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Kategorie: Das Leben von Samira

Der Alltag als Humanoider ist alles andere als leicht. Nur etwa 10% haben überhaupt das Glück, sich so etwas wie Bürgerrechte zu erarbeiten. Sie gehört zwar zu jenen 10%, aber bei diesen auch nur zum absoluten Bodensatz – und damit so weit unten, dass man annehmen könnte, dass sie quasi keine Bürgerrechte besitzt. Und beschweren…tja, wenn das ginge und sie dazu die Möglichkeiten hätte….

XI. Einkleidung

„Ich dachte, Humanoide dürfen keinen Führerschein bekommen.“ sagt Samira mit sichtlicher Überraschung, als beide in eine weiße Limousine steigen, Yuki dabei auf den Fahrersitz, den Finger auf den Start-Knopf drückt und der Wagen nahezu geräuschlos losrollt.

„Hier in Deutschland nicht. Aber in Japan hat man ihn mir schon mit sechszehn gegeben. Ich sollte mit den Kindern auch aufs Land und zu den Tempeln fahren können. Und weil man keinen Fahrer gefunden hat, hat man mir Stunden gegeben.“

„Du…bist aus Japan?“

Yuki nickt. „Hai. Aber keine Sorge, ich spreche fließend Deutsch. Und Englisch. Und Russisch. Und Chinesisch, Spanisch, Französisch, Hindi, Malagassi, ein wenig Suaheli sowie noch über zwanzig weitere regionale Dialekte. Aber wir beide fangen erstmal nur mit Deutsch an, oder?“

„In…Ordnung…“ entgegnet Samira, sichtlich beeindruckt. „Wo fahren wir denn…hin?“

„Wie ich schon sagte: Zuerst einmal dir ein paar andere Klamotten besorgen. Etwas, das dir passt und nicht so nass ist. Und nun erzähl doch mal, warum du in so einem – bitte entschuldige, wenn ich es so nenne – Loch lebst, wo du doch schon seit Jahren arbeitest? Du kannst dir doch sicher etwas Besseres leisten als das.“

Samira schüttelt ihren Kopf. „Nein, leider nicht. Ich…ich habe nicht viel Geld..“

‚…dafür aber ziemlich große Schulden.‘ war, was Samira sagen wollte, dann aber nicht gesagt, sondern lediglich derart oberflächlich gedacht hat, dass Yuki es so deutlich hört, als wäre es ausgesprochen worden. Sie nickt nur langsam. „Verstehe. Nun, auch deswegen ist es wichtig, dass du in die Schule gehst und lernst. Nur so kannst du dich weiterentwickeln und einen besseren Job bekommen. Oder willst du ewig Spielball von diesen Machos bei dir in der Werkstatt bleiben?“

Die Reaktion von Samira ist so deutlich, dass es keiner Telepathie bedarf, um sie zu interpretieren. Ihre Gesichtszüge verzerren sich, sie legt ihre Arme um ihre Brust und schluckt trocken. Doch noch ehe sie gänzlich in die Schockstarre, in der sie überzugehen scheint, verfällt, dr� Leave a Comment

X. Unfreiwilliger Umzug

Freitag, kurz nach 9 Uhr. Es klopft draußen an der Tür zum Büro. Pietro ist rein zufällig denn absichtlich bereits da, wenn auch erst seit ein paar Minuten, blickt fragend zum Eingang. Die Kunden, die er gewohnt ist, stören sich nicht daran, anzuklopfen. Also reagiert er auch nicht.

Es dauert gut eine Minute, dann klopft es erneut. Diesmal blickt er verwundert zur Tür, schüttelt den Kopf und ruft ein „Ja?“ entgegen.

Die Tür schwingt langsam auf und eine Humanoide tritt herein, blickt ihn mit überschwänglich freundlichen Augen und einem breiten Lächeln an.

„Einen wundervollen guten Morgen. Ich habe doch die Ehre mit Herrn Santoro hoffe ich?“ hallt eine unglaublich freundliche, sanfte Stimme in genau der Lautstärke, die jemand mit einem Kater, der morgens noch keinen Kaffee hatte, angenehm empfinden würde.

Pietro mustert die Humanoide. Nicht sonderlich groß, ein silbernes, extrem langes Fell mit weißen Rändern und vielen, vielen schwarzen Tupfen, silbernem Haar, das kunstvoll zu einem Zopf geflochten ist, einer dunkellilanen Bluse, einer leicht helleren Jacke darüber, cremefarbener Rock, der bis zu ihren Knien reicht und sehr menschlich aussehende, silberne Absatzschuhe – mit der Ausnahme, dass die Absätze an diesen offensichtlich fehlen. Er braucht keine Sekunde um festzustellen: Wer auch immer diese Humanoide war, sie musste Geld haben. Und die Tatsache, dass er nirgends einen Code-Reifen erspähen konnte, verriet ihm, dass sie auch niemandem gehörte, es wirklich ihr EIGENES Geld sein musste, von dem sie sich dieses Outfit gekauft hatte.

„Ähm…ja. Was möchten sie? Wollen sie ihren Wagen…?“

Die Humanoide kichert leise und macht dabei einen kleinen Schritt in seine Richtung, ehe sie den Kopf senkt und eine Verneigung andeutet. „Yuki Takadanobaba, von der International School Germany, ich bin erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin gekommen, um meine Schülerin abzuholen. Sie ist bereits reisefertig nehme ich an?“

Schülerin? International School Germany? Die? Pietro starrt sie sichtlich baff und fragend an. Aber anstatt ihn auf diese Planlosigkeit anzusprechen oder ihn gar vorzuführen, blickt Yuki ihn noch immer freundlich lächelnd an und nickt.

