Die Landschaft waberte leicht, verschwamm immer wieder vor ihren Augen. Ein sanfter, grünlicher Schein erfüllte ihren Horizont, als Bergketten mit Tälern zu verschmelzen begannen, das große Meer verschwand und aus dem, was früher zwei war, wieder Eins wurde. Riesige, grasbewachsene Ebenen erstreckten sich unter ihr, ein strahlend blauer Himmel über ihr und Berge, die in ihren Gedanken lediglich als ‚perfekt’ bezeichnet werden konnten.
Dieser Traum war so wunderbar, er brachte sie an Orte, die sie in ihrem Leben noch nie gesehen hatte, zeigte ihr die östlichen Königreiche, wie sie wohl früher einmal ausgesehen haben mussten. Dann raste das Bild vor ihr und zeigte stattdessen eine Stadt, die gänzlich aus einfachen Bauten, aus eleganten Holzkonstruktionen und lebenden Bäumen bestand.
Jetzt erkannte sie auch Gesichter. Tauren, Nachtelfen, sie standen Seite an Seite. Etwas, das in ihrer Heimat als undenkbar galt, sah sie dort. Sie kämpften nicht, standen sich voller Respekt und Freundschaft gegenüber. Ja, das musste der berühmte und bekannte Zirkel des Cenarius, des Waldgottes sein.
Unvermittelt streckte sie die Hand nach einem der Bücher aus. Der grüne Schemen um sie herum verschwand, als ihr Geist in die Wirklichkeit des Seins eindrang. Jetzt sah sie genau und klar, was vorging, hörte unzählige Stimmen, die über alle Dinge in Azeroth sprachen, spürte die Bedenken an allerorten. Und noch immer lag in ihrer Hand dieses Buch, das sie aufschlug.
Die Schriftzeichen in dem Buch waren ihr gänzlich unbekannt und doch verstand sie jedes einzelne Wort. Wie eine Melodie sang es in ihrem Kopf, ließ sie jede Silbe verstehen. Als sie aufblickte stand sie nicht länger in dem Gebäude, in dem sie gerade gestanden hatte, sondern vor einem großen Geist. Zuerst erschrak sie, dann betrachtete sie den Schemen vor sich genauer.
Es war ein Taure. Ebenso, wie sie einer war. Auf seiner Brust war das Emblem eines Drachen abgebildet und der Stab, den dieser Taure mit sich führte, trug am Kopf ebenfalls eine handgeschnitzte Drachenstatue. Doch noch weitaus verwirrender als diese überaus ungewöhnlichen Verzierungen war die Tatsache, dass dieser Taure die Augen geschlossen hielt und sich selbige unter den Lidern rasch hin und her bewegten.
„Du wanderst schon lange durch diese Träume. Und doch verstehst du ihre wahre Bedeutung noch nicht, Braline Spearhoof. Doch dies, so versichere ich dir, wird sich bald ändern.“
Sie erschrak einen Moment. Nicht etwa, weil diese Gestalt sie offensichtlich trotz ihrer geisterhaften Erscheinung, die durch alles hindurch glitt und die von niemandem anderen gesehen wurde, so offensichtlich wie ein Baum bemerkt worden war, sondern auch, weil sie von dieser Gestalt mit einem Namen angesprochen wurde, den das letzte Mal ihre Mutter benutzt hatte….vor vielen, vielen Jahren. Seither hatte sie sich selbst und alle anderen im sie herum nur noch Braunpelz genannt, was hervorragend zu ihrem sanften, braunen Fell passte. Woher also kannte dieser Taure dort ihren wahren Namen?
„Ängstige dich nicht, junge Druidin. Ich kenne dich und deine Art schon länger, als ihr euch selbst kennt. Und ebenso wie deine Brüder und Schwestern, die den Lehren des Cenarius folgen wollten, werde ich auch dir deine ersten Unterweisungen geben. Öffne deinen Geist und lerne, junge Taurin. Dann wirst du verstehen.“
Ein Zucken fuhr durch ihren Körper. Ein Wissen, das so alt wie die Welt selbst zu sein schien, durchzog sie. Wilde Bilder von Tieren, Wäldern, Bäumen, riesigen Leviathanen, dem Waldgott, vielen Tauren und Nachtelfen und schließlich sogar ihr eigenes Bildnis rasten durch ihre Gedanken. Ein nicht enden wollender Strom von Wissen durchfloss sie, lehrte sie in Augenblicken Dinge, für die andere ein Leben gebraucht hätten. Sie öffnete ihren Mund, wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihren weit aufgerissenen Lippen.
„Nun ist es Zeit für dich, zu erwachen. Die Nacht neigt sich ihrem Ende und ein weiter Weg wird dir bevor stehen, junge Braline. Dein wahrer Weg wird sich dir offenbaren, wenn du ihm folgst. Denn er ist dir vorausbestimmt. Doch nun folge deinem Körper und kehre zurück.“
Sie blinzelte noch einige Male, versuchte den Tauren, der gerade noch vor ihr gestanden hatte, erneut zu erblicken. Doch er war weg…als hätte ihn der aufziehende grüne Nebel verschluckt. Lediglich ein großer, unförmiger Schatten war noch an dieser Stelle, der rasch schneller wurde, über sie hinweg fegte und hinter den Bäumen verschwand. Nur ein leichter, grüner Schimmer war noch zu erkennen gewesen.
