwandelte.
Als der vierzigste und damit letzte Blitz in ihn einschlug, hatte Thomas verstanden. Er sackte auf die Knie, denn er hörte die Stimme des Waldes, die freundlich, geduldig und ruhig – wie ein alter weiser Großvater, wie wir ihn uns alle wünschen, vor dem Kaminfeuer im Ohrensessel sitzend und aus einem Buch langsam vorlesend – zu ihm sprach, ohne aufzudrängen, sich aufzudrängen oder gar belehrend zu wirken.
„Du hast ein ehrliches Herz und die Geduld einer Eiche. In dir brodelt das Feuer des Sturms, doch du hast es bereits gemeistert. Nun jedoch sollst du auch die Kraft haben, sie zu kanalisieren und das Richtige zu tun, damit du dein Feuer nicht länger aus dir hinaus schreien musst. Nimm dieses Geschenk – und trage es in die Welt, um das zu korrigieren, was du im Stande bist.“
Mit diesen Worten des Waldes in den Ohren erhob sich Thomas, blickte sich um. Für einen kurzen Augenblick war ihm, als würden sich die Bäume um ihn herum zu einem Nicken verneigen. Vielleicht aber war es auch einfach nur der Sturm, der sie bewegte und diese Bewegung imitieren ließ. Doch ganz gleich, was es war, er wusste nun sehr gut, was er als nächstes tun würde. Denn wie der weise Wald gesagt hatte, so fühlte er die Energie, die Stärke in sich. Und er nickte sich selbst zu.
Vielleicht würde er seine zweite Lebenshälfte ja doch anders verbringen, als er gedacht hatte. Vielleicht würde er versuchen, Dinge zu ändern, die er für unveränderlich gehalten hatte.