„Darf ich fragen, wo sie sich derzeit befindet? Dann kläre ich alles Weitere direkt mit ihr und behellige sie nicht bei ihrer Arbeit.“

Pietro deutet, mehr automatisch, als wirklich bewusst, mit der linken Hand in Richtung Tür zur Werkstatthallte. „Hintere Bühne, glaube ich.“

Erneut deutet Yuki eine Verbeugung an. „Haben sie vielen herzlichen Dank, Santoro-Sama.“ Dann tritt sie zur angedeuteten Tür, schiebt diese auf und betritt die Werkstatt. Die Blicke der Gesellen ignoriert sie vollends, lenkt ihre Schritte stattdessen auf die Hebebühne am Ende der Werkstatt, die tatsächlich zur Hälfte hochgefahren ist, während eine Gestalt sich darunter gerade an der Unterseite des Fahrzeugs zu schaffen macht.

Yuki stellt sich direkt neben die Bühne, klopft dann einmal vorsichtig an das Metall und wartet auf die folgende Reaktion. Das diese so schlagartig und schreckhaft verlaufen würde, hat sie nicht vermutet, denn mit einem Mal huscht die Gestalt etliche Schritte von ihr weg, unter dem Fahrzeug hervor und taucht, nun in voller Größe, hinter dem Wagen stehend auf. Aber Yuki lächelt noch immer, blickt der Gestalt entgegen, die sie abschätzend anstarrt.

„Samira-san nehme ich an?“ sagt sie mit freundlicher, ruhiger Stimme. „Ich bin Yuki Takadanobaba. Stock-sensei schickt mich, damit wir beide gemeinsam zur Schule fahren. Ich nehme an du hast bereits gepackt?“

Samira starrt mit einer Mischung aus Horror und Überraschung auf die Humanoide vor sich. Als sie eben genau diesen Umstand bemerkt, dass es eben eine Humanoide und KEIN Mensch ist, beruhigt sich die Panik in ihrem Körper langsam wieder, tritt sie einige Schritte hinter dem Auto hervor, mustert Yuki nun mit ein wenig Neugier.

Sie braucht nur einen Blick, um festzustellen, dass an dieser Humanoiden genau gar nichts ist, wovor sie sich zu fürchten braucht. Die feine Kleidung verbirgt zwar ihren Körperbau, doch was man sieht, wirkt nicht, als wäre sie eine Kämpferin. Und sie ist einen guten, halben Meter kleiner als Samira, wirkt irgendwie…fluffig, weich, sanft, die Augen groß und freundlich strahlend.

„Schule? Was…ich verstehe nicht…wovon redest du?“

Yuki legt den Kopf schief. „Ah, verstehe. Dein Chef und die anderen wollten dich damit überraschen. Überhaupt kein Problem. Komm, ich helfe dir beim Packen. Wenn wir das zu zweit machen, sind wir ganz schnell fertig und machen uns schon auf den Weg.

„Aber…meine Arbeit? Ich muss doch…“ deutet Samira auf das hochgebockte Auto, doch Yuki greift bereits nach ihrer linken Hand, zieht Samira daran nach vorn.

„Ach, nicht so schlimm. Die Jungs da hinten sind groß und stark. Die machen das doch sicher gern für dich fertig. Hab ich recht, Jungs?!“ ruft Yuki, nun mit einer bewusst etwas lauteren Stimme weiter in die Halle hinein. Samira starrt erst auf Yuki, dann auf Dawid, dann auf noch zwei andere Gesellen, die bis zu diesem Augenblick ihrerseits in die Richtung der beiden gestarrt haben und, als sie angesprochen werden, ruckartig kehrt machen und sich ihrer eigenen Arbeit widmen.

„Siehst du. Die schaffen das schon. Dein Chef weiß Bescheid, also müssen wir nur eben schnell alles zusammenpacken und dann machen wir uns schon auf den Weg. Na komm, zeig mir, wo du deine Sachen hast.“

Samira blinzelt einige Male, aber wirklich wehren kann sie sich nicht. Also geht sie, nach einigen Metern des Ziehens, schließlich voran, führt Yuki aus der Halle heraus, zur Rückseite und der Treppe herab in den Keller, führt sie in ihre Behausung.

„Oje oje, sehr…rustikal…“ fasst Yuki zusammen, was Samira ihr vor ihren Augen präsentiert. „Ich hatte Sorge, dass du die Zimmer in der Schule als zu spartanisch empfinden könntest. Aber darüber muss ich mir wohl keine Sorgen mehr machen, was? Na komm, wo hast du denn deine Kleider? Schließlich kannst du doch nicht in deinen Arbeitssachen zur Schule.“

Samira deutet auf die kleine Holzkiste, deren Deckel gegen die Wand dahinter lehnt. Über den Deckel gehängt sieht sie eine Jeans, die von Flicken und Flecken übersät ist und sich leicht feucht anfasst. Daneben, ebenfalls noch recht klamm, hängt ein T-Shirt. In der Kiste selbst liegt, relativ gut zusammengelegt, noch eine weitere Hose – allerdings mit kurzen Beinen und einem Riss in einem der beiden Hosenbeine. Daneben noch zwei zusammengelegte T-Shirts, zwei Teile Unterwäsche und ganz am Rand eine rostige Dose ohne Deckel, in dem ein weißes Pulver relativ heftige Klumpen gebildet hat und das sich, nachdem Yuki einmal die Nase darüber gehalten hat, als Waschpulver herausstellt. Neben der Kiste stehen zwei rote Turnschuhe, im rechten davon steckt oben noch etwas Bläuliches, das wie eine Art Stützverband aussieht. Wie auch die Hose sind die Schuhe noch fühlbar klamm.