Sie spürte ihren Körper, fühlte, wie er nach ihr rief. Schnell trieb sie zurück, folgte dem Pfad, der so offensichtlich vor ihr lag wie kein anderer vor ihm. Schnell, immer schneller wurde ihre Bewegung, ihr Drang, nun zurück zu kehren. Dann sah sie sich selbst, wie sie auf dem Boden lag, umringt von ihren Freunden und Bekannten. Nur noch ein kleines Stück, dann glitt ihr Geist wieder über in die Realität, trat in ihren Körper ein.
Ein Zucken fuhr durch sie, dann blinzelte sie mehrmals und sah auf. Benommen nahm sie die Umwelt wahr.
Sieben andere Taurinnen standen um sie herum, blickten besorgt auf sie herab. Alle schienen in ihrem Alter zu sein, doch trugen sie alle andere Kleidung als sie es tat.
„Brauni? Bist du in Ordnung?“ fragte die Taurin direkt neben ihr. Sie nickte knapp, versuchte sich dann langsam aufzuraffen.
„Hey, sie ist in Ordnung! Ein Glück!“
„Wir dachten schon an das Schlimmste!“
„Wieso hast du nicht in deinem Bett geschlafen?“
„War der Boden weich genug?“
Fragen über Fragen kamen aus der Gruppe. Doch Braunpelz verstand keine der Fragen wirklich und richtig, blickte sich suchend um, als würde ihr etwas fehlen. Dann bemerkte sie die Beule an ihrem Kopf und das Bett rechts neben ihr. Die untere Liege war noch belegt – eine Taurin mit gänzlich schwarzem Fell lag noch darin und hatte ihr den Rücken zugedreht, versuchte offensichtlich noch weiter zu schlafen. Die Liege darüber war leer, die Decke hing herab.
Sie war also aus dem Bett gefallen. Während sie schlief und geträumt hatte? Moment…hatte sie vielleicht genau deswegen das geträumt, was sie gesehen hatte?
Langsam stand sie auf und stellte sich auf ihre eigenen Hufe. Nachdem sie mehrere Male versichert hatte, dass mit ihr alles in Ordnung war, ging sie nach draußen.
Es war noch früh. Die Sonne suchte gerade erst einen Weg über die Klippen von Mulgore und spendete trotzdem die ersten Sonnenstrahlen für die Hauptstadt der Tauren, Donnerfels. In einiger Entfernung roch man den Duft von frischem Kräuterbrot, an anderer Stelle nahm die das Plätschern des kleinen Sees wahr.
Es war noch früh und dennoch fühlte sie schon das Leben an diesem Ort. So intensiv wie sie es noch nie zuvor gespürt hatte.
Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie dem Sonnenaufgang entgegen blinzelte. Dann drehte sie sich um und ging rasch wieder in die Hütte hinein. Die anderen hatten sich größtenteils wieder auf ihre Liegen gelegt und ruhten sich aus. Nur eine getupfte Taurin stand ihr gegenüber und betrachtete, was Braunpelz da trieb.
„Was hast du vor?“ meinte diese, als sie sah, wie Braunpelz ein Bündel mit einigen Kleidern und den wenigen Groschen, die sie besaß, packte.
„Ich…folge meinem Weg.“ murmelte Braunpelz mehr zu sich als zu Kabana, die sie zweifelnd anstarrte.
„Deinem Weg? Du hast doch gerade erst mit der Ausbildung angefangen. Und du bist noch viel jünger als…
„…noch viel jünger als alle anderen, die hier sind. Ich weiß, doch ich weiß auch, dass ich gehen muss.“
Kabana legte eine Hand auf die Schulter von Braunpelz. „Was haben die Geister dir offenbart?“ fragte sie ihre Freundin. Kabana war eine Schamanenschülerin, die Kenntnis um die Geister war ihr in die Wiege gelegt worden – ebenso wie ihr erstes Totem, mit dem sie früher als kleine Kuh schon gespielt hatte.
„Ich…weiß es nicht genau. Doch ich habe einen Weg gesehen, dem ich folgen muss. Ich spüre, das es das Richtige ist.“
Kabana nickte. „Wen die Geister rufen, der muss gehorchen. Das verstehe ich vielleicht besser als alle anderen.“ meinte sie und blickte sich um.
„Krieger…Jäger…sie verstehen lange nicht alles. Braunpelz, ich wünsche dir alles Gute. Mögen die Geister dir gewogen sein und dich auf deinem Weg, wo auch immer er hinführen mag, beschützen.“
Braunpelz dankte anerkennend und strich mit einer Hand über den Kopf ihrer Halbschwester. „Wir werden uns wiedersehen. Das spüre ich ganz deutlich. Es wird einige Zeit dauern, doch wir werden einander wiedersehen.“
Mit diesen und keinen weiteren Worten verließ Braunpelz schließlich die Hütte, nahm sich von dem frisch gebackenen Brot und den Beerensäften der Händler, zahlte mit ihren letzten Groschen und ging dann auf die ehrfurchtgebietenden Aufzüge, die zu den höchsten Ebenen führten, zu.
Ihr Weg würde ins Brachland führen. Weshalb, das wusste sie jetzt nicht. Doch nahm sie dabei gern jeden Botengang auf sich, um ihre spärlichen Finanzen etwas aufzustocken.
Ihr Schicksal lag vor ihr. Es zu ergründen…das war nun ihre Aufgabe. Eine Aufgabe, die sie zu erfüllen gedachte.
Wenn sie den Weg denn nur finden würde.
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