„Mehr hast du nicht?“ fragt Yuki, während sie die Hose und T-Shirts aus der Kiste hebt, die Unterwäsche zusammenlegt und auf den T-Shirts platziert. Die klamme Hose nebst noch feuchtem T-Shirt legt sie separat zusammen, blickt sich im Raum auf der Suche nach einem Stuhl um, ehe sie nach kurzer, vergeblicher Suche den Deckel der Kiste schließt und beides dann darauf platziert.

„Es ist genug…“ murmelt Samira, während sie sich ihre Arbeitskleidung abstreift, zusammenlegt und auf dem Bett neben sich platziert. Yuki betritt indes das „Bad“, wobei sie schnell feststellt, dass diese Toiletten-Dusch-Waschbecken-Kombination diesen Namen nicht einmal im Ansatz verdient. Sie selbst hat bereits sichtlich Probleme sich in dieser kleinen Nische richtig herum zu drehen. Wie Samira, die wesentlich größer und massiger ist, das schafft, will sie sich nicht vorstellen müssen.

Mit einem leisen, kaum zu hörenden Seufzen greift sie die Zahnbürste, die überraschenderweise in sehr gutem Zustand ist, Zahnpasta, die beiden Fläschchen roten Nagellack und das Handtuch, das fast vollkommen nass ist, ehe sie Letzteres wieder zurück aufs Waschbecken zum trocknen legt und sich so, mit allem, was die Tigerdame offenbar für ihre Morgentoilette nutzt, wieder zu ihr umzudrehen. Sie erschrickt geradezu, als sie sieht, wie Samira sich kurzerhand die nasse Hose nebst T-Shirt überzieht.

„Aber…das kannst du doch nicht anziehen. Du wirst dich draußen noch erkälten!“

Samira schüttelt den Kopf. „Wird schon gehen.“ sagt sie, greift nach ihren Schuhen, zieht den blauen Stützstrumpf aus dem Schuh heraus und über ihren rechten Fuß, ehe sie in die Schuhe steigt.

„Und du bist auch noch verletzt. Ist es schlimm?“

Sie schüttelt den Kopf. „Ist alt. Nicht schlimm.“

Diesmal legt Yuki aber den Kopf schief, blickt Samira genau an, als diese sich die Schuhe fertig bindet und langsam aufsteht. Dann nickt sie langsam, aber nur für sich selbst, als sie feststellt, was jenen, die eben nicht mit so feinen Sinnen gesegnet worden sind, wie sie sie hat, entgangen wäre: Samira hat gerade ziemlich klar gelogen. Zwar nicht gänzlich, aber zumindest deutlich genug, damit es spürbar ist.

Yuki blickt sich indes um, sucht nach einer Tasche, einem Koffer oder etwas Ähnlichem, als Samira bereits hinter die Eingangstür greift, ihre Jacke, einen Schal und eine Plastiktüte zum Vorschein bringt, ihre verbleibende, kurze Hose, die T-Shirts, Unterwäsche, ihre Zahnbürste und ihren Nagellack gemeinsam darin verstaut. Schließlich greift sie noch nach ihrem Handy und ihren Kopfhörern, stopft sich beides in die Hosentasche, zieht das Ladegerät aus der einzigen, echten Steckdose hier unten und verstaut auch dieses in der Tüte.

„Gehen wir…“ sagt Samira noch, auf die Tür deutend. Yuki nickt, blickt sie für einen ganz kurzen Augenblick mitleidig an, tritt dann durch die Tür nach draußen und geht in Richtung Ausgang und zu den Treppen. Draußen angekommen wartet sie schließlich darauf, dass Samira ihr folgt und die Treppe hinaufsteigt. Diesmal konzentriert sie sich ein wenig deutlicher auf die Tigerdame, die mit einer Hand ihre Tüte, in der anderen Hand den Handlauf haltend, die Treppe empor steigt. Und dann, als Samira fast auf einer Höhe mit ihr ist, sieht sie die Bestätigung für die Lüge von eben: Für einen ganz kurzen Augenblick sieht sie einen Schmerzensblitz durch Samiras rechtes Bein schießen und wie die Tigerdame innerlich die Zähne zusammenbeißt. Äußerlich sieht man ihr davon nichts an, verbirgt sie das sehr gut.

Yuki reicht Samira eine Hand, die diese auch ohne Furcht ergreift. „Komm, der Wagen steht vorn. Aber bevor wir zur Schule fahren, suchen wir dir erstmal ein paar frische Sachen. Meine neue Schülerin soll sich schließlich nicht den Tod holen.“

„Deine…wie bitte?“

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IX. Verdeckte Pläne

Drei Stunden lang bleibt Samira für die anderen verschwunden. Dann taucht sie schließlich, durch eines der Tore kommend, mit einem Paket in Händen wieder auf, den Wärmetauscher für den Buick in Händen haltend. Wie immer, wenn sie hier in der Werkstatt arbeitet, lässt sie sich nichts anmerken, wendet den anderen ihre Seite oder ihren Rücken zu und versucht, sich auf ihre eigene Station zu konzentrieren, doch in den wenigen Momenten, die man ihr Gesicht erkennen kann, sieht man die feinen Streifen unter ihren Augen und entlang ihrer Nase, die wie feuchtes Fell aussehen.

Mit einem beachtlichen Tempo und sehr lautstark hebt sie die einzelnen Teile im Motorraum des alten Wagens an die richtigen Stellen, schließt alle Leitungen wieder an, hievt die Front ohne Zuhilfenahme von Hebehilfen wieder an die ursprüngliche Stelle, ehe sie das Kühlsystem wieder befüllt und anschließend den Motor startet, ihn einige Minuten laufen lässt. Noch während das gesamte Fahrzeug warmläuft, verschwindet sie schnellen Schrittes im Lager, kehrt kurz darauf mit einer neuen Windschutzscheibe zurück. Ein großer Sticker auf der Front, der vor dem hohen Gewicht warnt und eindringlich „2 Personen erforderlich“ mahnt, ignoriert sie, trägt die Scheibe zwar vorsichtig, aber sichtlich flott durch die Halle. Ebenso schnell hat sie die alte, geborstene Scheibe aus ihrer Halterung geschnitten, zur Seite geworfen und platziert sie schließlich die neue Windschutzscheibe in ihrem neuen Rahmen.

Ein kurzer Blick – ja, das Kühlsystem arbeitet, der Motor bleibt trotz zwei Minuten dauerhaft hoher Drehzahl im grünen Bereich, die Lüfter laufen und unter dem Wagen bilden sich keine Pfützen. Das Kühlsystem ist also wieder dicht und funktioniert – und Samira verschwindet wieder schnellen Schrittes im Lager, kehrt nur eine Minute später mit einer Tube Silikon zurück, verklebt damit die Windschutzscheibe. Keine fünf Minuten später ist auch das getan, löst sie die metallenen Haltearme ihrer Hebebühne vom Unterboden des Wagens und schiebt ihn aus der Halle heraus. Dann blickt sie hinüber zum Büro ihres Chefs.

Ihre Hände zittern leicht, ehe sie mit der linken Hand eine Faust ballt und schluckt. Dann geht sie, diesmal mit ungewöhnlich langsamen Schritt, in Richtung Büro, drückt die Türklinke herunter und schiebt die Tür langsam auf, ein weiteres Donnerwetter erwartend.

Pietro sitzt an seinem Schreibtisch über einigen Rechnungen, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet sind. Offenbar nimmt er sie gar nicht wahr – und wenn doch, lässt er es sich nicht anmerken.

„Der…Buick ist fertig.“ sagt Samira mit leiser, zögerlicher Stimme. „Ich….ich habe ihn nochmal überprüft…er ist im Hof.“ fügt sie hinzu, als auch nach einigen Momenten, in denen sie sich eigentlich sicher ist, dass er sie gehört hat, keine Reaktion erfolgt.

„Gut gemacht.“ sagt ihr Chef schließlich, ohne dabei von seinen Unterlagen aufzusehen. „Nimm dir für den Rest des Tages frei.“

Samira starrt ihn fragend an. „Ich…verstehe nicht? Soll ich…?“

Pietro verdreht die Augen. „Rede ich so undeutlich. Ich hab gesagt du sollst Feierabend machen und dir den Rest des Tages frei nehmen. Und jetzt verschwinde.“

Deutlich spürt sie, wie es in ihm brodelt. Und so unsicher sie ob dieser seltsamen Formulierung, die er ihr gegenüber zum ersten Mal überhaupt benutzt hat, auch ist – ihr Instinkt brüllt ihr geradezu in den Kopf, jetzt schleunigst das Weite zu suchen, ehe er ihr zum zweiten Mal innerhalb eines Tages mitten ins Gesicht brüllt.

Sie nickt langsam, geht rückwärts durch die nur halb geöffnete Tür nach draußen und schließt diese wieder ebenso langsam, wie sie sie geöffnet hatte. Dann tut sie, wie ihr aufgetragen: Sie tritt durch eines der Tore, geht zur Rückseite der Halle, die Treppen nach unten, in den Keller und dort dann in ihre kleine, bescheidene Behausung, wo sie auf ihr Bett sinkt, sich die Handschuhe abstreift, diese gegen die Wand gegenüber wirft und sich mit den Händen übers Gesicht fährt. Erst jetzt merkt sie, dass ihre Hände zittern. Nein – ihr ganzer Körper zittert. Und dann, ohne dass sie es erklären kann, kommen ihr erneut die Tränen.

„…und als ich gehört habe, dass sie in über drei Jahren nicht einmal Lesen und Schreiben gelernt hat, geschweige denn sonst irgendwas anderes als in der Werkstatt zu arbeiten, habe ich direkt an dich gedacht.“ schloss Olivier seine lange Erklärung, in der er am Telefon nun über eine halbe Stunde erklärt hatte, warum er die Hilfe eines alten Freundes braucht.

„Das ist ja alles schön und gut. Aber ich fürchte so, wie du es beschreibst, wird es nicht leicht werden, sie das alles nachholen zu lassen. Schon gar nicht in einer Klasse mit anderen. Dafür ist sie noch viel zu weit vom nötigen Niveau entfernt.“ gibt die Stimme im Telefon zu bedenken. „Es käme also lediglich Einzelunterricht infrage. Aber der wird deutlich teurer.“

„Lass mal das Geld nicht deine Sorge sein. Pietro übernimmt den Großteil der Kosten. Und was auch immer es mehr kostet, bekommen wir schon geregelt.“

„Pietro? Machst du immer noch Geschäfte mit diesem Betrüger? Ich habe dir doch schon vor Jahren gesagt, dass der Kerl nicht ganz sauber ist.“

„Ja, Till, das hast du schon mehrmals gesagt. Aber ohne ihn hätte ich die Kleine nicht so schnell in Lohn und Brot bekommen.“

Durch das Telefon dröhnt ein Seufzen. „Ich verstehe immer noch nicht, warum dir so viel an ihrer Art liegt. Sicher, viele sind nützlich. Aber manchmal glaube ich, dass du übertreibst.“

„Ich erzähle es dir mal bei einem Bier wenn du willst. Aber bis dahin – hast du nun eine Lösung oder nicht?“

Für einen Augenblick ist Stille im Telefon. Dann unterbricht Till die Stille mit einem Murmeln.

„Hrm…ich habe noch genau eine Lehrerin frei, die dir vielleicht helfen könnte. Aber sie ist auch eine Humanoide – und sie hat bisher immer nur Kinder unterrichtet. Außerdem ist sie ziemlich jung.“

„Eine Humanoide, die als Lehrerin für Kinder arbeitet? Wer macht hier denn sowas?“ fragt Olivier erstaunt.

„Niemand. Aber in Japan haben sie es an einer Sprachschule einmal ausprobiert. Die Kinder waren scheinbar so glücklich mit ihrer kuscheligen Lehrerin, dass sie deutlich schneller Fortschritte gemacht haben. Wenn ich das richtig gehört habe, hat die Schule noch fünf weitere von ihrer Art bestellt. Die sind da drüben diesbezüglich deutlich offener als hier.“

„Kann ich verstehen…“ murmelt Olivier, im Hinterkopf die zahllosen Mangas, die seit Jahren immer mehr Einzug in die deutsche Popkultur feiern, durchgehend. Selbst das Kino und die Streamingdienste sind voll mit Tierwesen, die neben Menschen gleichberechtigt agieren.

„Hat sie zufälligerweise einen Führerschein?“

„Wieso? Und ähh…ich müsste fragen. Kann sein. Aber, warum denn?“

„Erklär ich ihr dann am Besten selbst. Wenn sie Zeit hat wäre sie wahrscheinlich die ideale Lehrerin für mein Sorgenkind. Kannst du mir ihre Nummer geben? Dann würde ich alles weitere direkt mit ihr besprechen.“

„Natürlich. Ich schick dir gleich ihre Kontaktdaten.“

Zwei Stunden und einen kleinen Nervenzusammenbruch später hat Samira sich umgezogen, ihre Kopfhörer tief in ihre Ohren gesteckt und sich auf den Weg in Richtung Wald gemacht. Der Wind pustet zwar schon recht heftig, die Wolken am Himmel verheißen baldigen Regen, aber sie will die Zeit nutzen, in der Abgeschiedenheit der Natur etwas auf andere Gedanken zu kommen. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass es wie aus Kübeln zu schütten beginnt, als die den ersten Schritt in den Wald setzt und der Regen nicht mehr zu versiegen scheint. Sie aber ignoriert den Regen so lange, wie Strom in ihrem Handy ist und die Musik auf ihren Ohren sie vom Trommeln der Regentropfen auf ihrem Kopf ablenkt.

Als sie dann am Abend nach Hause kommt, ist sie nass bis auf die Knochen, ihre Kleidung durchweicht, reibt sie sich lediglich mit ihrem letzten, sauberen Handtuch trocken und zieht sich dann direkt in ihr Bett zurück, um darin Wärme zu finden. Die Tatsache, dass es durch das kaputte Kellerfenster leicht in ihre Wohnung reinregnet und ob des aufgefrischten Windes unangenehm zieht, verdrängt sie indes mit aller Kraft.

Mittwoch und Donnerstag kommen und gehen, ohne dass ihr Chef sie direkt anspricht. Auch die anderen in der Werkstatt halten aus Gründen, die sie nicht versteht, aber dennoch freudig begrüßt, Abstand zu ihr. So arbeitet sie lediglich an ihrer Bühne, tauscht hier Bremsen aus, sucht dort einen Fehler in der Elektrik, kämpft mit einer festgebackenen Kupplung, wechselt das Getriebe bei einem alten VW-Bus, räumt und putzt vor und nach ihrer eigentlichen Arbeit hinter den Gesellen her, während die Lehrlinge sich auf etwas namens „Ausflug“ für den Rest der Woche verabschieden. Zu ihrem Glück jedoch lassen die Gesellen sie ebenfalls in Ruhe – auch wenn sie zumindest von Dawid bewusst Abstand hält, ihn stets mit einem halben Auge beobachtet.

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VIII. Doppelter Anschiss

Nach einer ungewöhnlich guten und ruhigen Nacht steht Samira pünktlich um 7 in der Werkstatt, um alles für den Tag vorzubereiten. Zu ihrer Überraschung trifft ihr Chef heute aber nicht, wie sonst üblich, erst kurz vor 9, sondern schon viertel vor 8 ein. Es dauert keine zwei Minuten, da sieht er den noch halb zerlegten Buick auf ihrer Hebenbühne und baut sich kurzerhand direkt neben ihr auf.

„ICH HABE DIR DOCH GESAGT DER WAGEN SOLLTE GESTERN FERTIG WERDEN! WAS MACHT DER HIER NOCH KOMPLETT IN EINZELTEILEN?!“ brüllt er los, donnert sein Organ derart laut durch die Werkstatt, dass die Tore zu beben beginnen.

Samira zuckt sichtlich zusammen, drückt sich rückwärts gegen den auf der Bühne stehenden Wagen.

„Ich…der…der…Wärme…tauscher…“ stottert sie auf den Mann, der gerade mal halb so groß wie sie ist, herabblickend. Trotzdem fühlt sie, wie die Angst ihr Herz zu zerquetschen beginnt, es im Gegenzug in ihrer Brust hämmert, ihr Puls in ihren Ohren rauscht. Ihre Angst lähmt ihren Kiefer, jeden Muskel in ihrem Leib.

„WARUM HAST DU DEN NICHT GETAUSCHT?!? DER WAGEN WIRD GLEICH ABGEHOLT VERDAMMT! DAS ZIEH ICH DIR VON DEINEM GEHALT AB. ACH, WAS RED ICH, SO VIEL BEKOMMST DU GAR NICHT, WIE MICH DAS KOSTET. DU DÄMLICHES, FETTES, FAULES FELLVIEH!“

Mit diesen Worten voller Hass und Abscheu greift er nach einem Schraubenschlüssel und pfeffert ihn in ihre Richtung, verfehlt Samira aber knapp, trifft dafür die Windschutzscheibe des Buick, die unter geräuschvollem Krachen einen langen, von einer Seite zur anderen gehenden Riss bildet und schließlich, ebenfalls geräuschvoll, reißt.

Er stampft schnaubend auf, deutet auf sie. „DIE TAUSCHST DU JETZT SOFORT. UND WENN DER WAGEN NICHT IN ZWEI STUNDEN FERTIG IST, MACH ICH DICH FERTIG, VERSTANDEN?!“ Mit den Worten und ohne auf eine Reaktion von Samira zu warten, dreht er sich um, stapft zur Kaffeemaschine, nimmt sich einen Becher und verschwindet damit in seinem Büro. Zurück bleibt Samira, die sich noch immer an den Buick drückt, nun aber langsam, an den Wagen gepresst, zu Boden sinkt. Ihr Körper zittert unkontrolliert, Tränen schießen in ihre Augen. Sie will weinen. Ihr Körper will weinen. Aber sie kann nicht – die Angst lässt sie nicht. Noch mit Tränen in den Augen rafft sie sich wieder auf die Beine, macht sich ran, die geborstene Windschutzscheibe zu tauschen.

Um Punkt 9 Uhr steht niemand geringeres als Olivier mit einem Mal in der Werkstatt, sieht sich suchend nach Samira um, kann sie aber nirgends erspähen. Auch die Hebebühne, auf der jener alte Buick, von den Pietro gestern noch lamentiert hat, steht mit fehlender Windschutzscheibe und halb zerlegtem Motorblock auf der Bühne, aber von der Humanoiden fehlt jede Spur.

„Hey, hast du eine Ahnung, wo deine Kollegin hin ist?“ fragt er den Gesellen, der gerade eine der Radkappen bemüht langweilig mit einem ölig aussehenden Lappen poliert. Selbst Olivier als Nicht-Mechaniker sieht, dass diese dadurch trotz bester Bemühungen eher dreckiger als sauberer wird.

„Was weiß ich. Vielleicht hat es sich irgendwo in eine Ecke verzogen und flennt. Mir doch egal.“ schnaubt Dawid mit heftigem, russischen Akzent.

„Wieso? Was ist passiert?“

„Der Chef hat sie heute früh ziemlich zusammengebrüllt, weil sie den Wärmetauscher gestern nicht mehr ausgewechselt hat.“ mischt sich einer der Lehrlinge ein. „Ich hab nachgesehen – konnte sie konnte ihn nicht tauschen, weil wir keinen passenden haben. Aber das hat den Chef nicht interess..“

„Hab ich dir nicht gesagt du sollst die Klappe halten und dich um deinen Kram kümmern?!“ schnauzt Dawid den Lehrling an.

„Aber wenn er doch fragt?“

„Halt die Schauze Jonas und mach weiter. Oder willst du fliegen?“

Olivier hebt die Hände, um den Streit zu schlichten. „Danke. Euch beiden. Ich denke ich habe genug gehört.“

Mit diesen Worten dreht er sich auf dem Absatz rum, marschiert schnurstracks auf das Büro zu, drückt die Tür, ohne anzuklopfen, auf und tritt in einer einzigen, fließenden Bewegung ein.

Gerade will Pietro zu einem weiteren Anschiss ausholen, als er Olivier noch im letzten Augenblick erkennt. Seine Mimik lockert sich, ein breites Lächeln erscheint auf seinen Lippen. „Oli, zweimal in einer Woche zu Besuch. Und dann noch so früh. Was verschafft mir die Ehre?“

Olivier schließt die Tür hinter sich, hält seinen „Freund“ dabei die ganze Zeit mit seinem eigenen Blick fixiert. Dann tritt er langsam in Richtung Schreibtisch vor.

„Es geht um Samira.“ sagt er, langsam und ruhig, ohne zu zeigen, wie sehr es gerade in ihm selbst brodelt.

Pietro verdreht die Augen. „Was hat das dämliche Fellbündel jetzt schon wieder angerichtet? Die hat mich heute schon genug Geld und Nerven geko…“

„Sie ist bei dir in der Lehre, ja?“ unterbricht Olivier ihn mitten im Satz.

„Ja, seit..ähm…19 glaube ich…“

„Drei Jahre. Und in diesen drei Jahren war sie wie oft auf der Berufsschule?“

Pietro legt den Kopf schief. „Woher soll ich wissen, wo sie ihre…“

„Und in den drei Jahren ist dir nicht aufgefallen, dass sie nicht lesen kann?“

Ein einzelner, trockener Lacher entflieht seiner Kehle. „Klar. Aber wozu…“

„Keine Schule, keine Lehre, kein Urlaub und fast 70 Wochenstunden, die sie für dich hier in der Werkstatt steht. Seit drei Jahren. Als Lehrling. Ohne, dass sie wirklich ausgebildet wird. Pietro…“

Olivier donnert seine rechte Faust auf den Schreibtisch. Die dünne Tischplatte federt derart heftig nach, dass der halbvolle Becher kalten Kaffees ein Stück in die Luft fliegt und sich bei der Landung über einigen auf dem Tisch ausgebreiteten Papieren ergießt. Ein „Menschpassdochaufverdammtnochmal“ entfleucht Pietro, der schnell nach einer Papierserviette greift, um den auslaufenden Kaffee von den Unterlagen runterzutupfen.

„….WILLST DU MICH VERARSCHEN ODER WAS?!“ brüllt nun Olivier mit einer Lautstärke, die dem Italiener in nichts nachsteht. Im Gegenteil – der Schrei dröhnt durch die geschlossene Bürotür hindurch nach draußen und hallt durch die gesamte Werkstatt, nur um etwa eine halbe Sekunde später als Echo ein zweites Mal in das kleine Büro zu dringen.

„Das hier ist meine Werkstatt! Und die führe ich, wie ICH es für richtig halte, Olivier!“

„DEINE Werkstatt, aber MEIN Geld. Vergiss das nicht, mein Freund. Ich habe dir ein großzügiges Darlehen gewährt, weil du mich um Hilfe gebeten hast. Und ich habe über die Rückstände bei den Raten hinweg gesehen, weil du ihr eine Chance geben wolltest. Und jetzt höre ich, dass du sie wie eine Sklavin ackern lässt und zusammenfaltest – für Fehler, für die sie NICHTS KANN?!“

Olivier wendet sich von Pietro ab, geht einige Schritte weg vom Schreibtisch und hin zur Tür, die auf den Hof nach draußen führt. Vor der Tür stehend schließt er seine Augen, atmet tief durch, ehe er sich wieder seinem italienischen Freund zuwendet.

„Ich habe gestern Abend mit einem Freund gesprochen, der eine Privatschule in der Nähe von Düsseldorf hat. Er meint, dass sie das nötige Wissen, das sie in der Schule verpasst hat, nachholen kann. Aber in Vollzeitunterricht. Ein Jahr lang.“

Jetzt tritt Olivier wieder an den Schreibtisch heran. „Sie wird dieses Jahr auf die Schule gehen. Und DU wirst ihr Lehrlingsgehalt weiterbezahlen, bis sie aufgeholt hat, was sie die drei Jahre hier bei dir hätte lernen sollen – inklusive Lesen und Schreiben. Und du wirst ihr Lehrlingsgehalt entsprechend auf das Niveau anheben, das jemand, der im dritten Lehrjahr ist, haben sollte. Und du wirst…“

Mit einem Griff zieht Olivier den von ihm wieder glattgestrichenen, ehemals zerknüllten Zettel vom Vortag aus seinem Sakko und knallt ihn mit gleicher Heftigkeit wie noch gerade eben seine Faust auf den Tisch.

„…diese gottverdammte Brille bezahlen. Wenn nicht über deine Versicherung, dann aus deiner eigenen Tasche.“

Pietro schnaubt. „Die Schule…bittesehr. Aber warum sollte ich dieses dämliche…“

„WEIL DU EIN ARSCHLOCH BIST UND SIE EBEN SO ZUR SAU GEMACHT HAST. DAS IST DAS MINDESTE. UND KEINE DISKUSSION! NOCH EIN WIDERWORT UND DU KANNST DICH WIEDER NACH SIZILIEN VERPISSEN, FREUND.“

Erneut schließt Olivier die Augen, atmet deutlich hörbar tief ein und wieder aus, öffnet sie wieder und blickt dann Pietro, dessen Gesicht eine Mischung aus Wut und Angst spiegelt, mit kalten, bohrenden Augen an.

Der Italiener hält dem Blick einige Augenblicke stand, ehe er auf den Tisch und den dort von Olivier platzierten Zettel starrt.

„Entschuldige meine Wut, aber ich habe das Gefühl, dass ich mich in dir getäuscht habe. Beweis mir, dass ich mich irre und mach das Richtige.“

Mit diesen Worten reicht Olivier seine rechte Hand über den Tisch zum Handschlag. Pietro zögert einen Augenblick, dann ergreift er die Hand und schüttelt sie, leise vor sich hin murrend.

„Schön, dass der Pietro, den ich gekannt habe, da doch noch irgendwo drin ist.“

Mit nun sichtlich besserer Laune, wendet sich Olivier wieder in Richtung Werkstatt, öffnet die Tür und sieht, wie die Gesellen verdächtig nahe an der Bürotür stehen, schlagartig Kehrt machen und überaus geschäftig tun.

„Da ihr eh alles mitgehört habt – wenn ihr sie seht, sagt ihr, dass sie packen soll. Freitag geht es für sie zur Schule.“

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VII. Unerwartete Wendungen

Die Suche nach dem Leck im undichten Buick zieht sich über Stunden hin. Nachdem Samira alle Dichtungen ausgewechselt, alle Schläuche überprüft, den Kühler und alle übrigen Behälter auf Leckagen gecheckt und schließlich sogar die Klimaanlage mit äußerster Vorsicht untersucht hat – einen Unfall wie vor zwei Jahren, der sie fast ihr Augenlicht gekostet hat, will sie nicht noch ein zweites Mal riskieren – steht sie nun, kurz nach 18 Uhr, vor einem halb zerlegten Motor, hält den gerissenen Wärmetauscher zwischen Öl und Wasser in Händen. Ein passendes Ersatzteil liegt für so eine Antiquität von einem Wagen natürlich nicht auf Lager, muss bestellt werden. Ihr Chef jedoch hat bereits vor einer Stunde Feierabend gemacht, die Bürotüren abgeschlossen und sie als letzte in der Werkstatt zurückgelassen. Genau so, wie sie es immer gewohnt ist eben.

Zu ihrer Überraschung hat Jonas heute Überstunden gemacht und die Zeit genutzt, in der Werkstatt Ordnung zu schaffen. Lediglich die Hebebühne und der Werkstattwagen von Samira selbst muss noch aufgeräumt werden, was sich aber erledigt, da der Buick heute doch nicht fertig wird, also halb zerlegt stehen bleibt, bis der Wärmetauscher sowie die übrigen Anbauteile, die auch neu müssen, bestellt werden können.

Es ist viertel nach, als sie die Werkstatt abschließt und die Stufen zu ihrer Behausung herabsteigt. Müdigkeit macht sich in ihren Knochen breit, aber immerhin sind die Kopfschmerzen, die sie am Morgen gequält haben, nicht mehr da. Für einen Augenblick überlegt, sie, ob sie sich lediglich etwas Wasser durchs Gesicht spülen und dann so, in ihrer Arbeitsklamotte zu der Einladung mit dem Besucher ihres Chefs gehen soll. Bei dem Gedanken an den Mann läuft ihr erneut ein leichter Schauer über den Rücken. Sie kann sich nicht erklären, warum er so beharrlich ist, sie unbedingt einladen und sich irgendwie revanchieren will. Gleichzeitig spürt sie aber auch ihren Magen knurren, blickt auf das fast leere Paket Brot und die letzten beiden Konserven in ihrem Vorrat.

Im nächsten Moment hat sie bereits ihren Overall abgestreift, die Arbeitsschuhe ausgezogen und auch die beiden T-Shirts, die mittlerweile nass vor Schweiß sind, von ihrem Oberkörper gepellt. Ihre Füße schmerzen von den viel zu engen Schuhen, ihr Rücken von der krummen Haltung über der Haube des Buick, ihre Augen brennen und ihr Magen knurrt. Gerade greift sie an die Orthese an ihrem rechten Fuß, zögert, diese abzustreifen. Stattdessen steht sie auf, greift nach ihrer Jeans und zieht diese über, streift ein halbwegs sauberes, schwarzes T-Shirt mit irgendeinem Firmennamen auf der Front über den Kopf und schlüpft in ihre Turnschuhe. Jetzt rächt sich, dass sie die Orthese nicht abgenommen hat – ihr rechter Schuh passt nicht richtig, dehnt sich zu den Seiten, die Schnürsenkel zu kurz.

Sie blickt auf die Uhr – nur noch fünf Minuten. Sie schüttelt den Kopf, stopft die Schnürsenkel links und rechts in den Schuh hinein, krempelt die zu langen Hosenbeine herunter. Die wiederum rutschen fast die halbe Länge ihrer Füße nach unten, verdecken gut die Hälfte ihrer Schuhe. Dann noch ein prüfender Blick in den Spiegel – ihre Haare sind noch mit zwei Knoten fest zusammengebunden und bilden einen strengen, kurz aussehenden Zopf an ihrem Hinterkopf. Gern will sie ihn lösen, aber dazu ist keine Zeit mehr. Wenn sie das macht, sehen ihre Haare kraus und hässlich aus. Also bleiben sie so.

Mit raschem Schritt verlässt sie ihre Behausung, steigt die Kellertreppe nach oben, umrundet die Werkstatt und steht nur zwei Minuten später an der Hauptstraße.

Die Straßenlaternen sind bereits angesprungen, es dämmert. Samira kneift die Augen zusammen, versucht das sich bildende Gemisch aus Grau und Schatten besser zu erkennen, überquert schließlich, als sie meint, kein Auto mehr zu hören, die Straße und marschiert auf eine Gestalt zu, die ihr zuwinkt.

Olivier streckt die Hand zum Gruß aus, nickt ihr freundlich zu, als sie näher kommt. Statt die Hand zu ergreifen, bleibt Samira gute zwei Meter vor ihm stehen, den rechten Arm hängen lassend, während sie sich mit der linken Hand über ihren rechten Oberarm streicht. Ihr ist gerade erst klar geworden, dass dieser Mann sie nun zum ersten Mal nicht in ihrer Arbeitskluft sieht, sie so nicht verbirgt, was sie Menschen gegenüber doch unbedingt verbergen will.

Er hält seine Hand noch einige Augenblicke zum Gruße hin, ehe er versteht, dass sie ihre Distanz schätzt. Dann wendet er sich stattdessen um, deutet mit der noch immer zum Handschlag erhobenen Hand auf die Tür des italienischen Restaurants hinter sich und dreht sich dabei ein wenig in Richtung Restaurant.

„Schön, dass du hier bist. Komm, ich habe einen Tisch reserviert.“